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Das Röntgenbild von Wien

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Das tägliche Leben in der Großstadt läßt zumeist nur wenig Zeit übrig, sich Gedanken über die Ursachen und Gesetzmäßigkeiten der urbanen Physiognomie zu machen. So sehr ist das gewohnte Bild der Heimatstadt vertraut, daß bei vielen Menschen die kritische Stellungnahme verlorengeht. Es mußte beispielsweise erst ein Fremder nach Wien kommen, um das funktioneile Gefüge der Stadt zu durchforschen. Der Holländer Simon Nieuwoll betrachtete unvoreingenommen das nur scheinbar regellose Gefüge Wiens und konnte in einer ausgezeichneten Analyse erstmalig die räumlichen Auswirkungen des Wirtschaftslebens erklären.

Jede Großstadt hat eine mehr oder minder ansehnliche zentrale Stellung, die selbst in die Einflußbereiche anderer Ballungen ausstrahlt. Wien genießt zum Beispiel den Ruf, auf kulturellem Gebiet eine Weltstadt zu sein. Das innerstädtische Funktionsgefüge wird jedoch in erster Linie von den wirtschaftlichen Verflechtungen bestimmt. So dient die Großstadt einmal als Wohnort für die Einwohner, dann als Arbeitsort für die Großstädter und die mit öffentlichen oder privaten Verkehrsmitteln aus dem Einzugsbereich herbeiströmenden Erwerbstätigen, aber auch als Ort für die Gestaltung der Freizeit und der Erholung.

Diese bedeutenden Funktionen äußern sich in einer räumlichen Gruppierung, in einer wirtschaftlichen und sozialen „Viertelbildung”. Die Standorte für die einzelnen Dienstleistungen werden aber nicht stets nach gleichen Gesichtspunkten gewählt. Deshalb bietet sich uns mitunter ein recht kunterbuntes Bild von scheinbar regellos nebeneinander aufgereihten Zweckbauten. Wir können jedoch aus den Untersuchungen des Sozialgeographen Nieuwolt erkennen, daß die Großstadt Wien ihre Physiognomie einer unbestreitbar spezifischen Funktionsgliederung zu verdanken hat.

Die Verteilung der Einzelhandelsgeschäfte und die Entstehung von ganzen Geschäftsstraßen sind überhaupt Hauptgeschäftsstraßen sich bilden. Innerhalb der Gürtellinie sind es die Radialstraßen, die der Intensität des Massenverkehrs entsprechend eine Konzentration der Handelsbetriebe für die periodische und spezialisierte Bedarfsdeckung aufweisen. In den letzten Jahren entwickelten sich auch die Hauptverkehrsstraßen in den äußeren Bezirken ihres Preisgefälles wegen zu Versorgungsbasen der periodischen Bedarfsdeckung. Ihr Einzugsbereich beschränkt sich gewiß nicht mehr allein auf das volkreiche Hinterland ihrer Bezirke. Es ist nun auch verständlich, daß sich die Geschäftsleute der Märzstraße heftig gegen eine Verlegung der Straßenbahnlinie in die Hüttel- dorfer Straße wehrten. Sicherlich wäre damit ein wesentlicher Funktionsverlust verbunden gewesen.

Außer den Radialstraßen sind es zentrale Verkehrsknoten oder Verkehrsengen, wie Bahnhöfe oder Brücken, die eine Agglomeration der Einzelhandelsgeschäfte hervorrufen: wir erwähnen den Südtiroler Platz und den Mexikoplatz bei der Reichsbrücke. Haltestellen lassen ebenso Ansatzpunkte einer wirtschaftlichen Konzentration erkennen.

Die Einzelhandelsbetriebe der täglichen Bedarfsdeckung passen sich in ihrer Verteilung der Wohnbevölkerung an. Je dichter die Menschen zusammenwohnen, desto zahlreicher sind die Lebensmittelgeschäfte anzutreffen. Nach der Kaufkraft der Kunden und damit nach deren sozialen Gliederung ist das Warenangebot und das Aussehen der Geschäfte orientiert. Eigenartigerweise gibt es im Cottageviertel des 18. und 19. Gemeindebezirkes fast keine Versorgungsbetriebe der unteren Kategorie.

Hat nun eine Radialstraße einmal wichtige Handelsfunktionen an sich gezogen, kann sich aus Rentabilitätsgründen kein anderes Geschäftszentrum mehr in der Nähe entwickeln, solange sich die Bevölkerung des Einzugsgebietes nicht gewaltig vermehrt. Beispiele .dafür find die Praterstraße und die Landstraßer Hauptstraße. Daneben ist das Aussehen der Straße selbst für die wirtschaftliche Bedeutung maßgebend: Kurven und starkes Gefälle sowie ungleiche Breiten schaden, wie man es bei üer Gumpendorfer Straße sieht, nur der Rangstufe des Ansehens.

Nach ganz anderen Prinzipien geht die räum liche Verteilung der Verwaltungs- und Bürogebäude vor sich. So eigenartig es klingt, aber die Einzelhandelsgeschäfte meiden die Nähe von Verwaltungsgebäuden. Es zeigen die Bürohäuser eine auffallende Agglomerationstendenz der gleichen Branche. Hierfür sind neben der Berücksichtigung der Tradition auch Prestige gründe maßgebend. Die Verwaltungsgebäude mit überregionaler Bedeutung befinden sich hauptsächlich in der Inneren Stadt, der „City”. Dabei sind sie peinlich bemüht, von den Hauptgeschäftsstraßen abzurücken. Wo sich aber ein Zusammenleben von Büros und Verwaltungsstellen mit Kleinhandelsgeschäften nicht umgehen läßt, ziehen sich die Büros in die Stockwerke oder Hinterhäuser zurück und überlassen die ebenerdige Vorderseite den Kleinhandelsbetrieben. Die Mariahilfer Straße zählt zu dieser Art von Straßen.

Die Kinos passen sich in den Außenbezirken der Dichte der Wohnbevölkerung an, in den Innenbezirken ist die günstige Verkehrslage der ausschlaggebende Faktor, wobei gerne die Haupt- und Nebengeschäftsstraßen bevorzugt werden. Konform mit ihrer Lage zum Stadtzentrum ändert sich die Größe ihres Einzugsbereiches. Die Kinos in den inneren Bezirken spielen für Kunden aus der gesamten Stadt, die Vorstadtkinos müssen sich hingegen mit der näheren Umgebung begnügen. Die Grenze ihres Einzugsbereiches wird kaum eine halbe Gehstunde überschreiten.

Bedauerlicherweise besteht in Wien eine enge Verzahnung von Industrie- und Wohnvierteln. Eine Entflechtung sollte eine Hauptaufgabe der künftigen planmäßigen Stadtentwicklung sein. Bei der Industrie nimmt die durchschnittliche Betriebsgröße gegen den Stadtrand hin zu. Mit Ausnahme von Kleinbetrieben, die wenig Raum- ansprüche stellen — wir denken an feinmechanische Werkstätten und optische Fabriken —, gesellen sich die Industriestandorte nicht gerne zu solchen der zefttralen Stellen. Die gegen die Peripherie hin wachsende Ballungstendenz dokumentiert sich in einer größeren Abhängigkeit von Verkehrslinien, von der Bahn oder der Donau, die beide Träger des Massengüterverkehrs sind. Sicherlich ist für die bevorzugte Randlage der Industrie neben Platzansprüchen auch die genügende Versorgung mit Nutzwasser sowie das Vorhandensein eines günstigen Vorfluters für die Abwässer ausschlaggebend. Selbstverständlich erweisen sich die Gebiete mit geringer Oberflächengestaltung im Süden, Osten und Norden Wiens für industrielle Standorte vorteilhafter als die Ausläufer des Wienerwaldes. Die kleineren Betriebe suchen gerne die Arbeiterwohnviertel auf: Wir beobachten dies in Favoriten, in Meidling und in der Brigittenau. Die Bezirke mit großen Industrieballungen besitzen auch ein zahlenmäßig hinreichendes Arbeiterreservoir, so in Floridsdorf und in Liesing.

Die Untersuchung von Simon Nieuwolt begnügt sich nicht damit, das derzeitige Funktionsgefüge zu beschreiben und zu erklären, es wird auch versucht, die absehbare Entwicklung der einzelnen Funktionsgebiete aufzuzeigen. Das Kennzeichen des Stadtkerns, der „City”, ist heute die übermäßige Konzentration des Verwaltungs- und Wirtschaftslebens, die ihren äußeren Ausdruck in der besonderen Verkehrsdichte findet. Bereits heute sind die Behörden mit zentralen Funktionen dabei, die Ringstraße zu überspringen und sich in den Wohnvierteln der inneren Bezirke einzunisten. Zungenförmig stoßen sie entlang der wichtigsten Radialstraßen in Richtung zum Gürtel vor. Die Folge davon wird sein, daß die Wohnbevölkerung in diesen Vierteln an Zahl abnimmt und ein Abwandern nach dem Stadtrand stattfindet. Eine Verbesserung der derzeitigen Verkehrsverhältnisse vorausgesetzt, dürfte der1 südliche und nördliche Saum der Großstadt Wien mehr als bisher für Wohnzwecke dienen. Die extrem hohen Dichtewerte im 2., 15., 19. und 20. Wiener Gemeindebezirk sollten soweit als möglich herabgedrückt werden. Gleichfalls ist eine Entmischung der von Industriebetrieben durchsetzten Wohnviertel im 10. und 16. Bezirk höchst notwendig. Die schädliche Beeinflussung der Bewohner durch Lärm und Fabrikabgase muß beseitigt werden.

Die Lage der Großindustrien ist in Wien sehr günstig. Es bleibt in ihrer Umgebung genügend Raum für die Industriebetriebe, die aus den Wohnvierteln allmählich abgesiedelt werden müssen. Die Trennung von Arbeitsstätten und Wohnplätzen sollte jedoch nicht so weit gehen, daß die Favoritner nach Floridsdorf und die Hütteldorfer nach Simmering zur Arbeit fahren. Der Umfang des zu ausgeprägten Pendelverkehrs ist bereits derzeit viel zu groß und bedingt die außergewöhnliche Verkehrsintensität zu den Stoßzeiten.

Die städtischen Randzonen im Osten und Süden sind die künftigen Aufnahmegebiete der von der Zentrifugalbewegung erfaßten Wohnbevölkerung. Da die Dichte in diesen Grenzräumen weit geringer als im Stadtkern selbst sein sollte, werden die mit Wohnfunktionen versehenen Flächen ziemlich ansehnlich sein. Die Nähe von Industrieballungen macht diese Randzonen dann zu begehrten Wohnvierteln.

Nun ist das Zusammenspiel aller dieser Kräfte nicht auf beliebige Weise vor sich gegangen, sondern Werk des sozialen Raumes, also Ergebnis menschlicher Tätigkeit. Die Physiognomie der Großstadt leitet sich demnach direkt von der Arbeitsleistung der einzelnen Generationen ab. Hatten diese stets die Gesamtstadt und ihre Entwicklung vor Augen, so hat sich der Stadtkörper organisch entfaltet und wird dem Wertmaßstab der strengsten Kritiker standhalten können. Sind jedoch die Bewohner immer bestrebt gewesen, nur ihren persönlichen Vorteil zu sehen und haben sie die Stadt als sozialen Verband mißachtet, so spiegelt sich dies auch im Antlitz der Agglomeration wider. Wir ersehen daraus, wie wichtig heute die vorausschauende Stadtplanung für eine organische Entwicklung der Großstadt ist. Ihren Leitlinien sich unterzuordnen, wäre nicht nur ein Gebot der Stunde, sondern auch eine Verpflichtung gegenüber unseren Nachkommen.

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