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Der Dampfkessel Österreichs

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Dreihundert Meter über die Donaufläche empor hat uns die steilste zahnradlose Bahn der Welt mit ihren 106 Promille Steigung in neunzehn Minuten auf den Pöstlingberg getragen. Wenn es die Herbstsonne gut meint und die Donaunebel günstig gesinnt sind, glitzert am frühen Morgen ein gewaltiges Panorama auf, nvanzigtausend Quadratkilometer — ein Viertel Oesterreichs — umfassend; und mitteninne, von grauem, rotem und gelbem Rauch überfächert, liegt Linz. Das freie Auge müht sich vergebens, genau die Grenze zu ziehen zwischen der Stadt und dem Lande; ein schier regelloses Gewirr würfelt durcheinander, große Siedlungsgevierte breiten sich an allen Enden, und Einzelhäuser flattern wie aufgescheuchte weiße Schmetterlinge bis weit hinaus. Ein flirrender, von der Höhe aus wenig bewegt scheinender, tatsächlich aber ruheloser, dauernd sich verändernder Raum — der Dampfkessel Oesterreichs.

Das Raumproblem Linz besteht seit den Tagen, da sich der Uebergang vom Bauernlande Oberösterreich zur Industrielandschaft beschleunigte. Das war 193 8. Die Volks- und Berufszählung von 1934 hatte für das ganze Land 902.590 Einwohner (Landwirtschaft: 338.623; verarbeitende Industrie und Gewerbe: 261.154) verzeichnet. Die Volks“- und Berufszählung von 1951 weist dagegen aus: 1,108.720 Einwohner, darunter 286.100 in der Landwirtschaft und 409.159 in der Industrie Tätige. Die Stadt, verkehrsgeographisch begünstigt — Ost-West-Kreuz, Nord-Süd-Kreuz, Großschiffahrtsweg und Hafen, nur 15 5 Kilometer (über Selzthal) und 143 Kilometer (über St. Valentin-Klein-Reifling) von Eisenerz entfernt —, bot sich der Industrie lagemäßig an. Die Wohnbevölkerung stieg von 115.000 im Jahre 1938 auf 185.732 im Jahre 1954. Linz verzeichnet damit die größte relative Zunahme von allen österreichischen Städten, nämlich 60,44 Prozent. Verglichen mit Wien, müßte die Bundeshauptstadt heute mehr als 2,8 Millionen Einwohner zählen. Das Stadtgebiet maß vor 193 8 rund 57 Quadratkilometer, erfuhr im selben Jahre durch die Eingemeindungen von Ebelsberg im Südosten und St. Magdalena im Nordosten eine Erweiterung auf 96 Quadratkilometer, wird aber trotz dieser flächenmäßigen Ausweitung von anderen Städten — etwa Innsbruck — übertroffen und hat daher unter den autonomen Städten Oesterreichs die größte Bevölkerungsdichte (1922 Einwohner auf den Quadratkilometer: Wien: 1453).

Die Industrialisierung fand Linz unvorbereitet. Vor 1938 war das größte Unternehmen die Kleinmünchener Aktienspinnerei und mechanische Weberei mit 1100 Beschäftigten gewesen; die Vereinigten Oesterreichischen Eisen-und Stahlwerke, kurz VOeESt, auch Hütte Linz genannt, haben heute allein schon 13.000 Be schäftigte. Das Wichtigste — das Industriegelände — fehlte vor dem Kriege. Man zerbrach sich nicht den Kopf. Man improvisierte und überließ die endgültige Regelung der kniffligen Eigentumsfragen einer späteren Zeit. Diese, die Gegenwart, trägt nun eine große Hypothek. Jetzt erst versucht man — was damals versäumt wurde und an den Beginn der Entwicklungsstraße gehört hätte —, einen ordentlichen Bebauungplan aufzustellen. Seit 1945 machten sich überdies Einwirkungen geltend, auf die man vor dem Krieg nicht zu achten brauchte: Grundpreise, Bodengüte und Verkehrslage. Dazu kam die Trennung des Landes und der Stadt in zwei Besatzungszonen; ein Blick von den beiden Seiten der Donaubrücke zwischen Urfahr und Linz sagt genug. Schließlich sind als Kriegsfolge viele Flüchtlinge in die Stadt verschlagen worden; die Trennung der Zonen im Stadtgebiet bewirkte die Häufung der Volksdeutschen im Süden und Westen. Nach den letzten Ziffern beträgt der Anteil an eingebürgerten „Neuösterreichern“ elf Prozent der städtischen Bevölkerung.

Die Anhäufung der industriellen Anlagen im Linzer Raum schuf mehr Arbeitsplätze, als die eingesessene Bevölkerung einnehmen konnte. Die Berufszählung vor 1938 ergab 49.650 Erwerbstätige, die Zählung von 1951 dagegen 86.072. Da aber in den Linzer Betriebsstätten insgesamt 105.000 Beschäftigte gezählt wurden, müssen 20.000 von auswärts kommen. Das ist am Steuerausgleich der Lohnsummen abzulesen. Für jeden in Linz Tätigen, der in einem gewerbesteuerpflichtigen Betriebe arbeitet, muß die Stadt an den Wohnort des von auswärts Kommenden eine Ausgleichszahlung leisten, sofern wenigstens 15 Pendler aus dieser auswärtigen Gemeinde stammen. Anderseits kann die Stadt Linz für jeden Linzer, der auswärts arbeitet, von dort eine entsprechende Ausgleichszahlung beanspruchen. „Pendler“ — das ist eines der Raumprobleme. Man unterscheidet zwischen ZuPendlern (in Linz beschäftigt, auswärts wohnend) und Weg-Pendlern (in Linz wohnend, auswärts arbeitend). Es gibt 15.900 Zu-Pendler (davon 3980 Wochenpendler, die wegen des zu großen Weges nur am Wochenende heimfahren und in Linz eine Schlafstelle haben) und 1260 Weg-Pendler.

Für die starke Anziehungskraft des Linzer Raumes spricht es. wenn an der Pendelwanderung sämtliche Bezirke des Landes beteiligt erscheinen; sie reicht bis Ebensee im Südwesten (85 Kilometer entfernt, zwei Eisenbahnstunden), bis Klaus im Süden (59 Kilometer), bis Schärding im Westen (69 Kilometer), bis ins Mühlviertel im Norden, und im Osten greift die Pendelwanderung sogar auf niederösterreichische Gebiet über (St. Valentin, Haag, Am-stetten). Der Bezirk Linz-Land schickt 41,5 Prozent aller Pendler, 8235 Menschen wandern, radeln, fahren mit Autobus und Bahn von hier zur Arbeit; auf 1000 Einwohner des Bezirkes kommen über 124, welche an der täglichen Arbeitswanderung, einem Symbol unserer Zeit, teilhaben.

Aus der Pendelbewegung selbst (obschon diese nicht die ausschlaggebende Komponente ist) stellt sich das Problem des Linzer Raumes: die Bereitstellung von Wohnraum. Bekanntlich war 1938 für Linz eine Bevölkerungszahl von 300.000 vorgesehen; die Stadt sollte sich sowohl gegen Wels wie gegen Enns ausdehnen. Es erstanden die Siedlungen Neue Heimat, Kleinmünchen, Spallerhof, Hartmayer, Bindermichel (mit 6400 Bewohnern die größte Siedlung) und andere, insgesamt 16 mit über 40.000 Bewohnern. Nach dem Kriege wurde klar, daß auf längere Zeit hinaus nur mit einer Bevölkerungsziffer von etwa 200 000 zu rechnen ist. Die Stadt war außerhalb ihrer eigentlichen Grenzen gewachsen. Viele Menschen hatten in den umliegenden verstädterten Gemeinden Unterkunft gefunden, andere sich irgendwo, wie es eben der Grundpreis erlaubte, ein Siedlungshaus gebaut. Durch Bomben fielen in Linz dagegen über 600 Gebäud mit 8204 Wohnungen aus. Das verstärkte die Fächerbildung, die zentrifugalen Tendenzen. Die geplante Ziffer von 300.000 hatte — ohne daß man einen Generalbebauungsplan aufstellte — die Siedlungsblöcke weit hinausgeschoben. Da liegen sie nun wie Inseln im Meer, dazwischen die Verkehrsadern: lange, auf schwere Lasten berechnete, kostspielige Zufahrtsstraßen. Es ist daher nötig, d i e Baulücken langsam aufzufüllen. Man kann die Lage auf einer Fahrt nach Ebelsberg oder St. Martin (Traun) studieren, welche großen Kosten bei den langen Versorgungsleitungen für Strom, Gas, Wasser und Kanalisation erwachsen und welche Verkehrsprobleme bei dem starken allgemeinen und besonderen (Pendel-) Verkehr erstanden, Es wird weiter angezeigt sein, ein Landbeschaffungsgesetz zu beschließen. Auf dem 8. Oesterreichischen Städtetag 1951 ist das Verlangen nach einem Bundesgesetz zur Schaffung von Bauland gestellt worden. Man kann nicht einfach dort bauen, wo es eben der Industriebetrieb oder der Grundpreis oder gut rein persönliche Erwägungen heute noch tun. Die Forderungen der Städtebauwirtschaft und der harmonischen und gesundheitsdienlichen Abrundung der Stadt müssen sich begegnen. Die Wohnbautätigkeit in Linz sieht sich aber auch gezwungen, den Uebelstand der Baracken zu beseitigen, die einen Rest der Lager für ausländische Arbeiter darstellen, welche 1938 und darnach in 40 Distrikten untergebracht waren. Bei der Zählung am 1. Juni 1951 gab es 10.650 Gebäude mit 46.537 Normalwohnungen sowie 1166 Gebäude mit 8393 Behelfswohnungen. Die gewonnenen Verhältniszahlen — dort 1:4, hier aber 1:8 — erklären sich aus der Tatsache, daß die großen Baracken durch Einziehen von leichten Holzwänden in viele Einzelräume unterteilt wurden.

Die Wohnbauten in Linz besorgen — anders als in Wien — vorwiegend gemeinnützige Gesellschaften. Seit 1947 entstanden rund 10.000 Wohnungen. Im letzten Jahre (1954) waren die Beiträge der Neubauten: gemeinnützige Gesellschaften mit 795, private und Erwerbsgesellschaften mit 372, öffentliche Körperschaften mit 352 Wohnungen. Das Wohnungsamt verzeichnet nominell 11.000 Wohnungsuchende. Die wirkliche Zahl bezeichnen zuständige Stellen als wesentlich höher; man schätzt 18.000 bis 20.000. Als nächste größere Vorhaben gelten die Aufschließung des Industriegeländes und die Besiedlung am Tankhafen. Drei Jahresetappen —. die Kosten bestreitet die Gemeinde — sehen zunächst einen Aufwand von drei Millionen Schilling vor.

Wenn man Gelegenheit hat, mit dem Bürgermeister von Linz, Dr. K o r e f, zu sprechen, gerät das Gespräch über kurz oder lang auf das Raum- und Siedlungsproblem, auf Fragen des Wohnbaues, der Mietzinsgestaltung und die Aufwendungen für die seinerzeit verstreuten Siedlungsgebiete. Der Bürgermeister hat früher schon die verantwortlichen Wiener Stellen ersucht, militärische Anlagen nach Hörsching zu verlegen, das sich neun Straßenkilometer vom Linzer Hauptbahnhof entfernt an vorzüglichen Straßen befindet und zudem den Flugplatz besitzt. Es wird wirklich gelingen, die freibleibenden militärischen Bauten in Linz selbst zur Verbesserung der gespannten Wohnungsanlage heranzuziehen. Da die Stadt ohnehin in die Welser Heide hineinwächst und eine Minderung des Gewerbes in Linz wegen der großen Industrievorhaben nicht zu erwarten ist, wenn etliche tausend Mann abseits garnisonieren, ist die Entlastung der Landeshauptstadt auf diese Weise nur vernünftig. Der Appell an Wien ruft aber zugleich die klare Einsicht wach, daß ohne eine umfassende Bundeshilfe eine Regelung des Linzer Raumproblems immer Bruchstück bleiben muß. Der Dampfkessel Linz arbeitet nicht bloß für die Stadt und für Oberösterreich. Man darf seine Ventile nicht mehr belasten, um nicht die Gefahr einer sozialen, bevölkerungsmäßigen und kulturellen Explosion heraufzubeschwören, die ganz Oesterreich in Mitleidenschaft zöge.

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