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Der Spruch der Pythia

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Eine Reise auf nordspanischen Landstraßen brachte es mir kürzlich so recht deutlich zu Bewußtsein, wie gigantisch der Sprung ist, den dieses Land seit 1950 nach vorne getan hat.

Schon in den Jahren 1951 52 hatte der stark angewachsene Ausländer-Fremdenverkehr Leben auf die spanischen Landstraßen gebracht. Seit 1952 aber hat sich der Kraftwagenverkehr wohl verzehnfacht. Die spanische Autoindustrie, kaum begründet, begann auf Hochtouren zu laufen. Jede bessere Garage, jeder Lastautobesitzer, ganz zu schweigen von aus staubigen Kanzleien im Winkeladvokatenstil zu luxuriösen Betrieben emporgewachsenen Reisebüros, organisiert Gemeinschaftsfahrten. Der Zuspruch ist groß, immer noch fehlen Fahrzeuge.

Spuren des Bürgerkrieges entdeckt man nur noch ganz selten. Die „Direcciön General de Regiones Devastadas“ (Generaldirektion für Wiederaufbau der verwüsteten Gegenden) hat gute Arbeit geleistet. Gerade an den Stellen, wo der Krieg vor 15 Jahren ganze Ortsteile oder Dörfer niederwalzte und verbrannte, war sie bedacht, die schönsten städtischen und ländlichen Wohnbauten, modernste Fabrikanlagen, breite Straßen anlegen zu lassen, alles licht und luftig aufzulockern, nicht mehr die zwar „malerischen“, aber unhygienischen in- und übereinander verschachtelten Ortsteile mit engen Gassen wiedererstehen zu lassen. Staunend steht man an Stellen, die einst Stadtränder waren, Brachland, Ueber- gang zur Ackerflur: Da sind neue, riesige Wohnviertel entstanden, von einer Ausdehnung, die jene der Stadt von 1939 weit übertrifft. So in V i g o, wo es seit jeher schien, als ob der Burgberg, das „Castro“, die Stadt für immer zwischen sich und dem Hafen einklemmen würde. Sie zog sich in die Länge, unten an der „Ria“ entlang, aber dann entschlossen sich die Baumeister mit einem Male, weiter bergauf zu bauen, über die Ausläufer des „Castro“ hinweg, in das sich dahinter weit dehnende, verhältnismäßig ebene Gelände, und nuh liegt das „Castro“ mitten in der Stadt als „grüne Lunge“ mit schattigen Parkanlagen, aber die Fangarme der von breiten Grünanlagen wie von Lebensadern durchzogenen Neustadt greifen schon jenseits der Senke hinauf zu den Bergen, über die hinweg man zur portugiesischen Grenze kommt; schnelle Trolleybuslinien halten die Verbindung zum Stadt„zentrum“ aufrecht, das am Rande der Stadt liegt, am Hafen mit seinen Werften und Fabriken. Wo gab es vor sechs Jahren jedoch in einer spanischen Provinzstadt andere städtische Verkehrsmittel als gichtige Trambahnen?

Oder Bilbao: Jahrzehntelang wollte es sich nur widerstrebend vom „Bocho“ in der Schleife des schmutzigen Nervion-Kanals trennen, aber jetzt zerfließt es geradezu sternförmig in alle Richtungen, ungeachtet der Berge (der 1000 Meter hohe Ganekogorta schaut gleichsam von oben auf den zentralen „Elyptischen Platz“, die „Plaza de Moyüa“); es steigt über die niedrigeren Berge hinweg, bohrt sich — ein werdendes Genua — mit immer mehr Tunneln für Straßen und Eisenbahnen zu den vom Stadtzentrum durch Bergzüge getrennten neuen Stadtteilen.

Mit Absicht sprechen wir nicht von Madrid, das voll von Stahlgerüsten für Betonhochbauten steht, an denen im Akkord weit übertariflich bezahlte „gangs“ Tag und Nacht arbeiten. Man muß die Madrider Bauarbeitermannschaften mit einem amerikanischen Namen bezeichnen; sie arbeiten schnell und mit modernstem technischem Großgerät und leben auch schnell und haben etwas Sicheres, „Schlacksiges“, gar nicht Südländisches an sich, auch wenn sie „off duty“ sind.

Soll man davon sprechen, daß Spanien nunmehr das wohl dichteste zivile Luftfahrtnetz Westeuropas besitzt, mit Flughäfen bei jeder kleinen Provinzstadt? Oder soll man von dem 1949 repräsentabelsten spanischen Passagier- und Lastdampfer der Nordamerikalinie sprechen, dem „Marques de Comillas“, ein Modell aus der Zeit des ersten Weltkrieges, das nun schon seit einem Jahr nutzlos im Binnenhafen von Portugalete liegt, während doppelt und dreimal so große und schnelle Motorschiffe auf den Linien nach New York, Habana, Caracas, Rio und Buenos Aires verkehren? Die „Movimiento- en-los-Puertos“-Statistiken sprechen eine beredte Sprache, denn die spanischen Häfen —

während der Zeit des UN-Boykotts von europäischen und nordamerikanischen Schifffahrtslinien fast ganz gemieden — gehören längst wieder zu ihren regelmäßig berührten Etappen- und Zielhäfen.

Spanien ist aber heute auch die achtunggebietendste Militärmacht des europäischen Kontinents! Das amerikanische State Department und der Pentagon wissen jetzt sehr gut, wen sie bewaffnen, wessen Rüstung sie modernisieren. Sie sind dabei, ihre bisher beste militärische Kapitalsanlage vorzunehmen.

Konnte je ein Botschafter mit berechtigterem Stolz von seinem Posten abtreten als der nun aus Washington geschiedene spanische Don Jose Felix de Lequerica? 1948 trat er sein Amt in Washington an der Spitze der spanischen diplomatischen Vertretung an, die vereinsamt und isoliert dastand. Der Bann der Vereinten Nationen lag über Spanien, der Großteil der ausländischen diplomatischen Gebäude in Madrid stand leer. De Lequerica ging in Washington an die Arbeit, inmitten der kältesten Indifferenz der Mehrheit des Senats, des Repräsentantenhauses und wohl auch des State Departments. 1949 revidierten die UN ihre „Empfehlungen“ bezüglich der Behandlung Spaniens, 1950 konnte de Lequerica, nunmehr als offiziell .erwünschter Botschafter, seine Kredenzschreiben Präsident Truman überreichen. Es begann die „Aera des Guten Willens“ der USA zu Spanien. Kommissionen des Senats, des Repräsentantenhauses, der Marine, der Luftwaffe, des Heeres, Vertreter der Großindustrien liefen Madrid geradezu „platt“, wie eine holländische Zeitung damals humoristisch schrieb. Stanton Griffis als erster amerikanischer Botschafter in Madrid brachte schließlich das Werk des Amerikanisch-Spanischen Hilfs- und Beistandpaktes zum Reifen, auf das de Lequerica in Washington so unermüdlich hingearbeitet hatte.

De Lequerica, der ehemalige Außenminister und nun auch ehemalige Botschafter in Amerika, hat sich als fähigster Diplomat und Politiker der Franco-Regierung erwiesen, der unbeirrt in der Stille wirkte, während in Spanien, in der Oeffentlichkeit und selbst in Kreisen der Regierung in Madrid noch starke isolationistische Strömungen den Zielen entgegenwirkten, die der Botschafter wohl mehr als seine Herzensangelegenheit verfolgte denn als „raison d’Etat" oder „raison d’etre“ Francos und des spanischen Großkapitals. Vor einCm Jahre sah ich den Botschafter, als er einen Urlaub in seiner Heimatstadt Bilbao verbrachte: ein unscheinbarer Fußgänger im

Gewühl der Passanten der „Puente de la Victoria“; ein wenig gebückt, leicht auf den Stock gestützt, in einem etwas zerdrückten Anzug; ein gutmütig-spöttisches Gelehrtengesicht. Kein Mensch beachtete ihn. All die Leute, die ihren Ministern oder Parteichefs hysterisch zujubeln, wenn sie in glänzender Uniform, in blitzender, von motorisierter Polizei flankierter Limousine zu ihnen kommen, sie beachteten den unscheinbaren Zivilisten nicht, dem sie es verdanken, daß in ihren Häfen nie die Weizenschiffe fehlen, daß sie wieder, der eine mehr, der andere weniger, Geld haben, daß nicht wenige von ihnen — gerade in Bilbao —. auch kleine und mittlere Gewerbetreibende, Handwerker, Werkstättenbesitzer, Kaufleute, Gaststätten- und Vergnügungsbetriebsbesitzer ihre erste und auch weitere Millionen Peseten auf der Bank liegen haben.

De Lequericas politische These ist: „Wenn die 280 Millionen Europäer in der Praxis mit der amerikanischen Politik übereinstimmten und ihr die Mittel zur Verfügung stellten, sie in wirksame Tat umzuwandeln, dann würde die Kriegsgefahr fast vollkommen verschwinden.“

Der spanische Botschafterwechsel in Washington hat zu naheliegenden Spekulationen Veranlassung gegeben. Bedeutet er den Abschluß einer Phase der spanischen Politik? Jener Phase, in der Franco mit vollen Segeln an die Seite der USA manövrierte, um jene massiven Hilfen für Industrie, Wirtschaft und Verteidigungskraft seines Landes zu erlangen, die Amerika in den Jahren zuvor so großzügig den anderen Nationen Westeuropas zukommen ließ? Soll es die Aufgabe des neuen Botschafters, Don Jose Maria de Arei1za — auch er ein Baske — sein, die engen Bande — die Fesseln? — ein wenig zu lösen, die Spanien nunmehr an die Vereinigten Staaten knüpfen?

Sicherlich bahnt sich auch hier ein neues Bestreben seinen Weg, jenen Weg, den ebenfalls Botschafter de Lequerica so diplomatisch angedeutet hat: „Der Pakt Spaniens mit den Vereinigten Staaten, weit davon entfernt, uns dem (europäischen) Kontinent den Rücken kehren zu lassen, ermutigt uns im Gegenteil, unsere Verbindungen mit ihm und seinen wichtigsten Ländern zu verstärken.“

Angesichts der manifesten Tendenzen einiger wichtigen europäischen Länder gegenüber der jüngsten amerikanischen Politik nehmen diese Worte de Lequericas, kurz vor seinem Scheiden aus der Washingtoner Botschaft gesprochen, geradezu die Bedeutung eines schon halb gelösten Pythia-Spruches an…

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