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Der Weg aus den Trümmern

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1.

Wer heute durch die Straßen und Gassen (Wiens, durch -die-Dörfer und Städte Niederösterreichs fährt, bemerkt Häuser, die sich entweder durch den frischen Verputz als wiederhergestellt kennzeichnen, oder Gebäude, deren Architektonik sie als neu erkennen läßt. Die Menschen von heute, zwölf Jahre nach Kriegsschluß, haben rasch vergessen, welcher Umfang der Zerstörung im Frühjahr 1945 vorlag, wie lange Materialschwierigkeiten die Inangriffnahme des Wohnhaus-Wiederaufbaues hemmten. und daß schließlich erst gesetzliche und finanzielle Voraussetzungen diesem Aufbau vorangehen mußten. So wurde zum Beispiel der Wohnhaus-Wiederaufbaufonds, der vom Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau verwaltet wird, durch ein Gesetz vom 16. Juni 1948 mit dem Zweck geschaffen, Kriegsschäden an Wohnhäusern zu beheben und dies durch zinsenfreie, innerhalb von 75 Jahren (und zwar jeweils zweimal jährlich) in gleichbleibenden Raten rückzahlbare Darlehen. Erst ab 1948 kann man daher richtig von Wiederaufbau reden.

2.

Kaum zehn Jahre also. Wenn man nun bloß einen kleinen Ausschnitt und auch nur eines Bundeslandes — nämlich Niederösterreich — zur Besichtigung wählt, ist man vorweg von einer Tatsache überrascht: In welchem Maße es bei den nun einmal sparsamst zu verwaltenden Mitteln gelang, das Neuhergestellte und das Neugebaute mit dem Alten zu einer befriedigenden Einheit zu verschmelzen. Niederösterreich gehört zu den vom Kriege am schwersten betroffenen Bundesländern. Bisher sind dort 1354 Wohnbauten mit 7237 Wohnungen mit einer Darlehenssumme von 5 53 Millionen Schilling entstanden. Im einzelnen überwogen die Totalschaden hier ebenso wie in allen anderen Bundesländern. In Niederösterreich sind noch 3291 Wohnungen herzustellen.

Wenn man von Kriegszerstörungen in diesem Bundesland spricht, fällt unweigerlich sogleich der Name Wiener Neustadt. Vom 13. August 1943 bis in die letzten Tage des Krieges, als überdies hier unmittelbare Kriegshandlungen stattfanden, sind während 26 Fliegerangriffen 52.000 Bomben abgeworfen worden, die 2050 Objekte, das entspricht 49 Prozent des Gesamtbestandes der Stadt, völlig oder schwerstens zerstörten. Ohne Kriegsschaden sind in Wiener Neustadt nur 16 Gebäude geblieben — bei rund 4200 Wohnhäusern! Von den Industriebauten sind 72 Prozent völlig in Trümmer gegangen,

gänzlich unbeschädigt blieben nur drei Prozent! Bei. der'Wiederherstellung: ;beziehüngsweise rder Nenhersteiluag der 549 Objekte in»Wiener. Neustadt, die eine zusätzliche Wohnungszahl von 2150 mit einem Aufwand von 236 Millionen Schilling brachte, ist — besonders im Altstadtviertel — ebenso behutsam vorgegangen worden wie beispielsweise in Krems.

Wer den Bahnhofsvorplatz aus der Zeit unmittelbar nach dem Kriege kannte und jetzt in Krems ankommt, glaubt sich in eine andere Stadt versetzt. Hier ist auf Restauration im historischen Sinn verzichtet worden, was um so leichter fiel, als sich der alte Stadtkern ein Stück nördlich entfaltet. Wichtig ist dort übrigens die

— von uns bereits in der Reportage über Krems kurz angekündigte — Wiederherstellung der Gozzoburg. Dieses Gebäude, auch „Stadtburg" genannt, im 13. Jahrhundert zwischen dem Hohen Markt und der Margarethenstraße, einer Akropolis entsprechend, vom Bürger und Kammergrafen Gozzo errichtet, zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert im Besitze der österreichischen Herrscher, wird vom Wiederaufbaufonds zusammen mit der rührigen Gemeinde und dem Bundesdenkmalamt vorsichtig in den ursprünglichen Zustand versetzt. Bei der Freilegung der Burgmauern kamen gotische Bogen und Lauben zum Vorschein, die künftig die Organik des Baues sinnfällig vorstellen werden. Das Innere der alten Häuser wird bei dieser Ueberholung modernen Anforderungen entsprechend gestaltet

— die Bewohner haben von der äußeren Geschichte allein nichts. Indes, die Aufgaben für den Architekten sind in solchen Fällen angesichts gegebener Grundrisse und Gebäudehöhen überaus schwierig.

Weiter durch die Landschaft Niederösterreichs. In St. Pölten, das einen Bevölkerungszuwachs von 200 Prozent aufweist — achthundert Menschen je Jahr — wirken sich die Wohnungssorgen besonders aus. Auch St. Pölten ist im Kriege erheblich getroffen worden. 86 Wohnbauten sind vom Fonds genehmigt, vier derzeit in Bau, elf noch zu bewilligen. Die Gesamtkosten für einen Quadratmeter Wohnfläche betragen rund 2100 Schilling.

Auch in Traisen, Wilhelmsburg und St. Veit an der Gölsen, die zum Einzugsgebiet von Sankt Pölten zählen, dessen Sog nördlich bis Herzogenburg und im Triestingtal bis Kaumberg reicht, wurden Wohnobjekte aus den Mitteln des Wohnhaus-Wiederaufbaufonds wiederhergestellt. Die Aufgaben haben in diesem Raum besondere sozialpolitische und bevölkerungsgeographische Bedeutung. Je besser — und vor allem, je näher zum Arbeitsplatz — ės gelingt, die Arbeiter und Angestellten unterzubringen, desto günstiger gestaltet sich die Verkehrslage, die Nutzung der Verkehrsmittel und die Wirkungsweise der Arbeitskraft.

Eine Fahrt durch den dritten, vierten, fünften, zehnten und elften Bezirk Wiens gleicht einem schnell abrollenden Film, bei dem die Worte des Begleittextes (in unserem Falle der Techniker) kaum Schritt halten können. Das geht in einem fort: „Links, die Ecke, ein Neubau. Daran anschließend eine Wiederherstellung, anschließend nochx eine, gegenüber die zwei Häuser — ebenfalls renoviert, die Gasse linker Hand hinunter, alles, was Sie an neuen Fassaden sehen, Wiederherstellungen …"

Ja, die Menschen vergessen so schnell. Mehr als 60 Prozent aller Schäden in Oesterreich entfielen auf Wien. 36.851 Wohnungen waren völlig, 50.024 schwer und 100.430 leicht beschädigt. Rund 13 Prozent des verfügbaren Wiener Wohnraums verfiel der Zerstörung, 270.000 Wiener — das entspricht der Bevölkerungszahl des Burgenlandes — verloren ihre Wohnungen. Das zerstörte Areal betrug rund 2000 Hektar, der entsprechende Bauraum etwa 33 Millionen Kubikmeter. Flächenmäßig sind die Zerstörungen einem Gebiet gleichzusetzen, das sich aus den Bezirken 1, 3, 4, 5, 6, 7, 8 und dem halben 9. addiert. Die Gesamtdachfläche verlor 12,4 Prozent, die Glasschäden lagen bei 8 Millionen Quadratmeter, was einer 10 Meter breiten Straße von Wien bis Genf entspräche.

Im dritten Bezirk gab es bei Kriegsende über achttausend unbenützbar gewordene Wohnungen. Besonders arg litt das sogenannte Fasanviertel. Was dort neu aussieht, ist so gut wie völlig ein , ,fte? JVo flha r iederguf ij g.M viejitietrBezirk sah ęgj pęfalls.fghlį if 1000 Wohnungen entfielen 179 unbenützbar gewordene. Links und rechts der Mozartgasse, Wiedner Hauptstraße, Rienößlgasse, Fleischmanngasse, der Großen Neugasse, Waaggasse und am Mittersteig — überall neben dem Haustor die unscheinbare Bronzetafel, die von der Wiederinstandsetzung berichtet. Weiter auf unserem Weg. Fünfter Bezirk: überall dasselbe Bild, ob in der Geigergasse, Gassergasse, Kriehubergasse. Zurück zum Südtiroler Platz, wo der Krieg übrigens nur ein einziges Haus unbeschädigt ließ, hinaus nach Simmering, dieser Symphonie von Gärtnerfeldern, Fabriken, Dorfhäusern und neuzeitlichen Wohnbauten. In einem Hause, das 132 Wohnungen enthält, besahen wir drei verschiedene Typen, die einem Maurer, einem Polizeiinspektor und einem Holztechniker Gelegenheit zu individueller, über die Norm hinausgehender Innenraumgestaltung gaben. Aeußerlich versuchen die Architekten durch Farbgebung der Fassaden, Massegliederung, Grünflächenwidmung in den weiten, mitunter terras? sierten Höfen das Grau der Stadt am Rande zu durchbrechen.,

Der gleiche Wohnbezirkstyp ist Favoriten. Der zehnte Bezirk litt am schwersten in Wien. Ein Drittel sämtlicher Wohnungen wurde unbenützbar. Auch hier können wir bei nahezu allen wesentlichen Ueberholungen und Neubauten das Bemühen sehen, von Hergebrachtem wegzukommen. Ganz verschwunden sind allerdings hier die Baulücken ebensowenig wie anderwärts. Aus dem Erträgnis der 2. Gruppe der 2. Tranche der Anleihe des Wohnhaus-Wiederaufbaufonds sollen hier im zehnten Bezirk und anderwärts rund 6000 Wohnungen wiedergewonnen werden. 6000 — das bedeutet für zumindest 12.000 bis 15.000 Menschen ein Heim. 3200 Bauarbeiter und 1600 Industriearbeiter v,'erden durch die Vergebung der 200 Millionen Schilling neun Monate lang beschäftigt werden, wenn man den Arbeitsanteil mit 50 Prozent der Gesamtkosten annimmt; hiezu kommen noch die Materialkosten, in denen ja ebenfalls viele Arbeitsstunden stecken. Täglich zahlt der Fonds an Zuschüssen drei bis dreieinhalb Millionen Schilling aus. Sein Wirken ist weder aus dem wirtschaftlichen noch aus dem kulturellen Wiederaufbau der Republik wegzudenken, ja er ist zu einem sozialpolitischen Motor ersten Ranges geworden.

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