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Dick- und Dünndarm denken

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Vor schweren Prüfungen flitzen Schüler und Studenten oft auf die Toilette, wo sich ihr Gedärm explosionsartig entleert. Westliche Touristen wissen ein Lied auf die plötzliche Verstopfung zu singen, die sie beim Anblick von Dritte-Welt-Latrinen befällt. Auch daß sich Menschen in Todesangst - zum Beispiel Soldaten im gegnerischen Trommelfeuer - vor Angst in die Hose machen, ist hinlänglich bekannt. All das ist kein Zufall - denn der menschliche Verdauungstrakt ist keine Kette dummer Organe, die stumpf eine ewig gleiche Arbeit verrichten, sondern er ist von einem Netzwerk aus rund 100 Millionen Nervenzellen überzogen — das sind mehr Neuronen, als das Bücken-, mark enthält. Von der Speiseröhre bis zum After reicht das Geflecht aus mehreren Millionen Nervenknoten, das neben dem Gehirn ein zweites Nervenzentrum bildet. Der Mensch hat also ein kleines Hirn im Bauch.

Die Nervenzellen des Bauchhirns liegen „wie ein hauchdünnes Stück Seidenpapier zwischen zwei etwa packpapierstarken Muskellagen", schildert Michael Schemann, der an der Tierärztlichen Hochschule Hannover „vegetative" Psychologie" lehrt. Die Neuronen auf dem Darm verwenden zur Übermittlung von Signalen denselben chemischen Wortschatz wie jene im Kopf: Neurotransmitter wie etwa Serotonin, Dopamin, Glutamat und Noradrenalin - insgesamt rund 30 verschiedene Botenstoffe.

Das Bauchhirn - im Fachjargon das enterische Nervensystem - steuert die Bewegungen in der Muskel-wand des Verdauungstraktes. Es regelt die Durchblutung der Darmschleimhaut, sorgt dafür, daß die Verdauungsdrüsen zur richtigen Zeit ihren Inhalt in den vorbeikommenden Nahrungsbrei mischen und steuert die Wasser- und Salzaufnahme. Das Bauchhirn erlaubt dem Verdauungstrakt, völlig unabhängig vom Kopfhirn zu arbeiten. Zu Testzwecken entnommene Darmabschnitte arbeiteten, eingebettet in Nährlösungen, sang- und klanglos.

Trotzdem stehen Kopf- und Bauchhirn in ständigem Kontakt - über wenige Tausend Fasern im sogenannten Vagusnerv. Dies erklärt die anfangs genannten Einflüsse der Psyche auf die Verdauung. Was dem Hirn widerfährt, bleibt dem Bauch nicht verborgen: Alzheimer- und Parkinsonpatienten leiden unter chronischer Verstopfung. „Ihre Nerven im Darm sind so krank wie die im Kopf", schrieb das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel". Ebenso haben Medikamente, die auf Hirnfunktionen zielen, fast immer Nebenwirkungen auf die Verdauung. Psychopharmaka, Beruhigungsmittel oder Drogen haben eine ebenso beruhigende oder belebende Wirkung auf den Darm wie auf den Geist. Bund jeder vierte Patient, dem ein Antidepressivum verabreicht wird, klagt über unangenehme Nebenwirkungen aufs Gedärm.

Auf jede Faser, die Signale vom Gehirn zum Darm überträgt, kommen vier, die elektrische Impulse in die Gegenrichtung senden. Was da übertragen wird, ist für die Forscher ein Bätsei - Allerdings ist das Fachgebiet der Neurogastroenterologie noch sehr jung und wegen der versteckten Lage der Neuronen im Bauch sehr arbeitsintensiv.

Die Dinosaurier, die bis vor 65 Millionen Jahren die Erde bevölkerten, hatten auch ein zweites Gehirn in der Bauchgegend - jedoch nicht über den gesamten Verdauungsapparat verteilt, sondern als großen Klumpen, ganz so wie das Hirn im Kopf. Beim Brontosaurus etwa; einem pflanzenfressenden Biesen, der bis zu 20 Meter lang wurde, war das Bauchhirn sogar größer als jenes im Kopf. Bei dieser Größe war es wohl günstiger, daß die Steuerung des enormen Saurierdarmes gleich nebenan lag und nicht im weit entfernten Kopf.

Auch was den Menschen anbelangt, hält der britische Verdauungsforscher David Wingate von der Uni-versity of 1 >ondon das Bauchhirn für die bessere Lösung: „Ein Baby muß unmittelbar nach der Geburt essen und verdauen", sagt er - Funktionen, die besser nicht über relativ lange Nervenstränge vom Kopf her kontrolliert wurden, sondern von einer nahegelegenen Befehlszentrale.

Die stammesgeschichtliche Entstehung des Bauchhirns läßt sich in der Entwicklung des menschlichen Embryos nachvollziehen: Im Frühstadium der Ontogenese bildet sich die sogenannte Neuralleiste, ein Klumpen aus Nervenzellen. Später teilt sie sich: Ein Stück wird vom Kopf umschlossen, das andere wandert in den Bauch-1 räum.

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