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Die „Anti-Schlafstadt“

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Krankheitsbild: „Ihr zweiunddreißigstes Kind gebar die 45jährige Maria Carnauba de Sousa. Maria und ihr 52jähriger Gatte wohnen in einem Bretteidorf am Rande von Brasilia, der hypermodernen Hauptstadt von Brasilien “ Oder: „Weil er sich durch das Schreien der Kinder beim Fernsehen gestört fühlte, hat der Bauarbeiter Adolf H., 37, Sonntag abend in seiner Frankfurter Wohnung seinen sieben Monate alten Sohn Horst erschlagen “ Oder: „Gettos im Grünen (Gropius Stadt) Danach aber, wenn um 18.30 Uhr das neonkühle Einkaufszentrum schließt, verfällt die Stadtsiedlung wieder in eihen fast geisterhaften Zustand der Lähmung. Die Erwachsenen besuchen ein Bierlokal in einer Schrebėrgartenkolohie am Rande der neuen Siedlung. Halbwüchsige finden sich zu Moped-Banden am Stadtrand. Kin

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Krankheitsbild: „Ihr zweiunddreißigstes Kind gebar die 45jährige Maria Carnauba de Sousa. Maria und ihr 52jähriger Gatte wohnen in einem Bretteidorf am Rande von Brasilia, der hypermodernen Hauptstadt von Brasilien “ Oder: „Weil er sich durch das Schreien der Kinder beim Fernsehen gestört fühlte, hat der Bauarbeiter Adolf H., 37, Sonntag abend in seiner Frankfurter Wohnung seinen sieben Monate alten Sohn Horst erschlagen “ Oder: „Gettos im Grünen (Gropius Stadt) Danach aber, wenn um 18.30 Uhr das neonkühle Einkaufszentrum schließt, verfällt die Stadtsiedlung wieder in eihen fast geisterhaften Zustand der Lähmung. Die Erwachsenen besuchen ein Bierlokal in einer Schrebėrgartenkolohie am Rande der neuen Siedlung. Halbwüchsige finden sich zu Moped-Banden am Stadtrand. Kin

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der spielen in Baugruben “ Übervölkerung in Slums, Verbrechen, durch Massenmedien mitveranlaßt, Umweltkatastrophen, Kriegsfolgen, Jugendkriminalität in Vorstädten, Planungsschäden, Minderheiten in Elendsvierteln, Verkehrsunglücke. Es ist höchste Alarmstufe, die Struktur unserer Großstädte zu untersuchen. Die Geschichte, die sich mit dem Städtebau beschäftigt, hat wohl ausführlich und präzise dem Aufbau von Städten, und nach deren Zerstörung, dem Wiederaufbau Raum und Qualität gewidmet. Den Abbau hat sie optimal verschwiegen. Die Geschichte des Städtebaues darf als Verheimlichung des Abbaus betrachtet werden. Es wird Zeit für die Wissenschaft, das mehr als nur logische Kontinuum von Aufbau-Abbau-Wiederaufbau in strukturelle Beziehungen zu setzen!

Nun, vor kurzem haben die beiden jungen Wiener Architekten Walter Prankl und Werner Höfer, der erste ist übrigens immer wieder mit reizvollen graphischen Arbeiten hervorgetreten, eine umfangreiche Schrift vorgelegt: eine Broschüre, in der Fragen auftauchen, die vorerst von den Architekturexperten in gezielten Arbeitsgesprächen beantwortet werden sollen. Was die beiden vermitteln wollen, ist ein grundlegend neues Programm für zeitgemäßen, mehr noch: weitsichtigen Städtebau, sozusagen ein neues Leitbild, nach dem sich spätere Generationen noch richten können. Sie präsentieren ihre Ideen und Überlegungen al städtebauliches Manifest, das — wenn es erst richtig ausgereift ist — möglicherweise entscheidende Veränderungen in der Konzeption neuer Stadtteile für alle Weltstädte hervor- ruf.en könnte. Die „Furche“ stellt das Programm zur Diskussion.

Der Ansatzpunkt:

Ein Krankheitsbild der Slums von New York, Tokio, San Francisco, London, wo man will: Überbevölkerung (Wien natürlich ausgenommen), Verbrechen, Kriminalität der Jugend in den trostlosen, monoton verbauten Vor- und Satellitenstädten, falsche Planungen, wohin man schaut, Verkehrsunglücke, die von Jahr zu Jahr beängstigend zunehmen, die Verelendung in Randgebieten der Metropole, die Vereinsamung der Jungen wie der Alten Diese Erkenntnisse, die vor allem von den Soziologen unverblümt konstatiert werden und in manchen Staaten bereits Heere von Beamten zu befassen beginnen, sind Ausgangspunkt einer Analyse der städtebaulichen Ausdrücksformen in der geschichtlichen Entwicklung der auf- und wiederaufbauenden Planungssysteme.

Drei entscheidende Vorstellungen sind dabei ausschlaggebend:

1. Die Geomantie, das ist die Beobachtung un J Bezugsetzung von Kosmos und von örtlichen Zufälligkeiten. Die geomantisch-zeitliche Regel schließt wohl die Geometrie und die Nichtgeometrie in ihre Gesetzmäßigkeit ein, ordnet sie aber einem universellen Zusammenhang unter. (Chinesischer, römischer Städtebau, japanische Hausformen: Haus — Bildnische — Garten — „Naturnähe“.)

2. Die Nichtgeometrie: Sie umfaßt

alle jene städtebaulichen Gestaltungsmöglichkeiten, die sich nicht auf einfache geometrische Formen zurückführen lassen. (Etrusker, Kelten, mittelalterlicher Städtebau, England; teilweise: China und Japan.)

3. Die Geometrie: Sie kann auch als deterministische Geometrie nach Euklid berechnet werden. Sie richtet ihr Augenmerk auf einfache geometrische Grundformen und Systeme

im Städtebau. (Der hippodamische Stil, die fürstlich-feudale Epoche, die Anti-Geometrie Albertis, der Barock, Amerika und Rußland bis zum 20. Jahrhundert.)

Für die Geometrie selbst haben Prankl und Höfer drei Richtlinien festgelegt:

1. Die radialen, zentripetalen Stadtstrukturen (Gartenstadt, Stufenstadt).

2. Die weiträumigen, noch geometrischen Stadtgefüge, mit einer Neigung zur Nicht-Geometrie (Strahlenstadt, Brasilia usw.).

3. Die linearen Stadtstrukturen: Die Bandstadt, die Aststadt, gegliederte und aufgelockerte Stadt, die städ

tische Achse, die lineare Stadteinheit.

Gerade durch das Außerachtlassen dieser Zusammenhänge, durch die Forcierung und Spezialisierung der geometrischen Techniken im europäischen Städtebau ist die europäische Stadt nach Ansicht der beiden jungen Architekten „krank“ geworden.

Was ist dagegen zu tun?

Sie nennen ihr utopisches Leitbild

der modernen Stadt „Die vierte Haut“. Die Bezeichnung nehmen sie aus einer Skala, in der Haut Nummer 1: die des Menschen, Nummer 2: die Hülle des Menschen (Kleidung), Nr. 3: die Behausung usw., Nr. 4: die Stadt, Nr. 5: die Regionen, Länder, die Erde, Nr. 6: den Makrokosmos darstellen.

Die „vierte Haut“, das Stadtbild, genauer: das Strukturbild der neuen Stadt, gliedern Höfer und Prankl in Merkpunkte, Treffpunkte, Verbindungslinien und Bezirke. Im Detail: „Merkpunkte sind Gestaltungsinstrumente des Städtebaus aus dem Bereich des Design, der Architektur; zeitweilig auch Menschen usw. Treff

punkte sind umfassendere Instrumente, die schon in ihrem Gefüge mehrere Merkpunkte aufweisen (zum Beispiel ein Ort, an dem ,was Jos ist“). In dieser Untersuchung werden drei Größen unterschieden: ein kleinster, ein kleiner und ein mittlerer Treffpunkt. Sie dienen als Gelenke im Stadtinneren und als Kontrakt zum Umland. Verbindungslinien sind Wege, Straßen, Bahnen, Ränder, Nähte der Stadt und binden die einzelnen kleineren Bereiche, Treffpunkte oder Merkpunkte eher zusammen. Bezirk: die Fülle der Verbindungslinien, die Vielzahl der Treffpunkte und die ungezählten Merkpunkte, die eine Art richtungsverankerte Struktur bilden, formen schließlich einen vorerst unüberschaubaren Bezirk. Dieser Bereich wird durch das Zwischenzentrum mit dem nächsten Bezirk derart verbunden, daß es zur pluralistischen Zentrumsbildung kommt.“

Gerade die Einführung dieser vier „inneren Instrumente“ — Merkpunkte, Treffpunkte, Verbindungslinien, Bezirke — erlaubt eine vereinfachte Sicht für den Planenden, rasche Korrekturen oder eine Abfolge von zeitlich-räumlichen Erscheinungen zu lenken. Dadurch ist ein Kontinuum in allen Richtungen und Ebenen der Stadt bis zum Außenrand und zu den stark akzentuierten Gelenken (Treffpunkten) im Innern der Stadt möglich.

Die Bauordnung ist hier vor allem der individuellen Persönlichkeit gewidmet: Grünland, das heißt Wohngärten, die die Wohneinheiten von drei Seiten umschließen, Kleingärten auf den Terrassenbauten, Erholungsgebiete im Sinne der Volksgesundheit und ein „abrupt und klar definierter“ Stadtrand gewährleisten dies.

Die Verkehrsbänder, genauer: die Führung aller Fahrtstraßen, sind in dieser Stadt im Einbahnsystem mit einseitiger Einmündung gelöst. Autobahnen werden in der Stadtmitte, etwas überhöht, Straßen, in der Art von Gartengeschossen, eingesenkt, geführt. Fußgeherwege durchziehen das Stadtinnere, großzügige Anlagen mit Treppen, Rampen, Außenterrassen usw., so daß sich immer wieder optisch reizvolle Aspekte ergeben.

Auf diese Weise der Organisation gelangen Höfer und Prankl zu einem vielschichtigen, straff gegliederten Lebensraum für etwa 1 Million Einwohner. Aber sie warten darüber hinaus auch mit vielfältigen Details auf: Mäanderartig aneinandergereihte, terrassenartige Wohnungen bis zu zwölf Geschossen, Wohneinheiten mit zugeordneten Grünanlagen, Verwaltungs- und Kulturzentren, Industriegelände sind einge

plant. In der City sind da die unteren Geschosse dieser Monsterbauten der Arbeit, dem Konsum, den Diensten gewidmet, die oberen den Wohnungen. Ein- bis zweigeschossige Atrienreihenhäuser zwischen den terrassierten Hochbauten enthalten die „Treffpunkte“: Kioske, Läden, Espressi, Noteinrichtungen, Restaurants, Kleinkinos, Kliniken, Grundschule usw., ihrer Größe nach geordnet. Auf und unter den Dachflächen der zwölfigeschossigen Wohnterrassen befinden sich Museum-Cafeterias, Bibliotheken, Ateliers, Kultbauten, Botschaften usw. (siehe Abbildung).

Vor allem, diese Stadt ist eine Stadt des Lichts, sozusagen eine Antischlaf tstadt: „Der Abfolge von ansteigender Zahl der Merkpunkte zu einem höheren Treffpunkt und deren Verminderung beim Verlassen eines Treffpunktes ist ebenso einzuplanen, wie dasselbe Prinzip beim Beleuchtungsplan der neuen Stadt zu berücksichtigen ist. Der traditionellen These, Wohnstraßen, unbedeutenden Nebenstraßen gleichzusetzen, das die Prinzipien der Schlafstadt manifestiert, wird in der neuen Stadt kein Platz eingeräumt. Der lichte Rand dieser Stadt ist ein Sinnbild der heuen Wachstadt, der Antischlafstadt.“

Gewiß, das umfangreiche Projekt ist eine aufsehenerregende Leistung, von der Idee her wie in der Durchgestaltung. Dennoch muß man hinzufügen, daß die Chance, eine solche Stadt in nächster Zukunft zu realisieren, und sei es auch nur teilweise, gering ist. Vor allem wohl deshalb, weil Beispiele wie Brasilia lehren, daß sich Städte schwer aus dem Boden „stampfen“ lassen, daß sie vielmehr in Jahrhunderten oder zumindest nach einem gewissen Bedarf organisch gewachsen sein müssen, um sich als wirklich lebensfähig zu erweisen. So bestätigt sich — und darauf haben bereits etliche Experten hingewiesen — das Projekt vor allem als ein interessanter Versuch, auf diesem Sektor erzieherisch zu wirken, weniger als tatsächlich umsetzbarer Plan; im ganzen eine gedankliche Leistung, die der Diskussion wert ist, Anregungen bietet, die hoffentlich zu einer intensiveren wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema Städtebau auf einer hier vorgeschlagenen anderen Basis führen wird.

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