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Die Enkel des Ikarus

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EIN UNGUTES GEFÜHL in der Magengegend ist wohl jedem beschieden, der zum erstenmal' in ein Flugzeug steigt. Ob er nun, behaglich in seinen Polstersitz gelehnt, zu einer Geschäftsreise startet oder ob er sich, angeschnallt und durch eine Haube aus Plexiglas von der spöttisch lächelnden Umwelt getrennt, als Segelflugschüler zur Eroberung der Lüfte anschickt.

Tief drinnen in seinem Sitz hockt das Flugkücken, durch feste Leib- und Schultergurten auf Gedeih und Verderb mit dem etwas windig aussehenden Vogel verbunden. Das ungute Gefühl in der Magengegend hat genügend Zeit, sich auszubreiten. Der Neuling versucht, seine lang geratenen Beine so unterzubringen, daß er weder Fußsteuer noch Steuerknüppel berührt, denn jeder der beiden Plätze im Doppelsitzer ist mit allen Steuervorrichtungen und Instrumenten ausgerüstet.

Auf dem Höhenmesser sind hundert Meter nur ein winziger Teilstrich, fünf Kilometer haben auf der Skala Platz. Der Geschwindigkeitsmesser würde für einen Porsche reichen. Dann gibt es noch ein Variometer, das wichtigste Instrument des Segelfliegers: es zeigt, wie viele Meter in der Sekunde das Flugzeug steigt oder sinkt. Der Kompaß ist eine Glaskugel, in der eine zweite schwimmt. Der Wendezeiger gibt dem Uneingeweihten Rätsel auf.

DER PILOT IST EINGESTIEGEN, das Schleppseil eingeklinkt. Auf der einen Seite des Flugzeuges hält ein Mann den Flügel, damit sich das Flugzeug nicht auf die Seite neigt, bereit, ein paar Meter mitzulaufen. Auf der anderen streckt einer eine rotweiße Startflagge in die Höhe: Das Signal für die Mannschaft an der Motorwinde, 1200 Meter weit am anderen Ende der ausgedehnten Wiese hinter de Rollfeldern von Aspern.

Aber noch rührt sich nichts. Geschenkte Sekunden. Die Segelflieger behaupten, ihr Sport wäre ungefährlicher als Motorradfahren. Aber ist das ein Trost für jemanden, der auf kein Motorrad steigt?

Ein Ruck. Ruhe. Und wieder ein Ruck. Ein schleifendes Geräusch unter dem Boden des Flugzeuges. Es wird vorwärtsgerissen, der Flügel stellt sich steil auf, wie ein Drachen im Herbstwind. Vor uns Luft, nur Luft, die Erde steht auf einmal ganz schief.

Segelfliegen ist ganz anders, als man es sich vorgestellt hat. Man hat sich ein lautloses Dahinschweben erwartet. Nun erfüllt Brausen und Rauschen die Kabine. Täusche ich mich, oder macht sich jede Bewegung des Steuerknüppels in diesem Geräusch bemerkbar? Tief unten: Aspern. Man kann das große Areal mit seinen Gebäuden, Rollbahnen und Wiesen bequem überblicken. Und weit hinten, am Horizont, in der Abendsonne glänzend: die alte Donau. Der Höhenmesser zeigt auf den dritten Teilstrich, der Fahrtmesser 70 bis 80 Stundenkilometer, das Variometer schwankt zwischen zwei Sekundenmeter Steigen und Fallen. In einer Steilkurve gleitet die Erde vor das linke Fenster, und rechts ist nur Himmel. Die linke Flügelspitze zeigt auf einen Bauernwagen, der gerade mit Heu beladen wird.

MAN UNTERSCHEIDET DREI ARTEN von Segelflug: den Flug im „Hang-Autwind“, einer Windströmung, die durch einen Berghang nach oben abgelenkt wird, den (zumeist geübten) Thermik-Segelflug in den aufsteigenden Luftströmungen, die an heißen Tagen durch die Erwärmung des Bodens oder über Gehöften, Schornsteinen usw. entstehen, und den Segelflug in der langen Welle. Diese letztere ist auch die jüngste Art, sie wurde in den Nachkriegsjahren in Amerika entwickelt. Hinter sehr hohen Gebirgszügen entstehen Luftströmungen, die den Segelflieger, wenn er im Thermik-Segelflug oder Flugzeugschlepp von unten an sie Anschluß findet, bis zu zehn Kilometer in die Höhe tragen. Warme Kleidung schützt den Segelflieger vor der Außentemperatur, die leicht minus 50 Grad erreichen kann, das Sauerstoffgerät vor

Bewußtlosigkeit und Tod. In sanftem Abwärts-flug lassen sich gewaltige Streckenleistungen, Höchstgeschwindigkeiten von 180 und Durchschnitte von 100 Stundenkilometern erzielen.

WER SEGELFLIEGER WERDEN WILL, muß die goldene Regel für den Autofahrer: Lieber zu langsam fahren als zu schnell, umdrehen. Wer zu langsam fliegt, stürzt ab. Durch seine Geschwindigkeit hält sich jedes Flugzeug in der Luft, es rutscht (wenn man so sagen darf) durch die Luft, wie ein Wasserski über das Wasser.

Wenn der Flieger den Steuerknüppel zu sich zieht, steigt das Flugzeug, wenn er ihn nach vorne drückt, senkt es die Schnauze abwärts. Beim Ziehen verliert es an Geschwindigkeit, beim Drücken gewinnt es „Fahrt“. Das Segelflugzeug kann aber auch an Höhe gewinnen, während der Pilot drückt: Wenn die umgebenden Luftmassen schneller in die Höhe steigen, als das Flugzeug sinkt.

Man kann den Steuerknüppel nach allen Richtungen bewegen. Er betätigt zwei voneinander unabhängige Steuer: das Höhenruder (das waagrechte Blatt am Schwanzende des Flugzeuges) und die Querruder außen, an den Hinterseiten der Flügel. Wenn man ihn nach links bewegt, winkelt sich das Querruder am linken Flügel nach oben, das am rechten Flügel nach unten ab und der linke Flügel senkt sich, während der rechte sich hebt. Sobald das Flugzeug die erwünschte Schräglage erreicht hat, kehrt der Steuerknüppel wieder in seine Mittelstellung zurück.

Das Querruder wird hauptsächlich in Verbindung mit dem Seitenruder, das man mit den Füßen betätigt, verwendet. Wenn man mit dem rechten Fuß drückt (und mit dem linken nachgibt), ändert die Maschine ihre Flugrichtung nach rechts (und umgekehrt). So, wie der Motorradfahrer sein Fahrzeug in der Kurve auf die Seite legt oder drückt, muß auch der Flieger seinem Flugzeug eine dem jeweiligen Kurvenradius und der Geschwindigkeit entsprechende Schräglage geben, wenn es nicht nach außen abrutschen soll.

Abgesehen von Steuerknüppel und Pedalen, hat das Segelflugzeug nur zwei Hebel, wenn wir vom Griff zum Oeffnen der Kabinenhaube absehen wollen: einen Knopf zum Ausklinken des Schleppseiles und den Hebel für die Bremsklappen, die aus den Flügeln heraustreten und im Sturzflug oder bei der Landung die Geschwindigkeit vermindern. Doppelsitzer haben luch einen Trimmhebel zur Verlagerung des Schwerpunktes nach vorne oder hinten.

DER ERSTE SCHRITT zur Segelfliegeraus-l-iilduno ist der Wee zum Flieserarzt. Der zweite führt entweder in eine Segelfliegerschule (beispielsweise in Aigen) oder in einen Segelfliegerklub, deren es auch in Wien einige gibt: den Union-Sportfliegerklub Wien, die Segelfliegergruppe Wien, den Flugring Austria und andere. Die meisten schulen (heute fast ausschließlich im Doppelsitzer) und üben in Aspern, jenseits der Rollbahnen, auf einer ausgedehnten Wiese, wo kein Hügel und kein hohes Gebäude unerfahrene Flieger in Gefahr bringen kann. Die Motorwinde schleppt die Flugzeuge in einer Höhe von etwa 300 Meter, wenn der Aufwind fehlt, landen sie zehn bis fünfzehn Minuten später. Wem das C-Abzeichen verliehen wurde, der darf Einsitzer in der Umgebung des Fluggeländes führen, nur mit dem „Luftfahrerschein“ ist man zu Streckenflügen und Außenlandungen berechtigt.

WENN MAN BEDENKT, daß sich die Segelfliegerklubs aus eigener Kraft erhalten müssen, ist das Segelfliegen im Klubverband erstaunlich billig. Obwohl es in Oesterreich Tausende von Flugsportlern gibt, finden sie bei den öffentlichen Stellen wenig Verständnis (wenn sie Geld wollen). Vielleicht findet man, daß Tausende zuwenig sind, um eine Förderung in Betracht zu ziehen — gemessen an den Hunderttausenden, die sich für den Fußballsport interessieren. Aber was machen diese Hunderttausende wirklich? Betreiben sie Sport? Sie schauen zu. Bei den Segelfliegern gibt es nur Aktive. Dabei hat sich mancher Oesterreicher um die Fliegerei große Verdienste erworben.

SO BAUEN SICH die Segelflieger auch heute noch ihre Flugzeuge selbst, wenn es irgendwie möglich ist. Die Werkstätte des Union-Sportfliegerklubs Wien ist in zwei Räumen der Gendarmeriekaserne auf dem Rennweg einquartiert. Dort werden Flugzeuge gebaut und „Brüche“ repariert. Der Flugunterricht wurde in den letzten jähren zwar so verbessert, daß sie durchaus nicht mehr dazugehören, aber gelegentlich gibt es doch immer wieder „Kleinholz“. Augenblicklich wird ein Flugzeug repariert, das vor einigen Wochen in Aspern im Steilflug aus 80 Meter Höhe auf den Boden aufprallte. Die Tageszeitungen haben davon berichtet. Ein zersplitterter Flügel, ein zertrümmerter Pilotensitz, abgerissene Haltegurten — trotzdem ist der Flieger mit einem Knöchelbruch davongekommen. Beim Segelflug gehen Unfälle viel öfter glimpflich aus als bei der Motorfliegerei, weil Segelflugzeuge kein Benzin mitführen und weil ihre Masse geringer und deshalb auch der Aufprall weniger hart ist.

Die Mitglieder müssen monatlich eine bestimmte Anzahl von Baustunden leisten. Sozusagen als Prüfung arbeitet der Neuling aus einem viereckigen Holzstück ein kleines Flugmodell mit etwa zehn Zentimeter Spannweite heraus. Hoffnungslos ungeschickte Leute oder solche mit wenig Zeit können sich allerdings loskaufen.

In der Werkstätte der Segelflieger fühlt man sich wie bei Ikarus zu Gast: Ueberau lehnen Flüge'., bespannt oder als zarte Holzgerippe, doch vergebens sucht man nach dem Wachs, mit dem der griechische Sagenheld seine Schwingen zusammenklebte. Dafür rieht es nach Nitrolack.

Das Segelfliegen wird also, mit oder ohne Geld, nicht aussterben. Wer es einmal probiert hat, kann nicht mehr davon lassen. Allzu schnell ist der erste Flug vorüber. Man steigt aus und fragt sich erstaunt: Wo ist die Angst geblieben?

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