6733466-1966_09_13.jpg
Digital In Arbeit

Die Spitzhacke droht in Graz

Werbung
Werbung
Werbung

„Das Schönste, was eine Stadt besitzen kann, ist eine schöne Lage an einem schönen Fluß. Wie formen doch Ströme das Gesicht einer Stadt: die Themse in London, die Seine in Paris, der Arno in Florenz, die Donau in Regensburg, Passau, Preßburg und Budapest..schreibt Rudolf Oertel in seinem Werk „Die schönste Stadt der Welt”: Wien, das nur den Liedern nach „an der schönen blauen Donau” liegt, meint er weiter, „hat nicht einmal den kleinen Seitenarm, der noch dazu den häßlichen Namen Donaukanal trägt nomen est omen — richtig zur Geltung zu bringen gewußt..Von Graz, der zweiten Stadt Österreichs, mit ihren 250.000 Einwohnern, kann man gewiß auch heute noch sagen, daß ihre Lage an der Mur, dem Gebirgsfluß, das Antlitz der Stadt bestimmt. Nicht weniger als neun Brücken verbinden die Viertel der Stadt am linken und am rechten Murufer miteinander. Von Nord nach Süd: die Weinzödl’brücke, die Kal- varienfoergforücke, die Kepler- brüoke, die Hauptbrücke, die Te- getthoffbrüöke, die Radetzkybrücke, die Schönaubrücke, dahinter die Eisenbahn-SchönaubrüCke als Verbindung von Hauptbahnhof zu Ostbahnhof, die Puntigamerbrücke. Der Fluß, freilich heute der am meisten verschmutzte Österreichs, durchzieht das Stadtgebiet in einer Länge von 15,8 Kilometern. Seine Breite schwankt zwischen 57 und 121 Metern, seine Wassertiefe ist unbeständig. Das Flußbett hat sich seit der Errichtung der Kraftwerkbauten vertieft.

Das linksseitige Murufer entlang führte einst die mittelalterliche Stadtbefestigung, über der der Grazer Schloßberg mit seiner Festung — noch heute das charakteristische Zeichen der Stadt — aufragte. Die Begrenzung der westlichen Altstadt zwichen Keplerbrücke und Tegett- hoffbrüoke zeichnet sich auch heute deutlich an den Konturen einzelner Bauten ab. Im Grazer Stadtplanungsamt ist eine Großaufnahme des jüngst fertiggestellten Modells der Altstadt um 1800 zu sehen, über dem die Worte stehen: „Die Geschichte prägte das Stadtbild.” Man ist stolz auf das geschichtliche Bild der Stadt, an dem man die Phasen ihrer Siedlungsentwicklung ablesen lassen. Das Geschichtliche gehört zum Fluidum der Stadt, macht ihre Stadtheimat aus. Nur wenige alte Städte auf deutschem und österreichischem Boden haben ihre geschichtliche Bausubstanz gerettet.

Rettet die Altstadt

Der große Feind der geschichtlichen Stadt mitten im Frieden ist der motorisierte Verkehr, der durch die Gassen und Straßen der Altstadt flutet und bisher sich durch bauliche Anpassungen, wie auch in anderen alten Städten, seinen Weg bahnte, wobei die Struktur der Straßenräume, des originalen Gefüges der Gassen und Gäßchen, da durch den Einbau von Arkaden, dort durch Zurücknehmen der Baulinie, hier durch den Abbruch von Häusern und dort den Durchbruch neuer Straßen angenagt wurde. Langsam sieht man ein, daß es so nicht weitergeht. Die Stadt soll nicht dem Verkehr angepaßt werden, sondern der Verkehr muß sich der Stadt anpassen. Mahnungen zur Einsicht werden auch in Graz immer lauter. Man sieht ein, daß der Kraftwagenverkehr — auch ohne Lastwagenverkehr — in Städten mit engem, mittelalterlichem Stadtkern zum völligen Unsinn geworden ist, daß es ein fundamentaler Irrtum ist, durch städtebauliche Veränderungen und Anpassungen in Altstädten der Flut des motorisierten Verkehrs Herr zu werden. Der Ruf „Rettet die Altstadt” — nicht als Museum, sondern als Bewegungsraum für den Menschen — ertönt allenthalben. Es ist klar: Nicht der Götze Verkehr darf dem Menschen den Lebensraum anweisen, sondern der Mensch muß dem Verkehr seinen Lebensraum schaffen. Das heißt aber: Es müssen Fußgängerreservate, ausgiebige verkehnsfreie beziehungsweise verkehrsarme Bereiche in der Altstadt festgelegt werden. Rudolf Pfister, der Vorkämpfer einer zeitgemäßen Denkmalpflege, schreibt: „Sich von der Entwicklung schieben zu lassen, ist Mangel an Genialität, der Entwicklung den Weg vorzuschreiben oder sie vorauszuahnen, ist die höchste Tugend aller Verwaltung und Regierung. Wenn unsere Altstädte nach zehn oder zwanzig Jahren verdorben sind durch die notwendig unzulänglichen Versuche, sie dem modernen Verkehr anzupassen, wird trotz der Durchbrüche und Nieder legungen der Augenblick doch kommen, da man einsehen wird, daß man unendlich viel Kultur- und anderes Gut unnötig zerstört hat, weil man sich von der Entwicklung schieben ließ, anstatt ihrem Schritt rechtzeitig zu lauschen und ihr den Weg vorzuzeichnen.”

Generalverkehrs- und Flächennutzungsplan

Aus solchen Überlegungen haben die Grazer Stadtväter im Jahre 1961 einen Generalverkehrspla-n von den Professoren Pendl und Feuchtinger entwerfen lassen, der als Richtlinie für die Stadtplanung und für den im Auftrag der Gemeinde Graz gegenwärtig von Professor Dr. Rudolf Wurzer (Technische Hochschule Wien) zu erstellenden Flächennutzungsplan dient. Nach dem Generalverkehrsplan wird die Grazer Altstadt weitgehend vom Individualverkehr entlastet: Zwei der wichtigsten Brücken, zuerst die Kepler- brücke und 1965 die Hauptbrücke, wurden bereits nach den Richtlinien des Verkehrsplanes erneuert. Eine linke Muruferstraße soll als zweispurige Einbahnstraße zwischen Radetzkybrücke und Keplerbrüoke in Richtung Norden angelegt werden, welche die sie kreuzenden Brücken und Straßen kreuzungsfrei unterfährt. Eine entsprechende Straße auf der rechten Murseite Soll den Gegenverkehr in Richtung’ Süden aufnehmen. Über die Keplerbrüoke hinaus ist die Führung wieder in beiden Richtungen verlaufend vorgesehen. Südlich der Radetzkybrücke sollen die Straßen ebenfalls wieder in beiden Richtungen befahrbar sein. Die beiden Muruferstraßen bilden so nicht Teile einer Durchgangsstraße, wie es heute noch der Fall ist, sondern eine zügige innere Verkehrsverbindung zwischen südlichem und westlichem Gürtel und südlichem und nördlichem „Ring”. Mit den Muruferstraßen entstehen unmittelbare Tangenten der City, die einer schnellen Bedienung sowie Entleerung dienen. Damit werden die Voraussetzungen geschaffen sein, die ganze City oder Teile von ihr als Fußgängerbereiche auszubilden. Eine andere Entlastung und rasche Verbindung von City und Wohngebieten ist in Graz mit den heutigen gesetzlichen Möglichkeiten nicht zu verwirklichen.

Der umstrittene Abbruch im „Kälbernen Viertel”

Die Führung der beiden Straßenzüge am linksseitigen und am rechtsseitigen Murufer ist ebenerdig geplant. Nach einem Vorschlag der Grazer Stadtbaudirektion sollen im Zuge der Erneuerung der Hauptbrücke und der geplanten Anlage der linken Muruferstraße eine Reihe alter Giebelhäuser am linken Murufer, zwischen Hauptbrücke und Korbgasse, vor denen der Marbur- gerkai noch als Fußgängerweg verläuft, abgerissen werden. Ein Teil des „Kälbernen Viertels”, eines Büd und Fluidum der Altstadt bestimmenden Bereiches vor der Franziskanerkirche, diese umlagernd, soll also den „Notwendigkeiten des Verkehrs” geopfert werden. Wiederum die bauliche „Anpassung” an den Verkehr also, ein Einbruch in die Bausubstanz, die freilich von der Baupolizei als „abbruchsreif” erklärt und vom Grazer Gemeinderat bei einigem Widerstand beschlossen worden ist. Vier Objekte wurden bereits aus der Häuserfront am Marburgerkai herausgebrochen. Während der Abbrucharbeiten gab es heftige Proteste, nicht bloß von seiten der betroffenen Geschäfts- und Hausbesitzer. Einige Fachleute bezeichnen diese „bauliche Anpassung” als „brutalen Eingriff in den Organismus der Altstadt”. Im Gutachten von Professor Hebebrand vom 12. Juli 1965 heißt es: „Vom städtebaulichen Gesichtspunkt, der sich in diesem Fall fraglos mit dem Standpunkt der Denkmalschutzbehörde deckt, muß erklärt werden, daß es nicht zu verstehen wäre, die wunderbare alte Bebauung am Franziskanerplatz zum Fluß hin freizulegen. Es handelt sich hierbei um eine Maßstabfrage von höchstem Rang.”

Tatsache ist, daß die ebenerdig geführte Muruferstraße, über deren Funktion kein Zweifel besteht, die Peripherie des westlichen Altstadtbildes ungut verändern müßte; auch die Allee sowie die bisher noch verbliebenen Fußgängerzonen am Murufer müßten ziemlich verschwinden. Die leitenden Herren des Stadtbauamtes bedauern die „Notwendigkeit der Anpassung”, wissen aber keine andere Lösung, als dieses „letzte Opfer” zu bringen, um das Verkehrschaos in der Grazer Innenstadt zu steuern und um ihre Cityfunktion zu erhalten.

Ein neuer konstruktiver Vorschlag

Während die Auseinandersetzung um das Projekt noch tobt, hat in aller Stille der Vorstand der Lehrkanzel für Städtebau und Entwerfen an der Technischen Hochschule in Graz, Professor Dipl.-Ing. Hubert Hoffmann, einen neuen konstruktiven Vorschlag, gemeinsam mit dem Verein für Heimatschutz, ausgearbei- tet, dem der Generalverkehrsplan unverändert als Richtlinie zugrundeliegt, bei dessen Ausführung aber die geschilderten Nachteile vermieden würden und die Stadt eine den Baubestand betonende neue Promenade am linken Murufer erhalten würde. Diese neue Anlage könnte — ähnlich wie die berühmte „Lijnbahn” in Rotterdam eine Sensation für den Fremdendenverkehr werden, vor allem aber würde sie der Stadt ihren eigentlichen Charakter wieder zurückgeben. Professor Hoffmann möchte die linke Muruferstraße zwischen Keplerbrücke und Tegetthoffbrücke in einer anderen Ebene, unter die Erde verlegen, während darüber eine Promenade für den Fußgänger, mit reichlicher Begrünung, angelegt werden soll. Das im Auftrag des Vereines für Heimatschutz fertiggestellte Modell zum Vorschlag Professor Hoffmanns ist außerordentlich aufschlußreich und bietet als Diskussionsgrundlage gute Dienste an, Professor Hoffmann schreibt in seinem Expose zu seinem Vorschlag unter anderem:

„Wenn man die nach dem Generalverkehrsplan vorgezeichnete Muruferstraße unter dem Aspekt neuerer internationaler Erkenntnisse betrachtet, ist bei der ebenerdigen Führung der Straße noch der Gedanke einer Mischung von Fußgeher- und Fährverkehr zugrundeliegend. Die Muruferstraße wäre jedoch prädestiniert, eine jener notwendigen Citytangenten zu bilden, deren Aufgabe es ist, die Geschäftsviertel sahneil zu bedienen und zu entleeren. Eine Anlage, die demnach geeignet wäre, die City vom Verkehr zu entlasten und Fußgeherzonen zu ermöglichen. Um diesen Gedanken konsequent durchzuführen, ist eine völlige Kreuzungsfreiheit durch einen in einer anderen Ebene liegenden Straßenzug erforderlich. Bei ebenerdiger Führung der linken Muruferstraße würde die notwendige klare Differenzierung der Verkehrsarten nicht gegeben sein, auch würden die auf- und absteigenden Rampen eine unruhige Linie der Uferkais ergeben, die für das Stadtbild von Bedeutung sind.

Ein brutaler Eingriff

Wenn man den Gedanken einer vom fließenden und ruhenden Kraftverkehr weitgehend entlasteten Geschäftsstadt aufnimmt, ist die gegenwärtige Errichtung der Tiefgarage am Andreas-Hofer-Platz beispielhaft für die Fortsetzung solcher Tiefgaragen rund um die Geschäftsstadt. Die Tieflegung der linken Muruferstraße ergäbe die Möglichkeit einer direkten Einfahrt in die Garage am Andreas-Hofer-Platz und an drei weiteren Stellen, beim Alpenland-Kaufhaus, in der Nähe der Kepler- und der Radetzkybrücke. Auch ließe sich der Raum unter den Straßen neben der tiefliegenden Muruferstraße als Garagenstreifen nutzen. Der Vorteil verschiedener in ausreichendem Abstand vorgesehenen Garageneinfahrten, die später auch als unterirdische Zufahrten au einzelnen Fußgeherbereichen ausgebildet werden könnten, wären folgende: Neben den zwei normalen Fahrspuren ließe sich landeinwärts an den Stellen, die genügend breit sind, eine dritte Fahrspur anlegen, die als Belieferungsspur sowie als Zufahrt zu den Parkplätzen und Garagen dient.

Professor Hebebrand schreibt in seinem Gutachten: „… es wäre zu begrüßen, wenn die vorgeschlagene Unterführung der Uferstraße für den Hauptverkehr in südlicher Richtung unten bleiben könnte, unter der Tegetthoffbrücke hindurch, weil dann die wunderbare Fußgängerzone mit ihren Bäumen vor der Uferbebauung erhalten werden könnte. Das Profil der vorhandenen Uferböschung würde die Anlage einer Tiefstraße auf eine größere Länge erlauben.”

Di häßlichen Rohre der Femheizung, die jetzt die linke Uferböschung von der Hauptbrücke bis zur Tegetthoffbrücke verschandeln, würden im Hoffmannschen Vorschlag in’ die Konstruktion der Tiefstraße einbezogen, also unsichtbar werden. Um die Tiefstraße vor Hochwasser zu sichern, sieht die Lösung Professor Hoffmanns einen Staudamm zur Regulierung des Wasserstandes vor.

Eine Utopie?

Leitende Beamte des Grazer Stadt- planungs- und des Stadtbauamtes stehen dem Hoffmannischen Vorschlag noch skeptisch gegenüber: Er sei utopisch und unrealistisch; er habe zur Folge, daß die Mur bedeutend verengt würde, was ein rascheres Fließen der Mur, aber auch eine einschneidende Veränderung des Grundwasserspiegels, eine Unterhöhlung des Ufermauerwerkes und der Brückenpfeiler und anderes mehr verursachen würde. Auch sei die Straße nur über einen Altan zu führen, der die Mur überragt, weil die für eine ebenerdige Führung gegebene Breite, auch wenn man die Böschung einbezöge, für eine zweispurige Tiefstraße nicht ausreiche. Ob die Sanierung der noch verbliebenen Althäuser vor der Franziskanerstraße sich rentiert, sei sehr fraglich. Man verkenne freilich keineswegs den Wert der reizvollen Ansicht des „Kälbernen Viertels”. Auch wird, so argumentieren die Beamten gegen den Hoffmann-Plan, nichts über die Straßenanschlüsse gesagt und auch nichts, wo und wie die Tunnelstraße wieder ebenerdig auslaufe. Der Haupteinwand aber sei die Kostenfrage.

Für die Zukunft planen

So steht Plan gegen Plan. Es wird reiflicher Überlegung bedürfen, festzustellen, welcher auf weite Sicht der richtigere und bessere ist. Sicher ist, daß der Hoffmannsche Plan der zunächst kostspieligere sein wird. Ob er aber — für die Zukunft —, unter Einbeziehung aller sich mit seiner Durchführung ergebenden positiven Faktoren doch der rentablere sein wird, müßte wohl erwogen werden. Sicher ist auch, daß in beiden Fällen die Mur wieder ein sauberer Gebirgsfluß werden muß, der nicht wie jetzt als stinkender Kanal mit allen nur erdenkbaren Abfällen aus Industrie und Zivilisation beladen sich durch die Stadt wälzt.

Unsere Nachfahren werden uns verfluchen, wenn es uns nicht gelingt, heute die Voraussetzungen für die gesunde, auf den Menschen und seine natürlichen Bedürfnisse bezogene Entwicklung der Stadt zu schaffen, der Stadt, von der Hans Leifhelm, der Dichter, sagte: „…ich kam hinab in das Grazertal, und das Singen der über die Murwehren schäumenden Wasser noch vor Augen, betrat ich zum erstenmal die Stadt, die für mich ein Stück liebster Heimat werden sollte..

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung