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Die Stadt stiehlt den Reis

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DAICHI-HOTEL, 14. STOCK: Die kühle Luft aus der Klimaanlage hat den Kampf aufgegeben. Die feuchte Hitze sickert durch die Mauern und durch die Fenster. Von meinem Fenster aus sehe ich die Skyline von Tokio: Oben, im grauen Bett des Regenzeithimmels, Dutzende farbiger Fesselballons. Etwas tiefer die Konturen der Hochhäuser und der Werkskamine; tief unter mir ein Meer von Holzhäusern, die wie Zündholzschachteln aussehen.

..Von„ den-...Fesselballon niatbig Re klamefjrhrißo -mit den Namen. 4er ~gsoßen Firmen — Mitsubishi, Suni — in lateinischen und japanischen Schriftzeichen. Wenn es dunkel wird, werden die Firmennamen aufleuchten wie Festsprüche über der Stadt.

Hinter den Fassaden aus Glas, Marmor und Eisenbeton der Hochhäuser sind die Büros und die vollautomatisierten Werkstätten, die wie Schalthallen in utopischen Zukunftsfilmen aussehen. Wenn es dunkel wird, dringt das blaue Neonlicht aus den Sälen, in denen Tag und Nacht gearbeitet wird, durch die Boulevards des Stadtzentrums. Die Straßenbeleuchtung ist unnütz geworden und armselig und bloß Kulisse, wie bei uns die Gaslaternen in Grinzing.

Ganz unten, in dem seichten Meer aus Hütten, wohnen die 9,5 Millionen Menschen dieser Stadt. Am Himmel die Fesselballons der Firmen, darunter die scharfen Konturen der Hochhäuser, in denen man arbeitet, aber nicht wohnt, und zuunterst die unübersehbare Masse der kleinen Häuser, in denen sie leben: das ist die Skyline von Tokio, das ist das Bild von Japan.

Auf den japanischen Inseln leben 96 Millionen Menschen; in vier Jahren werden es mehr als 100 Millionen sein. Tokio hat heute 9 Millionen Einwohner. In fünf Jahren werden es an die 14 Millionen sein. Osaka, das glanzvolle Düsseldorf Japans, beherbergte im letzten Kriegsjahr eine Million Menschen. Heute wohnen mehr als zwei Millionen in der Stadt, in vier Jahren werden es fünf Millionen sein. An jedem Tag kommen in Osaka 140 Menschen zur Welt, aber es sterben nur 60. An jedem Tag kommen in Tokio fast 400 Menschen zur Welt — nur 170 sterben. Der Tod ist träge geworden in Japan wie in ganz Asien, das Leben wuchert wie Urwald.

ICH SPÜRTE DIE DICHTE DES LEBENS schon, als ich vom Flugplatz Haneda in das Zentrum von Tokio fuhr. Eine kompakte Masse von Menschen umgab mich wie Beton. Sie sind im Sommer uniformiert: dunkle Hosen, weiße Hemden, offener Kragen oder dunkle Krawatten. So fließen sie, ein Netz nicht versiegender Ströme, durch die Straßen von Tokio und stauen sich in den Büros, wo sie zu fünfzig oder hundert in einem Raum zusammensitzen, in den Lebens wie eine Gefahr und wie eine Krankheit. Später gewöhnte ich mich daran, wie die überfüllten Zügen, bei den Volksfesten in den nächtlichen Vororten. Nur drei oder vier Stunden in der Nacht, zwischen eins und fünf, werden die Ströme seichter, die Straßen ruhiger, und man kann frei ausschreiten, wie bei uns zu jeder Tages- und Nachtzeit. In meinen ersten Tagen in Tokio hatte ich Platzangst in dieser Masse Mensch. Und ich spürte die Dichte des Japaner daran gewöhnt sind, und ich fand es manchmal prickelnd, heiter oder faszinierend. Aber immer blieb das Gefühl der Bedroburhi Elnrf dieses Gefühl wohnt auch imüUufterfeewußd-sein des Japaners. Wohin sollen die Städte noch wachsen? Wo gibt es einen Weg aus der Masse hinaus für den schwellenden Überschuß, der noch zu erwarten ist?

Die Städte wachsen aufeinander zu. Manche sind schon ineinander verwachsen, wie Tokio mit Jokohama, Und wo die Stadt wächst, stiehlt sie den Reis. Es gibt zuwenig Platz füT die 96 Millionen Menschen in Japan und zuwenig Reis. Reisfelder und Häuserblocks kämpfen gegeneinander und versuchen ein-. ander vom Boden zu verdrängen. Reisfelder stehen bis an die Ufer der Häusermeere. Sie fressen sich entlang feuchter Straßen bis tief in die Zentren der Vorstädte, und die Städte fressen sich an anderen Stellen wiederum tief in die Reisfelder ein. Die feuchte Luft der Felder liegt dicht verwoben mit dem Ruß und mit dem Rauch aus den Fabriken über den Hütten und über den Hochhäusern. Und der Benzin-dampf aus der Stadt ist ständiger Untermieter der Landluft über den Reisfeldern an den Ufern der Städte.

Hier in Tokio und in ganz Japan ist die Übervölkerung kein politisches und kein akademisches Problem. 24 Stunden im Tag wohnt sie mit einem. Es gibt so gut wie keine Arbeitslosigkeit in Japan. Aber die Fabriken gehen von Menschen über. Es gibt Ansätze zu einem modernen System der Sozialversicherung. Aber schon in ihren Anfängen droht sie unter der Dichte der Menschen zu ersticken. Es gab eine beispielhafte Bodenreform in Japan, und der Reisbau wird mit immer moderneren Mitteln betrieben; in den letzten Jahren gab es Rekordernten. Aber mit jeder Handvoll Reis, die auf den Tisch kommt, scharen sich auch mehr Menschen um den Tisch.

ICH SUCHTE DIE JAPANISCHE LANDSCHAFT, die ich von alten Seidenmalereien her kenne. Ich fuhr im Luxuszug „Tsubame“ durch das Land. „Tsubame“ heißt Schwalbe. Er ist der schnellste und eleganteste Zug, den ich gesehen habe. Sie werden dort die Raketen, mit denen sie zur Weltraumschiffahrt starten, Schmetterling nennen oder Motte. Darin haben sie sich nicht geändert. Ich fuhr im „Tsubame“, ich fuhr auch im Lastwagen des Flachshändlers und auf dem zweirädrigen Karren des Reisbauern Auf beiden Seiten der Bahntrasse und der Land-traße, wo keine Häuser sind, ist Reis, Reis,

Rei- Jede kleine Lichtung im Wald, jeder Winkel Erde an der Wegkreuzung ist Reissumpf. Nur noch in Israel, im Sande des Negev, habe ich den Kampf des Menschen um jeden Quadratmeter Boden gesehen wie hier. Und doch muß noch Reis eingeführt werden — wie alle anderen Nahrungsmittel und Rohstoffe.

Es ist nicht nur zuwenig Boden da für die mehr als 90 Millionen Menschen, er ist auch unvorstellbar arm, und vieles von dem, was in den letzten 30 Jahren in Japan geschah — was geschieht und was noch geschehen wird —, hat hier seine Ursache. Das weiß man in Europa; aber man sieht, fühlt, erlebt es hier in Tokio und vor der Stadt, auf dem Kampfplatz zwischen Häusermeer und Reisfeldern.

Und doch ist die Übervölkerung in Japan anders als in den anderen Städten und Ländern Asiens. Dort ist sie stumpfe Verzweiflung und ein fatalistisches Sichfügen in ein Leben, das langsam ein Ersticken und Zugrundegehen ist. Hier in Japan ist ihr Gesicht springlebendig — und manchmal optimistisch. An den Abenden der unzähligen National- und Shinto-Feierlich-keiten wird sie zu einem rauschenden Fest.

AUF EINEM SOLCHEN FEST SPRACH ICH MIT DER STUDENTIN SUGA. Sie glaubt, daß es Möglichkeiten gäbe, der Übervölkerung die Schärfe zu nehmen: Geburtenkontrolle oder gewaltsamer Ausbruch aus der Begrenzung. — Und sie lehnt eigentlich beides ab.

„Wir können uns nicht vorstellen, wo in diesem Land in zehn Jahren noch Platz für unsere Kinder sein soll. Sie sagen, daß Geburtenkontrolle ein Ausweg ist. Aber dann ist es doch wieder kein Ausweg. Denn was hilft alle Sozialtheorie, wenn wir doch Kinder haben wollen; und nicht nur eines zur Parade. Und dann sagen andere, und sie sagen es geheim, daß die Wiedergewinnung der Gebiete, die wir einstmals hatten, ein Ausweg ist. Aber auch das ist kein Ausweg. Denn wir wollen nicht nur Kinder haben, wir wollen, daß sie am Leben bleiben.“

Sie sagt das nicht pathetisch, eher auf englische Art, leicht erheitert und unterspielend. Aber ich kenne schon den Tonfall und ich habe gelernt, in den Augen der Japanerin zu lesen. Ich weiß, es ist sehr ernst gemeint.

ICH SAH EINE DEMONSTRATION DER ..LINKEN“ in den Straßen von Tokio. Kommunisten. Sozialisten und die marxistische Geetecrtyo“ habetf cfT'zu Keiiie/ VbWs-“'fr'tfrft1 fegen “äen amänfkcH-jäpriflcT Sicherheilsvei u'ag vereint. Es waren nicht viele, die ich auf der Ginza demonstrieren sah. Höchstens zehntausend — aus einer Neunmillionenstadt. Sie verloren später auch die Entscheidungsrunde und konnten die Regierung an der Unterzeichnung des japanisch-amerikanischen Büncjnisses nicht hindern. Als ich sie sah, tanzten sie ihre Demonstrationen durch den größten Boulevard der Stadt und um die Regierungsgebäude.

Tanzten? Ja, in Japan demonstriert man tanzend. In faszinierendem und beklemmendem Rhythmus stampften sie, eng aufgeschlossen und in Schlangenlinien, das Pflaster; Burschen und Mädchen mit roten Stirnbändern, in denen mit japanischen Schriftzeichen „Ami go home“ stand. In jeder Sekunde konnte die Demonstration zum Volksfest werden — oder zu einem Amoklauf.

Ich konnte mir den eigenartigen Rhythmus dieser Demonstration nicht erklären, bis ich erfuhr, daß sie in demselben Schritt demonstrieren, in dem sie bei Shintoprozessionen die Schreine durch die Straßen tragen. Die Prozessionen sind ein stundenlanges Tänzeln durch die Straßen. — Fröhlich und ein wenig ausgelassen. Nur manchmal münden sie in Massenhysterie. Nach dem Ende der Feierlichkeit fallen die Tänzer müde in sich zusammen. — Von fünf Uhr früh bis spät in die Nacht spielten die jungen Menschen mit den roten Stirnbändern Schlangenreißen in den Straßen von Tokio. Nachdem die Führer der Demonstranten durch Lautsprecherwagen das Ende der Demonstration angeordnet hatten, gingen sie, müde, wie nach einem Tag auf dem Sportplatz oder auf der Festwiese, nach Hause.

Sie folgen den Anordnungen ihrer Führer, wie sie früher dem Befehl der Polizei gefolgt haben. Sie bringen ihre grenzenlose Loyalität den Gewerkschaften und den linksradikalen Bewegungen entgegen, die sie früher dem Kaiser zu Füßen gelegt hatten.

Am Tage nach der Demonstration kam ich auf den Perron der Hochbahn, knapp, nachdem ein junger Japaner Selbstmord begangen hatte. Hunderte von jungen Japanern standen um den schmächtigen Körper, der auf der Bahre lag. Später erfuhr ich den Grund zum Selbstmord: Nobusuke Aso war Lehrer gewesen und von seinen Kollegen zum Führer der Gewerkschaftssektion gewählt worden. Die linksradikale Lehrergewerkschaft bereitete den Streik vor. Als Lehrer schuldete Aso der Regierung Loyalität; als gewählter Gewerkschaftsfunktionär seinen .KJoRegen . und den Gewerkschaften. . Ails idjesetfi ,PjternroA' der, I^yalitätfen^uchteller den' Selbstmord als Ausweg.

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