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Digital In Arbeit

Die Zeitnorm des Sowjetbürgers

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Unter den verschiedenen Methoden der Messung menschlicher Arbeitsleistung nimmt die der Sowjetunion* in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein: sachlich gesehen für jede. Arbeitsvariante vom einheitlichen Schema, ist sie bezüglich ihrer Anwendung obligatorisch für jeden Wirtschaftsbetrieb und innerhalb desselben praktisch für jede zu leistende Arbeit (rein geistige ausgenommen), wirtschaftspolitisch, infolge der Zusammenfaßbarkeit der einheitlichen Leistungswerte, äußerst übersichtlich und in der Hand staatlicher Lenkung ein Hilfsmittel von ausschlaggebender Bedeutung, für den Arbeitnehmer aber Schicksal.

Die Grundlage dieser Leistungsmessung bildet die Zeitnorm, nichts anderes als ein für einen bestimmten Arbeitsgang gesetzlich vorgesehener Zeitaufwand, ausgedrückt in Stunden mit Dezimalgenauigkeit, beispielsweise etwa 1 Quadratmeter Zimmerdecke einmalig tünchen 0,32 Stunden, 1 Tonne Schmiedekohle bis 3 Meter weit sdiaufeln 0,23 Stunden, 1 Quadratmeter Holzdach verschalen 0, 22 Stunden, 1 Hektar Brache auf Einheitsfurche umpflügen 1,14 Stunden usw. Solche Zeitnormen wurden und werden meist im üblichen Zeitstudienverfahren am Arbeitsplatz mit Stoppuhr ermittelt; durch ihre gesetzliche Veröffentlichung erhalten sie dann Rechtsverbindlichkeit in jeder Hinsicht für die betreffenden Arbeitsgänge, wo auch immer diese auftreten mögen. — Um nun eine leichter verständliche normale Leistungsfähigkeit eines Arbeiters für den Tag festzustellen, wird die achtstündige Arbeitszeit durch den Zeitnormwert dividiert, der Quotient ergibt die zumutbare Leistung des Arbeiters in Quadratmetern, Kubikmetern, Tonnen usw. pro Stunde und wird Leistungsnorm genannt. — Aus der tariflichen Einstufung eines Arbeitsganges und aus der zugehörigen Zeitnorm wird schließlich durch einfache Multiplikation der einheitliche S t ü ck 1 o h n gewonnen. — Zeit normen, Leistungsnormen und Stücklöhne, tabellariidt für die einzelnen Branchen (Bauarbeiten, Spanabhebung bei Metallbearbeitung, Gießerei, landwirtschaftliche Arbeiten, Warenumschlag und Transport. Bergbau usw.) zusammengefaßt, ergeben auf dem Schreibtisch des Theoretikers immerhin einige ansehnliche Türme von Hand-

* Inwieweit die im Nachstehenden besprodiene Methode gesteigertet Arbeitsleistung auch schon in den von Moskau gelenkten Südoststaaten Anwendung findet, illustrierte an bestimmten Bei. spielen der Aufsat7 „Der rote Zeiger“ in Nr. 44 der „Furdie'' von St, Th. K o b i 1 i n s k i.

büchern, denn die Sowjetunion behauptet, für fast alle vorkommenden Arbeitsvarianten bereits staatlich gedruckte Normbücher, die sogenannten „Einheitsnormen“, zu besitzen. ^

Beim Auftrag jeder Arbeit muß der Betrieb dem Arbeiter die Leistungsnorm aus dem einschlägigen Normbuche bekanntgeben, damit er sich in Vorbereitung, Zeit- und Krafteinteilung, Erholungspausen usw. danach richten kann, denn — und das ist für ihn zunächst das Wichtigste — er ist dem Staate gegenüber verpflichtet, seine Leistungsnorm zu erfüllen, sie bedeutet für ihn sein Tagessoll. Bei Nichterfüllung drohen ihm Gefahren allerlei Schattierungen, die im Permanenzfall« zu einer Lebensfrage anwachsen: Belehrungen durch patriotische Mitarbeiter und Vorgesetzte, öffentliche Kritik in Wandzeitungen und Betriebsversammlungen, Verfahren wegen Arbeits-unlust, ja gestaffelte Herabsetzung der Rationen bei Gemeinschaftsverpflegung. Bei der Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit der meisten Arbeitsvarianten, denen nur allzuoft lückenhafte Normtabellen in der Praxis gegenüberstehen aus der Bewertung der leistungsbehindernden Umstände, der körperlidien Augenblicks- oder Dauerverfassung des Arbeiters, der Materialbeschaffenheit und aus zahllosen anderen Quellen entspringt nun eine Menge von Streitfällen zwischen Arbeitnehmer und Betrieb einerseits, zwischen Betrieb und den staatlich vorgesetzten Verwaltungsinstanzen andererseits, über deren Umfang, deren Art und Weise der Austragung am Arbeitsplatz, vor internen Schiedsgerichten, arbeitsrechtlidien Instanzen und dergleichen sich der Außenstehende keinerlei Begriff machen kann. Die ständige Furcht, besonders bei anstrengender Körperarbeit, seine Norm nicht erfüllen zu können, drückt wohl dem Leben der meisten Arbeiter einen Stempel auf. Daran ändert das auf dem Normprinzip aufgebaute, fleißig propagierte Stachanowsystem der persönlichen Leistungssteigerung unter Anwendung von Kunstgriffen nichts, da es sich bei hervorragenderen Stachanowern nur um Einzelfälle handeln knr.n; denn die große Masse bewegt sich um die mühsam erarbeiteten, erkämpften, zuweilen auch ergatterten oder dem guten Zufall zu dankenden täglichen Normalleistungen herum, die als „100 Prozent“ verbucht werden. Damit ist sein Ziel erreicht; vorausgesetzt, daß er versteht, den dauernden Aufmunterungen, daß er die Normalleistung ständig weiter überbieten solle, in unauffälliger Weise sein Ohr zu verschließen, wird er seine Ruhe haben und kann den zweiten Teil seiner Tagesenergie dem nicht minder wichtigen Problem des täglichen Lebens widmen. Mag den Arbeiter in früheren Zeiten noch der “bei über lOOprozentigen Leistungen rasch wadisende sogenannte „Progressivlohn“ gelockt haben, so garantiert in heutiger Zeit eine Lohnerhöhung an sich wie fast überall auch in der Sowjetunion noch keineswegs die Möglichkeit einer besseren Lebenshaltung, von .Ausnahmen abgesehen.

Dem einzelnen Betrieb, den übergeordneten Lenkungsinstanzen, im großen gesehen ^auch dem Staate selbst, bietet das System der einheitlichen Zeit-, beziehungsweise Leistungsnormen eine der wichtigsten Grundlagen für Vor- und Nachkalkulation, für Planungen und Erfüllbarkeitsberechnungen aller Art, ungeachtet dessen, daß der Wert eines solchen Leismngsmeßverfahrens um so problematischer wird, je ausgedehntere Verwendung es findet: wenn zum Beispiel bei Bauaufträgen gesetzlich höchstens 3 Prozent aller Arbeiten in Zeitlöhnen, also „ungenormt“, verrechnet werden dürfen, so ist es klar, daß sich hier irgendwo eine Zweckmäßigkeitsgrenze zeigen muß, deren Überschreitung aus vielen Gründen ohne Fehlberechnungen sowohl hinsichtlich der Löhne als auch der Selbstkosten nicht denkbar ist. Daß dabei der kleine Mann der Benachteiligte ist, verwundert weiter nicht, wenn man weiß, wie ungleich leichter sich, der Kampf nach unten als nach oben gerade in der Sowjetunion darstellt; das stolze Wort von der Krisenlosigkeit der sowjetischen Wirtschaft gewinnt sofort an Überzeugungskraft, wenn man sich jede drohende Großkrise in kleine Dauerkrisen des einzelnen aufgelöst und vorweggenommen denkt. Mag nun die Dauerkrise des sowjetischen Arbeiters ihre Wurzeln keineswegs lediglich in der übertriebenen Anwendung des Normgedankens haben, so ist der Schluß: Einheitslohn, Einheitskrise dennoeji nicht ganzt von der Hand zu weisen. Wenn die Staatsführung trotz einer hier kurz gestreiften Problematik und trotz der bei schrankenloser Leistungserzwingung unfehlbar auftretenden Qualitätsverminderung des Erzeugnisses an seinem Erfassungssystem menschlicher Leistung, beziehungsweise an .der derzeitigen Auslegung und Durchführung festhält, so wohl deshalb, weil es sich bereits als Instrument der Wirtschaftslenkung eingebürgert hat, jedem Untertan aber als Forderung des Staates in Fleisch und Blut übergegangen ist und schließlich die Durchschnittsleistung des Sowjetmenschen gegenüber dem früheren fraglos zu heben imstande war.

Während in der westlichen Welt — in einer Art weiteren Ausbaus des vielfach bewährten Akkordlohnsystems — das Problem der Arbeitszeiterfassung und die Verwendung der daraus entspringenden Resultate durchaus noch als im Stadium der Erforschung und des vorsichtigen Experiments angesprochen werden können, sind sie im Osten berei/ bedingungslos zu einer staatlichen Wirtschaftsraison herangereift und sanktioniert. Wie der Arbeiter vor dem Betriebe, so ist auch dieser nach obenhin verantwortlich, abrechnungs-pflichtig hinsichtlich der Normerfüllung im ganzen, denn der vorgeschriebene Produktionsplan stützt sich ja nicht zuletzt auf die Zeitnormen für die einzelnen Arbeitsgänge. Bei den außerordentlichen Anstrengungen* der sowjetischen Wirtschaft zur Leistungssteigerung auf jedem Gebiete bildet die Leistungskritik an den Werken, Betrieben, Lenkungsorganisationen, Ja selbst an den verantwortlichen Ministerien ein Hauptthema in Presse, Funk, im gesellschaftlich-wirtschaftlichen Leben überhaupt. Damit sei zwar eine positive Wirkung solcher öffentlicher Kritik, besonders in diesem Falle, noch keineswegs außer Diskussion gestellt, sie bietet aber ohne

Zweifel reichlich Gelegenheit, dem arbeitenden Staatsbürger die Uberzeugung zu festigen, daß nur im totalen Normsystem für ihn Gewähr gegen eine etwaige Ausbeute seiner Leistungen durch weniger klare und übersichtliche Fntlohnungsve*?-fahren bestehe. — So zieht sich als einer der roten Fäden durch den gesamten wirtschaftlichen Kreislauf der SU die Zeitnorm menschlicher Leistungsfähigkeit, und zwar mit einem Anwendungsbereich, wie er in der übrigen Welt kaum für die Maschine zutrifft. Sdion allein diese letztere Feststellung weist darauf hin, wie angebracht es erscheint, sich in diese Probleme zu vertiefen.

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