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Ein Gürtel von genormten Häusern

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Der fortschreitende Bahnbau führte zu einer leichteren Erreichbarkeit des administrativen und wirtschaftlichen Zentrums der Monarchie, so daß bald die überzählige Landbevölkerung von Böhmen und Mähren nach Wien strömte. Innerhalb der gesamten Gründerzeit Echnellte die Bevölkerungszahl der Donaustadt von 400.000 (1840) auf 2,2 Millionen Einwohner (1918) hinauf, wobei sich der Anteil der Vororte von rund 28 auf 50 Prozent erhöhte. Die dadurch entstandene Wohnraumnot veranlagte kapitalskräftige Unternehmer, und Baugesellschaften, sich um die Deckung der Nachfrage durch zahlreiche Neu- und Umbauten innerhalb und außerhalb der verwaltungsmäßigen Stadtgren- zen zu bemühen. Das schnelle Bau- und Bevölkerungswachstum Wiens erreichte seine Kulmination in der schon erwähnten „Hochgründerzeit“ (1870 bis 1890). In dieser Periode hatte sich bereits das Schwergewicht der Bautätigkeit in die Vororte jenseits des Linienwalls verlagert. Hier wurde ein breiter Gürtel von genormten Häusern geschaffen, die man in Schachbrettform anlegte und mit Klein- und Kleinstwohnungen versah. Während dieses Zeitabschnittes erhielt der Wiener Stadtkörper jene Ausdehnung, die er zum Ende des ersten Weltkriegs besaß.

Die „Bassenawohnung“ dominiert

Gerade diese flächenhafte Ausdehnung in den bis 1890 noch selbständigen 21 westlichen und südlichen Vororten konzentrierte sich in erster Linie auf den Bau von Gangküchen- häusem mit „Bassenawohnungen“ für Arbeiterfamilien. Sie unterschieden sich wesentlich von den bürgerlichen Miethäusern, bei denen damals die langen Korridore verschwanden. Die einzelnen Bürgerwohnungen waren ab jetzt von einem Stiegenpodest aus zugänglich. Hingegen wurden die dichtbevölkerten Klein- und Kleinstwohnungen der Vororte von den Werkswohn- blöcken in den randlichen Industriezonen unterboten, die überhaupt nur aus rohen Ziegeln bestanden. Zum Unterschied von den vorherigen Jahrzehnten machte sich nun in der Hauptgründerzeit eine schärfere Abgrenzung zwischen den Arbeiter- und Mittelstandswohnungen bemerkbar. Diese räumlichen Differenzierungen waren jedoch damals eine Allgemeinerscheinung.

In der Altstadt ging die Stadtbildung unentwegt weiter. Innerhalb von bloß zehn Jahren verringerte sich hier die Wohnfunktion der Unterkünfte von 83 Prozent (1880) auf 75 Prozent (1890). Die Geschäfts

Wien. Bauliche Gestalt und Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Böhlau-Verlag, Graz-Köln, 1966.

lokale begannen nämlich angesichts des Platzmangels den ersten und zweiten Stock zu beschlagnahmen. Im Stadtkern war zudem eine gigantische Steigerung der Bodenpreise zu verzeichnen. Durch rücksichtslose Demolierung des Althausbestandes wurde erstmals in das mittelalterliche Straßennetz eingegriffen, wobei die Hauptgeschäftsstraßen mit sechsgeschossigen Häusern die Vorbilder des radikalen Umbaues wurden. Der Textilgroßhandel ließ sich im Salzgries- und Kaiviertel nieder, während die bisher im Raum Herrengasse-Freyung stationierten Banken in das neuentstandene Börsenviertel übersiedelten. Überhaupt setzten sich die repräsentativen Funktionen meistens an der neuen Ringstraße fest. Die Aufwertung der Altstadt kann auch daran gemessen werden, daß die Zahl des Dienstpersonals weiter zunahm, während da gegen in den Vorstädten der Anteil von Haushaltshilfen schon längst kleiner wurde.

Zwischen Ringstraße und Linienwall (erst nach 1890 entstand die heutige Gürtelstraße) waren jedoch Ausmaß und Form der Bautätigkeit unterschiedlich. In den Bezirken Leopoldstadt, Wieden und Landstraße ging man zum Beispiel daran, zahlreiche ParV und Gartenan-

lagen schachbrettartig zu verbauen. Die Hauptachsen der westlichen Gewerbeviertel dagegen, wie beispielsweise die Mariahilferstraße, wurden zu Hauptgeschäftsadem umgestaltet, indem die Bauten im Hinblick auf den Raummangel in die Höhe auswichen. Im Hintergrund aber machte sich die Hinterhofindustrie breit, da im verbauten Wohn- bereich zusätzlich viele Fabriksbauten entstanden. Eine Nachblüte erlebte hingegen das Palastviertel um das Belvedere, als etliche Prunkgebäude dies Geldadels und der ausländischen Botschaften diese Zone als Standort wählten. Um das Allgemeine Krankenhaus siedelten sich bis zum Linienwall verschiedene Wohlfahrtseinrichtungen an, wie überhaupt in den Vorstädten eine rege kommunale Neubautätigkeit von Schulen und Spitälern beobachtet werden konnte. Jedenfalls waren am Ende der Hochgründerzeit die inneren Bezirke fast zur Gänze verbaut. Noch nicht dafür verwendete Restgebiete verblieben zwischen Ost- und Aspangbahn, und auf der Erdberger Lände, in der Roßau sowie am Außensaum der Leopoldstadt hielten sich weiterhin einige Gemüsegärtner.

Nun kommen wir zu den Vororten: Hier dehnte sich die Stadt nicht nur in den benachbarten Gewerbe- und Wohngemeinden des Westens flächenhaft aus, sondern nahm ebenso auch in Favoriten und in den nach der Donauregulierung vor Überschwemmungen gesicherten Zonen (Leopoldstadt und Brigittenau) Rasterformen an. Darüber hinaus bildeten sich entlang der Ausfallstraßen, zum Beispiel in Floridsdorf, beachtliche Wachstumsspitzen sowie Ansätze einer randlichen Industriezone (Simmering und Floridsdorf). Aber auch in anderen, von den neuen Donaubrücken erschlossenen Marchfeldorten, wie Kagran und Stadlau, entwickelten sich Ansätze einer städtischen Wohnbauentfaltung. Am Laaer- und Wienerberg hingegen vergrößerten sich die von den Ziegeleibetrieben beanspruchten Flächen, denn die Baukonjunktur förderte kräftig die Baustoffindustrie.

Bauliche Spitzenleistungen

Der enorme Baustoffbedarf ist gar nicht so erstaunenswert, denn die Gründerzeit erbrachte die gewaltige Bauleistung von 450.000 Wohnungen und prägte damit entscheidend die

Lebensweise eines Großteils der Wiener Bevölkerung bis zum heutigen Tag. Die Vorstädte erlebten eine soziale Aufwertung: an Stelle der niederen Häuser mit Kleinwohnungen traten vielfach vier- und fünfgeschossige Mietpaläste mit einer sozialen Differenzierung in einen Vorder- und Hinterhaustrakt. De Anteil der Mittel- und Gr o'? Wohnungen vergrößerte sich hier von SO auf

43 Prozent! Ganz anders sah es jedoch in den Vororten aus, wo der breite Gürtel von 280.000 Klein- und Kleinstwohnungen mit geringstem Komfort insgesamt 84 Prozent des dortigen Wohnbestandes ausfüllte. Die Stadtplaner der Gegenwart gaben diesem überlieferten städtebaulichen Erbe der Gründerzeit die etwas pathetische Bezeichnung „würgender Gürtel von Klein- und Kleinstwohnungen“. Generationen nach uns werden sich nämlich noch bemühen müssen, diese Produkte eines liberal-kapitalistischen Zeitgeistes durch Unterkünfte mit einem höheren Lebensniveau zu ersetzen.

Es gab für das Entstehen eines solchen Wohnkulturen belastenden

Stadtgürtels mehrere Gründe. Der gewaltige Umfang des Bevölkerungszuzugs machte im Hinblick auf dia angespannte Situation der Wohnungswirtschaft wahrscheinlich gar keine andere Lösung möglich. 1/ erkennt das daran, daß selbst dia sozialdemokratische Stadtverwaltung nach 1918 genötigt war, den Zeitumständen entsprechend den kommunalen Wohnungsbau auf zwar weitaus komfortreichere,. aber dennoch kleine Volkswohnungen zu beschränken. Außerdem, so wird mitunter auch behauptet, stellten selbst dia Zinskasernen für die zugewanderten, anspruchslosen Sozialschichten einen Wohnkulturellen Aufstieg dar, denn von ihren armseligen ländlichen Behausungen waren sie viel schlechtere Verhältnisse her gewöhnt.

Die Kehrseite des Lebens

Die verstärkte Nachfrage nach Wohnungen brachte selbstverständlich Steigerungen der Mieten mit sich, die 1870 bereits eiin volles Viertel eines Arbeiterlohnes beanspruchten. Da angesichts dieser Bedingungen die Miete oft nicht bezahlt werden konnte, ergab sich eine außer ordentliche Mobilität der Mietparteien. In der Spätgründerzeit (1890 bis 1918) war tatsächlich im Durchschnitt ein Drittel (!) aller Mietparteien stets gerichtlich gekündigt. Natürlich konnte das keineswegs zur Seßhaftigkeit und Verwurzelung des Proletariats beitragen. Und außerdem führten diese Umstände zu einem Überbelag der Wohnungen mit Untermietern und Bettgehem. Im Jahre 1869 setzten sich so die Haushalte Wiens zu 42 Prozent aus familienfremden Personen zusammen, und in Ottakring war 1890 ein Viertel der ohnedies kleinräumigen Zimmer-Küche-Wohnungen mit sechs bis zehn Personen belegt.

Heute, da wir noch immer in Wien

210.000 schlechte ,,BassenaWohnungen“, ohne Wasseranschluß und Abort im Innerjn, aus der Gründerzeit zählen, klingt uns das Lieblingslied eines Wiener Radio- und Fem- sehstars recht seltsam ins Ohr, das mit de,m Refrain endet: „Wenn ich der Herrgott war’: so a Zeit müßt’ wieder her, so a Zeit!“

Man,, sollte diesem Mann das neue Wien-Buch von Bobek-Lichtenber- ger zum Pflichtstudium schickes.

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