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Ein städtebauliches Problem

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Der Wettbewerb, den die Grazer Ver-kehrsgesellschaft zur Erlangung von Entwürfen für ein Großbauvorhaben auf dem Grazer Jakominiplatz ausgeschrieben hat, ist geeignet, das Interesse weiter Kreise erneut auf ein gewichtiges städtebauliches Problem zu lenken. Die Situation ist kurz folgende: Die Grazer Hauptgeschäftsstraße des Stadtzentrums — die Herrengasse — mündet in den Bismarckplatz. An diesen schließt sich unmittelbar, getrennt nur durch ein einstöckiges langes Geschäftshaus, der Jakominiplatz, der Verkehrsknotenpunkt der steirischen Hauptstadt, an. (Siehe beigefügte Skizze.)

Daß der Teil zwischen J a k o m i n i-und Bismarckplatz in der gegenwärtigen Form städtebaulich ungelöst ist und das vorhandene architektonische Vakuum an dieser entscheidenden Stelle einer dringenden Korrektur bedarf, weil es einer großen Stadt wie Graz unwürdig ist, wird von niemandem geleugnet. Die Idee, an dieser Stelle einen Großbau zu errichten, ist durchaus nicht neu. Bereits um die dreißiger Jahre wurde über ein Hochhausprojekt in der Achse der Herrengasse, dessen Entwurf von Oberbaurat Leopold Bauer stammte, viel diskutiert. Die Ausführung scheiterte an verschiedenen Finanzierungsfragen — zum Segen des Grazer Stadtbildes. Nunmehr hat die Grazer Verkehrsgesell-sdiaft die Initiative ergriffen, für das Terrain zwischen Jakomini- und Bismarckplatz ein Bauvorhaben zur Ausschreibung zu bringen, das nicht nur die für ihre Zwecke notwendigen Büros, Betriebsräume, Verkehrsbüro und Kassenhalle in unmittelbarer Nähe des „Straßenbahnhofes“ von Graz, dem Jakominiplatz, enthalten soll, sondern das gleichzeitig ein bisheriges, vielbesuchtes Kaufhaus, einen mittelgroßen Saalbau oder ein Lichtspieltheater, ferner vermietbare Wohnungen und schließlich einen Kaffee- oder Restaurationsbetrieb aufzunehmen geeignet erscheint.

Die eingereichten Arbeiten stellen einen wertvollen Beitrag zur Klärung der städtebaulichen und verkehrstechnischen. Lösung des Grazer Stadtzentrums dar. Es fehlt jedoch d i e Lösung schlechthin, die in jeder Beziehung restlos befriedigt. Das Preisgericht brachte diesen Mangel dadurch zum Ausdruck, daß es von der Verleihung eines ersten Preises Abstand nahm.

Das eigentliche Problem, das durch den Wettbewerb aufgeworfen wird und in seiner Bedeutung durchaus nicht untersdiätzt werden darf, ist ein städtebauliches. Hier ist die Möglichkeit geboten, zwei großen Plätzen der Grazer Innenstadt Form zu geben, das heißt sie tatsächlich als „Plätze“ auszugestalten. Gegenwärtig ist der Jakominiplatz kein „Platz“, sondern eine „Gegend“. Seine architektonische Wirkung ist chaotisch, die merkwürdige Stellung der ihn begrenzenden Häuserfronten nur jenen alten Grazern verständlich, die die Grazer Stadtgeschichte kennen und wissen, daß diese Hausfronten dem Zuge der alten Basteianlagen folgten.

In dieses Chaos Ordnung zu bringen, ist nur auf zweierlei Weise möglich: entweder durch radikale Abrisse und Neubauten oder dadurch, daß durch geschickte Disposition der Baumassen des neuen Projekts, vor allem durch die Differenzierung in der Höhenerstreckung und ihrer rhythmischen Gliederung, die bestehenden Ungelöstheiten unterdrückt und optisch in den

Hintergrund gerückt werden. Der zweite Weg wird von den meisten Projektanten mit Erfolg beschritten. Aber auch der erstere Weg zeigt erfreuliche grundsätzliche Auseinandersetzungen mit dem Problem des „Platzes“.

Ein Platz ist — nach dem klassischen Kanon — nichts anderes als ein „Raum“, dessen obere Begrenzung der Himmel ist. Das heißt, daß für ihn die gleichen Gesetze von Proportion gelten wie für den allseitig geschlossenen Irmenraum. Ein weiteres Kriterium des klassischen Platzes, wie er im antik-griechischen Städtebau und in der italienischen Renaissance seine vollkommenste Ausbildung erfuhr, ist, daß er nicht wie zahlreiche moderne Plätze in der Erweiterung einer Straße besteht, sondern tangential an eine Hauptverkehrsstraße angeordnet ist, so daß der Verkehr gewissermaßen n eh e n ihm vorbeiflutet. Ergab sich diese Form im griechischen Städtebau in erster Linie aus dem Zweck, den die Plätze als Marktplätze besaßen, so vergeistigte die Renaissance diese Raumtendenz, indem sie ihre Repräsentationsbauten, ihre Plastiken und Brunnen, an solche ruhige Plätze, die durch die Gliederung ihrer Baumassen zu vollendeten Kunstwerken wurden, verlagerte. Gewöhnlich wurde ihre Wirkung durch Hinzufügen eines kleineren quergestellten Platzes noch gesteigert. Wo dieses Kompositionsprinzip in aller Strenge durchgeführt wurde, etwa in der Anlage der Piazza und der P i a-zettainVenedig oder der Piazza della Signoria und den „Uffizien“ in Florenz, entstanden Platzräume, die schlechthin als vollendet bezeichnet werden müssen. In Österreich weisen nur wenige Plätze diese strenge Tendenz auf. Der Josefsplatz i n W i e n besitzt sie und der D o m p 1 a t z in Salzburg. Graz besitzt keinen Platzraum, der die Geschlossenheit dieser Platz-anlagcn aufweisen würde. Der Hauptplatz kommt ihnen nahe, wenn er nicht durch den Bau des Neuen Rathauses verunstaltet und in seinem Maßstab gesprengt worden wäre.

Ein wesentliches Moment für die Ge-sdilossenheit der Platzwirkung ist ferner, daß die einmündenden Straßen die Platzwände nicht allzu stark aufreißen. Durch die breiten modernen Verkehrsstraßen entstand im Städtebau des 19. Jahrhunderts der

„Sternplatz“, auf dem mehrere Straßen zusammenlaufen, der aber, wie die Place de Petoile in Paris, im eigentlichen Sinne keine Platzanlage mehr bedeutet.

Nach diesen strengen Gesichtspunkten an die Neugestaltung des Bismarck- und des Jakominiplatzes heranzutreten, würde tiefgreifende Maßnahmen erforderlidi madien. Daß sich einige Projektanten trotzdem damit besdiäftigen, ist zumindest theoretisch von Wert und verdient Beadnung.

Die Beschäftigung mit dem Thema wirft zwangsläufig die Frage auf, die audi in den eingereichten Projekten entsprediend zum Ausdruck kommt, ob einer Vereinigung der beiden Plätze oder deren strenger Trennung der Vorzug gegeben werden soll. Für die erstere Lösung spricht die Tatsache, daß hier die einmalige Mög-lidikeit gegeben wäre, als Absdiluß der Hauptstraße von Graz, der Herrengasse, einen großzügigen, räumlich geschlossenen, das heißt als Freiraum gestalteten Platz zu verwirklidien. Diese Tendenz zeigen zahlreiche Projekte, die gedanklich zwar riditig erfaßt sind, jedoch durch die Verteilung der Baumassen keine glücklidie architektonische Gestaltung der Platzwände darstellen. Gegen diese Lösung spricht die derzeit für eine Platzanlage nicht genügend gefaßte Umgrenzung des Bismarckplatzes, der nur als trompetenförmige Erweiterung der Herrengasse in Erscheinung tritt.

Die zweite, gegenteilige Möglichkeit ist die räumliche Trennung beider Plätze durch eine geschlossene Gebäudewand, wie sie in den prämiierten Projekten vorgesdilagcn wird. Diese Lösung besitzt den Vorteil, daß zwei in sich geschlossene Platzanlagen entstehen, von denen der erste, der Bismardtplatz, als ruhiger Abschluß der Herrengasse erscheint, während der Jakominiplatz den Charakter eines ausgesprochenen Verkehrsplatzes erhalten würde.

Eine dritte Möglichkeit, die Vereinigung beider Tendenzen, wäre dadurdn gegeben, daß Bismarck- und Jakominiplatz zwar räumlich miteinander verbunden, jedoch durch eine niedrige Architektur, etwa in Form gärtnerischer Gestaltung mit einer Säulenhalle oder Pergola, optisch getrennt werden.

Die Abriegelung der beiden Plätze ist U den meisten Projekten insofern nicht glüd-lich gelöst, als die Baukörper im allgemeinen zu hoch geplant wurden und dadurd der gesdilossene Charakter der Innenstadt gesprengt wird, deren Einheit auch durch die fünfgeschossige Verbauung des ehemaligen Joanneumgartens aus dem Ende des 19. Jahrhunderts noch gewahrt ersdieint.

Am beachtlichsten sind jene Lösungen, die das „H o c h h a u s“, das in der Ausschreibung gefordert war, aus der Blickriditung der Herrengasse abrückten und auf diese Weise die dominierenden Vertikalen, die durch den sdiönen, spätbarocken Turm der Stadtpfarrkirche und die frühbarocke Mariensäule gegeben sind, in ihrer aufstrebenden Wirkung nicht beeinträchtigen. Ein hoher Baukörper, der sich senkrecht än den Riegelbau zwischen Jakominiplatz und Bismarckplatz anschließt, besitzt den Vorteil, daß er von der Seite der breiten Anlage des Opernringes und seiner architektonisch ruhigen und geschlossen wirkenden Häuserfronten aus dem Beginn des vorigen Jahrhunderts gegen Norden eine sehr feine Abgrenzung besitzt. Er erfährt durch diesen Baukomplex einen räumlidien Abschluß gegen Westen, der gleidizeitig als Blickfang dient, wenn er den guten Rhythmus, der in den Fensterachsen der bestehenden Häuserfronten begründet liegt, aufnimmt und nicht durch allzu große Höhe den Maßstab sprengt. Von selten des Jakominiplatzes ist er ein ordnendes Element, das geeignet ist, durch seine dominierende Wirkung manche Ungelöstheit, die in absehbarer Zeit • wohl kaum behoben werden kann, abzuschwächen.

Hochhäuser sind aber eine Mode von gestern. In den zwanziger bis dreißiger Jahren hatte jede größere Stadt den Ehrgeiz, ein Hochhaus zu besitzen. Die Ausführung solcher Bauten wurde in vielen Fällen bald bedauert, besonders dort, wo durch das Vorhandensein alter Türme genügend interessante Höhenerstreckungen im Stadtbild vorhanden waren, die in ihrer Wirkung durch den breiten und hohen Gebäudekomplex eines Hochhauses meist empfindlich abgeschwächt, wenn nicht gar unwirksam gemacht wurden. Selbst die USA, das klassische Ursprungsland des Hochhauses, geht in seinen neuesten Bestrebungen vom Hochhaustypus ab. Frank Lloyd W r i g h t, der große amerikanische Architekt, ist zu einem leidenschaftlichen Verfechter der Flachbauweise geworden, und Le Corbusier, der bedeutendste europäische Propagandist des Hochhauses, sieht seine Berechtigung auch nur dort, wo es in größerer Zahl, also in rhythmischer Reihung, am Rande der Großstädte in gärtnerisch gelöster Umgebung gestellt, auftritt. Vor s ein e r Iso 1 i e ru n g i n m i 11 en einer alten Stadt kann nicht genug gewarnt werden.

Die Gestaltung der Fassaden in den eingereichten Projekten weist fast durchwegs eine Härte auf, wie sie für die Architektur der dreißiger Jahre bezeichnend war. Das Baugesicht der meisten Projekte hat industriellen Charakter, aber auch dort, wo der Büro- oder Warenhauscharakter gewahrt ist, ist er mit Mitteln erreicht, die heute überholt sind. Wären solche Lösungen etwa im Bahnhofviertel noch denkbar, würde man am Bismarck- und Jakominiplatz eine Gestaltung begrüßen, die den verhältnismäßig einheitlichen Rhythmus der Grazer Straßenwände und vor allem deren Maßstab aufnimmt und mit modernen Mitteln fortsetzt.

Beachtenswert ist aber die Tatsache, daß die offizielle Architektur des Dritten Reiches völlig aus den Herzen und Hirnen der österreichischen Architekten verschwunden zu sein scheint — wie dieser Wettbewerb mit eindeutiger Klarheit zeigt. Waren bei den vorjährigen Wettbewerben zur Neugestaltung des Stephansplatzes und Karlsplatzes in Wien noch zahlreiche Fassaden zu bemerken, deren Haltung an Kasernen oder Parteibauten des Dritten Reiches erinnerte, ist in dem nun zum Absdiluß gelangten Wettbewerb nicht ein einziges solches Projekt zu verzeidinen. Darin liegt zweifellos' ein Fortschritt in der Ehrlichkeit gegenüber der gestellten Aufgabe, nämlich sie von der Funktion her zu bewältigen.

Der nädiste Schritt wird sein müssen, der Architektur ein modernes österreichisches Baugesicht wiederzugeben. Das bedeutet in diesem Fall, daß eine bescheidenere Einbindung des Neubaues in den Stadtorganismus notwendig sein wird. Es ist zu hoffen, daß bis zur Bauausführung, mit der trotz aller Sdiwierigkeiten bald begonnen werden soll, die Projekte in diesem Sinne eine Ausreifung erfahren.

Beaditlich ist, daß bei den meisten Entwürfen zumindest versucht wird, den Maßstab von Graz zu wahren und nicht, wie etwa bei den Neuplanungen Hitlers für Linz, durch Großmannssucht den Maßstab zu sprengen. Dort bilden die zu breite und zu hohe neue Donaubrücke, der Auslauf ihrer Rampen bis weit in den gut proportionierten Hauptplatz der Altstadt und die baumassenmäßig überspitzten Brückenkopfbauten irreparable Ubersteigerungen, die mit dem Maßstab der alten Hausfassaden keine organische Einheit eingehen können.

Trotz aller wertvollen Anregungen, die dieser Grazer Wettbewerb gebradit hat, und trotz aller guten Lösungen des Verkehrsproblems am Jakominiplatz, auf dem sämtliche Grazer Straßenbahnlinien zusammentreffen, madit sich e i n großer Mangel bemerkbar: nämlich, daß es nicht möglich ist, einen geglückten Wiederaufbau oder die

Neuplanung eines Teilgebietes einer Stadt in Angriff zu nehmen, ohne daß vorher von übergeordneter Stelle aus eine grundsätzliche Klärung sämtlicher städtebaulicher Probleme erfolgt, die in einem G e-neralbebauungsplan ihren Niederschlag finden müßten. .Nur von einer Generalbereinigung der Mängel eines Stadtorganismus ausgehend, besteht die Möglichkeit, auch die Detailpunkte sinnvoll, das heißt als gestaltete Teillösungen, mit größerer Vollkommenheit in den Stadtorganismus einzubauen.

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