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Ein unbekanntes Bauwerk Anton Pilgrams

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Daß man von dem berühmtesten gotischen Meister Wiens heute noch neue, unerkannte Werke finden kann, mitten im Herzen der Stadt, klingt überraschend. Und doch darf der Verfasser es zum zweitenmal behaupten. Kanzel und Orgelfuß von St. Stephan mit den unvergeßlichen Selbstbildnissen des alternden Meisters, der, 1511 aus Brünn nach Wien gekommen und zum Dombaumeister berufen, bis 1515 hier gewirkt hat und in diesem Jahr gestorben zu sein scheint, haben seinen Ruhm lebendig erhalten. Ihnen haben wir vor einigen Jahren ein großartiges Relief mit der Martinsmesse angeschlossen: die untere Hälfte des Grabmales für den 1512 verstorbenen Rektor und Professor Johannes Keckmann innen an der Westwand des Domes.

Diesmal ist es ein Bauwerk, und zwar die Kapelle des Wiener Landhauses in der Herrengasse. Sie bildete einst die Toreinfahrt des südlichen, gegen die Minoritenkirche hin gelegenen Traktes und ist erst durch den Neubau und Umbau Ludwig Pichls seit 1837 in eine „romantische“ Kapelle mit durchscheinenden Glasbildern an der Altarwand verwandelt worden.

Man hat diese Halle und zwei weitere rippengewölbte Räume, die „Pförtnerstube“ neben der Einfahrt und das „Gotische Zimmer“ im ersten Stock, für Reste des alten Liechtensteinschen Freihauses gehalten, das die niederösterreichischen Landstände im April 1513 erwarben. Demgegenüber hat Rupert Feuchtmüller in seinem neuen Buch über das Landhaus die Meinung vertreten, daß dieser Quertrakt erst nach 1513 von den neuen Bauherren errichtet wurde, um sich in der gegen die kaiserliche Hofburg gelegenen Front ein würdiges Tor und über ihm den großen Versammlungssaal zu schaffen, dessen die Stände bedurften und der, mehrfach umgestaltet, noch heute besteht.

Da sich an dieser Front oberhalb des Portals das inschriftliche Datum 1516 gefunden hat, setzt Feuchtmüller die Erbauung des Traktes in die Jahre zwischen 1513—1516. Er stützt seine Ansicht durch den Hinweis auf zahlreiche niederösterreichische Stilbeispiele aus den Jahren um 1510—1520, darunter auch die Ähnlichkeit der Torhalle mit Kanzel und Orgelfuß und mit einem Altarbaldachin in St. Stephan, der dem Dombaumeister Gregor Hauser (ab 1515) zugeschrieben wurde. Auch bei dem gotischen Zimmer erwähnt er dessen Namen und vermutet die Dombauhütte am Werk. Bisher hatte man in jenen Jahren nur eine Erneuerung des alten Hauses durch den Steinmetzmeister Hans Traubinger angenommen, der zwischen 1513 und 1518 einen Vertrag erhielt, Fenster, Türen, Böden und Scheidemauern auszuführen.

Nun werden zwar erst neue Untersuchungen Feuchtmüllers auf Grund exakter Vermessung feststellen, ob bei dem Unternehmen der Stände nicht doch Hauptmauern aus älterer Zeit wiederverwendet wurden, was uns nach dem Befund möglich scheint. Aber richtig und bahnbrechend ist ohne Zweifel Feuchtmüllers Datierung der gotischen Landhausräume in das zweite Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts, vor allem sein Hinweis auf den Orgelfuß. Nicht Gregor Hauser, sondern sein Vorgänger, Pilgram selbst, hat für die Landstände gewirkt und den Entwurf für den Neubau oder Umbau geschaffen.

Wir erinnern uns daran, daß Pilgram 1515 vom Dom verschwindet und durch

Gregor Hauser ersetzt wird. Ähnlich scheint es nun auch beim Landhaus gewesen zu sein. Der Nachfolger, der Pilgrams Plan dort weitergeführt hat, könnte jener urkundlich genannte Hans Traubinger sein.

Es ist die Übereinstimmung der Torhalle mit zwei, nur mehr in Abbildungen erhaltenen Arbeiten in Brünn, darunter einem Stiegenhausgewölbe, und mit dem Orgelfußgewölbe in St. Stephan, die unsere Zuschreibung an Pilgram begründet. Wie dort, handelt es sich auch hier um bewegte Rippenformen in kurvigen und sphärischen Liniensystemen, die sich in wunderbar fließender Weise ineinander verflechten. Sie zeugen für einen phantasiereichen und rhythmisch unerhört lebendigen Geist. Hierin kann nur der Prager Baumeister Benedikt Rieth sich mit Anton Pilgram von Brünn vergleichen. Der Betrachter kann unter solchen Decken keine Ruhe gewinnen: sieht er eine Zeitlang empor, so beginnt das Ganze zu wogen: immer neue Bahnen muß das Auge verfolgen. Verschiedene Rippensysteme leiten ineinander über. Bald sind es keulenförmige, halbrundschließende Gebilde, die von den Pfeilern zur Mitte aufsteigen und gehälftet sich an die Wände lehnen, bald quer über den Raum von Pfeiler zu Pfeiler ziehende S-Linien, dann wieder doppelt geschwungene Wellenbogen, die sich in der Mitte überschneiden. Diese Systeme durchdringen einander und bilden in der Scheitellinie Formen, die man wieder als selbständige Zentralmotive, als Kreise mit eingesdirie-benen sphärisdien Quadraten ansehen kann. Dazu treten die verschiedenen tiefen Profilierungen, die sich an den Kreuzungsstellen der Rippensysteme in ihrer obersten Schicht wie Stabwerk verknüpfen und die polyphone Stimmführung noch reicher differenzieren — ein geniales Spiel, das zugleich fesselt und beunruhigt. Denkt man noch die einstige Beleuchtung hinzu, als das Licht nur von den beiden Schmalseiten her kam und wechselnde Helligkeitszonen schuf (woran eine alte Abbildung Wilders noch erinnert), dann wird man die hohe Schönheit dieser spätgotischen Wölbekunst ahnen, von der freilich nur das Original selbst einen Eindruck zu geben vermag. Wer, von der Landhauskapelle nach St. Stephan wandernd, unter den Orgelfuß tritt, wird in seinem Traggewölbe nicht nur im einzelnen gleiche Systematik und Form, sondern auch die gleiche Stärke der Persönlichkeit spüren.

Unsere Stilbestimmung hat nun aber sogleich eine überraschende Bestätigung gefunden. Feuchtmüller hatte, auch hierin die Bahn öffnend, auf einen Riß in dem berühmten Planbestand der Wiener Dombauhütte, den die Akademie der bildenden Künste als einzigartigen Schatz bewahrt, hingewiesen und ihn als Vorbild für die Toreinfahrt vermutet. Unsere Zuschreibung der letzteren an Pilgram baten wir nun Bruno Grim-s c h i t z, den Puchsbaum-Monographen und besten Kenner des Bestandes, zu überprüfen. Und dieser hat, zustimmend, daraufhin eine ganze Gruppe der bisher anonymen Risse den zwei bisher bekannten Blättern als Pilgram-Origi-n a 1 e hinzufügen können, darunter auch den Entwurf für das Torhausgewölbe, über diesen zweiten Fund, der den Baumeister Pilgram in einem neuen Licht erscheinen läßt und unter anderem auch die beiden übrigen gotischen Räume im Landhaus als ihm gehörig nachzuweisen erlaubt, wird der Entdecker selbst berichten.

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