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Europäisches Verkehrsproblem Brenner

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„Heute, auf dem Wege zu einem geeinten Europa und im Bewußtsein der großen Gegensätze zwischen der westlichen und östlichen Welt, ist es geradezu eine Pflicht der europäischen Staaten, alles zu tun und nichts zu unterlassen, was dazu beiträgt, das freundschaftliche Verhältnis und die guten Beziehungen zwischen diesen Staaten zu fördern." (Landeshauptmann Dr. Hans Tschiggfrey am 19. Februar 1959.)

Dieser dritte Beitrag über dasselbe Thema stützt sich auf seine beiden Vorgänger in der „Furche" Nr. 29 vom 17. Juli 1956 und Nr. 8 vom 23. Februar 1957, auf Dr. techn. August Dreßlers „Studie über eine Massengüter- und Schnellbahn München—Verona", Heft 6/1953 Oesterreichische Bauzeitschrift, Springer-Verlag, Wien, Heft 1/1955 Eisenbahntechnische Rundschau, Röhrig-Verlag, Darmstadt, Vortrag hierüber in Innsbruck am 7. Juni 1956, auf Ingenieur Eduard Gruners „Der Gotthard-Basis- tunnel“, Schweizerische Technische Zeitschrift Nr. 17 vom 29. April 1955, auf Dr.-Ing. Georg Innerebners Veröffentlichungen über eine Autobahn Brenner—Modena, „Dolomiten“ vom 5. Juli 1958, sowie schließlich auf die Verkehrskonferenz des deutsch-italienischen Wirtschaftsausschusses vom 23. bis 25. Februar 1959 in Mailand, an der erstmals eine offizielle österreichische Delegation teilnahm, auf der je eine Arbeitsgruppe „Bahn“ unter Leitung von Direktionsrat Stanfel (Wien) und eine Arbeitsgruppe „Straßen“ unter Leitung von Ministerialdirektor Dr. Kunde (Bonn) gebildet wurde.

Der Landesbaudirektor von Tirol, Hofrat Dipl.-Ing. Josef Stark, konnte hierbei vom inzwischen erfolgten Baubeginn auf der neu. trassierten österreichischen Rampe der Nordtiroler Brenner-Autobahn zwischen Innsbruck und Schönberg (7 km) berichten.

Unter der geradezu beängstigenden Entwicklung auf dem „alten Krieger- und Krämerweg über den Brenner“ (Straßenverkehrssteigerung 1950/58 410 Prozent, zeitweise 2000 durchfahrende Fahrzeuge pro Stunde) leitete die Spatenstichfeier an der großen Silltalbrücke vom 25. April 1959 den Anbruch einer neuen Aera verkehrstechnischer und wirtschaftlicher Freiheit im Nord-Süd-Verkehr ein.

ALLGEMEINES

Es dürfte keinem Zweifel unterliegen, daß in einem Volleuropa ohne Zonengrenzen das Verkehrsaufkommen, das heute die Leistungsfähigkeit der zweigleisigen Brennerbahn nicht ausschöpft, diese weit überfordern würde. Denn die Brennerbahn leistet heute schon über 50 Prozent des Gesamttransitverkehrs Oesterreichs. Und weil der über den Brenner allzu stark flutende Straßenverkehr eines zweigeteilten Rumpfeuropas schon den Bau der Brenner-Autobahn im Zuge der Europastraße E 6 Narvik- Rom förmlich erzwungen hat, ist es Zeit, sich mit dem Verkehrsproblem Brenner von gesamteuropäischer Schau her mit jener Aufgeschlossenheit auseinanderzusetzen, wie sie Bundes- und Landesregierung, Bundesbahn- und Baudirektionen — voran Herr BB-Präsident Doktor techn. Josef Dultinger (Innsbruck) —, Handelsund Gewerbekammern der einigenden Europaidee entgegenbringen.

Als Ergänzung und zur Entlastung der Europastraße E 6 sei in diesem Beitrag unter Europabahn eine Flachbahn für Schnell- und Massengüterdurchgangsverkehr mit einer Streckengeschwindigkeit von 200 km/h, Steigungen kleiner als 8 Promille und Krümmungshalbmessern auf freier Strecke größer als 1000 m verstanden.

Ein Blick auf die Karte erinnere besser als viele Worte an die Bedeutung des Brenners (1372) und des St. Gotthard (2112) im mitteleuropäischen Raum bei Ueberwindung der 400 -Į- 200 -Į- 400 = 1000 km langen Alpenbarriere zwischen Nizza und Wien, aber auch an die naturhafte und seit grauer Vorzeit organisch gewachsene Konkurrenzlosigkeit der Brennerwegsenke in der Luftlinie Hamburg- Rom: Seit Jahrtausenden v. Chr. Warenaustausch zwischen Norden und Süden, Metalle und Bernstein, Salz, Pelze, Leinwand und SchafwollZ einerseits, Gewürze und Wein, Seide und Baumwolle anderseits, ungezählte Römerzüge nach Norden, die vielen Deutsche-Kaiser-Züge nach Süden, zahllose Durchzüge bi’ in die Neuzeit

1703, 1796/97, 1809, 1859, 1866, 1914 bis 1918, 1939 bis 1945. Wann im Krieg und Frieden war der Transitverkehr durch Tirol nicht das Entscheidende, wenn mit dem Besitz des Brenners Tiroler und Europas Freiheit stand und fiel? Des Brenners erstrangige Vorzugstellung verpflichtet ganz Europa. Wenn aber Transit (Durchzug) für Tirol Bestimmung und Schicksal bedeutet, dann möchte dieses klassische Durchzugsland nicht nur im Kriege be- und durchfahren und im Frieden umfahren werden.

Nachdem 1850 die erste alpine Uęberschie- nung am Semmering gelungen war, schlug am 24. August 1867 die Geburtsstunde der Brennerbahn, der ersten Ueberschienung des Alpenhauptkammes, d. h. Teilung des Brennerweges in Schiene und Straße, Entthronung der 2000 Jähre alten Brennerstraße.

1882 wurde die Gotthardbahn eröffnet.

Brenner- und Gotthardbahn, beide Anlagen heute ebenso wie in Zukunft unentbehrlich, jedoch überholt, weil Steilrampen von 27 Prozent Steigung und Krümmungshalbmesser von 256 und 280 m mit Durchlaufverkehr auf Europabahnen unvereinbar sind.

Die Forderung nach durchgreifender Anlage- Verbesserung, nach möglichst flacher, geradliniger Basis-Durchstoßung der Alpenbarriere, ist daher berechtigt.

Tirols Nestor im Bau- und Wirtschaftsleben, Oberbaurat Dipl.-Ing. Dr. h. c. Karl Innerebner, verglich am 7. Juni 1956 treffend Dr. Dreßlers Flachbahnstudie München—Verona mit der Gotthardbahn, wo Deutschland und Italien als Hauptnutznießer drei Viertel der Baukosten trugen. Auch beim Brenner-Basis- tunnel wird der Finanzierungsplan dafür sorgen müssen, daß den Hauptpartnern die finanzielle Hauptlast am Bau zufällt.

Eine Zusammenlegung von Bahn und Straße in eine Langbasistunnelröhre wäre für den Brenner unvertretbar, weil kein Anlaß zum Heraufbeschwören vermeidbarer Gefahren, vermeidbarer als einb zweite Ringtheaterbrand- oder , Titanic-Katastrophe, vorliegt.

Man stelle sich bei voll belegter Tunnelröhre zur Zeit eines Oster- oder Sommerspitzenverkehrs das zufällige Inbrandgeraten oder gar die Explosion eines Oeltankers vor, etwa 10 km tief im Berginnern. Selbst bei überdimensionierten Tunnelprofilen von 13/20 m oder 15/15 m im Lichten ließen sich die plötzlich auftretenden Erstickungsgase durch keine Lüftungsanlage der Welt sofort unschädlich machen, wie sich auch ein plötzlich auftretendes Katastrophenhochwasser nicht durch ein Mausloch ableiten läßt. Gefährlichen Gasen und Abgasen soll überhaupt nicht Gelegenheit geboten werden, in das Berginnere zu dringen. An Alpendurchstiche mit Ueberlagerungshöhen bis zu 2060 m kann nur mit größter Vorsicht und gründlicher Vorbereitung herangegangen werden. Störungszonen, Wassereinbrüche, hohe Temperaturen — beim Simplon-Tunnel-Bau schon 56 Grad Celsius —, Bersten hochgespannter Gebirgsfaltungen, schlagende Wetter, Lehm- und Gipslager u. dgl. m. können größere Ueberraschungen bringen als der reine, wenn auch gewaltige Gebirgsdruck.

Im übrigen kann für eine zweigleisige Vollspurbahn mit einem lichten Tunneldurchmesser von 10 m leicht das Auslangen gefunden werden.

FLACHBAHNTRASSENSTUDIE GARMISCHINNSBRUCK—BOZEN ALS PROJEKTSIDEE

Die klare Anlagentrennung von Bahn und Straße ist das Um und Auf der gemeinsamen Gesamtlösung des europäischen Verkehrsproblems Brenner, dank natürlicher Bevorzugung gegenüber dem St. Gotthard.

Besonders sinnvoll werden sich Schiene und Straße im Gebirge koordinieren, weil dort die Anlegung einer dritten Autobahnspur für ausschließlichen Lastverkehr wegen Platzmangels von Natur aus nicht in Frage kommt, der Massengüter fern verkehr daher grundsätzlich auf den Schienenweg wird verwiesen werden müssen.

Der Bau einer Brenner-Flachbahn (Europabahn) ist im Gegensatz zum Brennerautobahnbau noch weites Fernziel.

Immerhin brachten die „Dolomiten" am 5. Juli 1958 aus Südtirol Hocherfreuliches. Der Präsident der Arbeitsgruppe für die Verwirklichung der Brenner-Autobahn, Dr.-Ing. Georg Innerebner (Bozen), veröffentlichte interessante Einzelheiten über das von Senator Dr.-Ing. Guido von Unterrichter und Dr.-Ing. Anton Graf Sar- dagna ausgearbeitete Projekt einer 311 km laja- Autobahn' Brenner—Modena, Vor allem, -schlug der anerkannte Eisenbahnfachmann Dr.-Ing. Anton Graf Sardagna im Zusammenhang mit dem Autobahnprojekt einen durchgehenden Eisenbahntunnel Berg-Isel—Lurx (2 km nördlich Sterzing) von 37 km Länge vor, eine echte Anlagenverbesserung, die keine höheren Neigungen als 16 Promille zuläßt und scharfen Krümmungen an den Leib rückt, die nicht nur den Brennerpaß selbst für die Autobahn frei gibt, sondern auch der Teillösung einer langfristigen europäischen Planung (Flachbahn München-Verona) schon sehr, sehr nahe kommt. Warum ihr erstes und vordringliches Teilstück Innsbruck—Sterzing nicht von vornherein so anlegen, daß es in die spätere Europabahnstraße paßt? Die Folgen jetziger technisch-wirtschaftlicher Abstimmung sind geringfügig, ihre späteren Früchte jedoch sehr bedeutungsvoll.

Von der vorgeschlagenen 373 km langen Flachbahn München—Verona entfallen

93 km auf die Deutsche Bundesrepublik,

64 km (+ 1 km Abzweigung nach Sterzing) auf Oesterreich und

216 km (+ 13 km Abzweigung nach Sterzing) auf Italien.

Von der 143 km langen trassenmäßig untersuchten Zwischenstrecke Garmisch—Bozen entfallen auf den

I. Bauteil Innsbruck—Tunnelscheitel „Tribulaun“ 30 km

(+ 14 km Abzweigung nach Sterzing)

II. Bauteil Tunnelscheitel „Tribulaun"—Bozen 69 km

III. Bauteil Garmisch—Innsbruck 44 km

Garmisch—Bozen 143 km

München (Pasing)—Garmisch 82 km

Bozen—Verona 148 km

München—Verona 373 km

Der Baubeschluß für den I. Bauteil Innsbruck—Sterzing sollte, könnte als erstes Fernziel in Uebereinstimmung mit den Mailänder Beratungen bis zum Jahre 1970 erreicht werden. Zweiter und dritter Bauteil und die sich daraus entwickelnden Aspekte (Weltverkehrsa chluß von Garmisch-Partenkirchen, St. Anton am Arlberg, Meran-Obermais, Güterdurchlaufverkürzung zwischen 123 und 129 bei Innsbruck von 6 auf 3 km) sind jedenfalls spätere Fernziele.

Der geplante Gotthard-Basistunnel Amsteg— Bodio würde rund 48 km, der „europäische" Brenner-Flachbahntunnel rund 42 km lang. Bedeutende Zentren werden schneller verbunden und gleichzeitig abgelegene Tiroler Gebiete besser erschlossen, womit europäischen, österreichischen und Tiroler Verkehrsinteressen gleichermaßen gedient wird. Besondere Eigenartigkeit kommt dem auf 728 m Meereshöhe gelegenen Tunnelscheitelbahnhof „Tribulaun“ im Berginnern des 3096 m hohen Pflerscher Tribulaun zu. Die beiden ins Gschnitz- und Pflersch- tal führenden Förder- und Lüftungsschächte — ihre Mundlöcher nur 3,5 4 3,3 — 6,8 km voneinander entfernt — bieten sowohl ideale Bau- und Betriebsbedingungen als auch ideale spätere Möglichkeiten für Alpinistik und Fremdenverkehr: die gewaltige Gletscherwelt der Stubaier Alpen dahinter, die wildromantische schroffe Tribulaungruppe darüber, die Wipptaler Fremdenverkehrszentren Steinach und Gossensaß mit der Brennerautobahn davor.

Weitere Schrägschächte (Gschnitz, Stubai, Ridnaun, Ratschings) als Angriffspunkte für einzelne kürzere Tunnelbaustrecken, die Möglichkeit abschnittweiser Durchführung und besonders die im Tunnelbau erschlossenen neuen Bauweisen wirken sehr bauverkürzend und bauverbilligend.

Ein Lüftungsproblem beim Brenner-Flachbahntunnel gibt es nicht.

SCHLUSSWORT

Gleichsam als Auge des Gesetzes und Symbol abendländischen Geistes möge des Tiroler Adlers scharfer Blick vom kühnen Felsenthron eines Tribulaungipfels aus darüber wachen,

daß der erste Flachbahndurchstich des Alpenhauptkammes zusammen mit der Brenner-Autobahn eine neue Aera europäischer verkehrswirtschaftlicher Freiheit immerwährend begründe,

daß auch die moderne Technik in Bauplanung und Baugestaltung, dienend dem Geist echter Freiheit und Heimatliebe, der Heimat Andreas Hofers die Achtung zolle, die ihr gebührt,

daß die europäischen Länder, eingedenk der technische Großleistung des Brennerbahnbaues, den vor bald hundert Jahren eine europäische Großmacht — genannt Oesterreičhisch-unga- rische Monarchie - leistete, mithelfen, durch einen europäischen Brenner-FIacbbahnbau das europäische Verkehrsproblem Brenner endgültig zu lösen, und dadurch mithelfen, Europa zu bauen.

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