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Fahrgast oder Transportgut?

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Waren für die Großstadt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts menschenunwürdige Wohnungen charakteristisch, so ist es für die der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der menschenunwürdige Massenverkehr. Für den Viehtransport auf der Bahn bestehen Minimalvorschriften, die Menschen aber müssen in der Straßenbahn ein Gedränge hinnehmen, demgegenüber die Lage der berühmten Sardinen in ihrer Büchse geradezu komfortabel ist. In den Hauptverkehrszeiten erreichen unsere städtischen Verkehrsmittel eine „Geschwindigkeit“ von 8 Kilometern je Stunde und stehlen uns so einen Großteil der Freizeit. Alte Leute werden an den Doppelhaltestellen, wo der Ort des schließlichen Zugstillstandes mit logischen Überlegungen nicht im voraus zu ermitteln ist, zum Aufsuchen des „erlaubten“ Einstiegs umhergejagt wie die Rekruten. Die Kinder und Greise, die Woche für Woche unschuldige Opfer hemmungsloser Autorowdies werden, klagen den unmenschlichen Autoverkehr, der sich in den ureigensten Bereich des Menschen gedrängt hat, an. Die Autos erfüllen unsere Straßen mit giftigen und krebserzeugenden Abgasen ... Diese wenigen Beispiele aus einer endlosen Liste zeigen, daß für unseren Stadtverkehr das Attribut „menschenunwürdig“ keineswegs übertrieben ist-

Heute gilt es als unbestritten, daß in unseren Städten das massenweise Auftreten des Privatautomobils das lähmende Verkehrschaos verursacht und nur ein leistungsfähiger und attraktiver öffentlicher Verkehr helfen kann. Noch vor wenigen Jahren galten solche Mahnungen als rückschrittliches Verkennen des modernen „Trends“. Die verantwortlichen Stellen und die breite Öffentlichkeit sehen jetzt vor allem in (bau-) technischen Maßnahmen einen Ausweg, unterschätzen dagegen organisatorische und psychologische Momente. Demgegenüber erwarten Betriebswirtschaftler Rationalisierungserfolge nur zu einem Fünftel von technischen Verbesserungen gegenüber je zwei Fünftel im organisatorischen und im psychologischen Bereich.

Typisches Beispiel für das Überschätzen technischer Maßnahmen war der Kongreß des Internationalen Verbandes für öffentliches Verkehrswesen, der im Mai 1963 in Wien tagte. Er erkannte wohl die Trennung des öffentlichen Verkehrs vom privaten als ein „Gebot für die Gesundung der Städte“, legte sich aber vor allem auf Unterpflasterbahnen fest. Die Straßenbahn und mit ihr die 90 Prozent der Bevölkerung, die nach wie vor auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind, sollten sich also vor dem Autoverkehr unter die Erde verkriechen und damit den nur zehn Prozent, die sich überwiegend ihres eigenen Fahrzeuges bedienen, Platz machen. Die Stimmbürger von Zürich haben ein solches Ansinnen abgelehnt. Sie waren der Ansicht, daß es keine Dauerlösung wäre, die Straßenbahn als leistungsfähiges Verkehrsmittel unter die Erde zu verlegen, die Straßenflächen aber dem sie ja doch über kurz oder lang völlig überschwemmenden Auto zu überlassen.Schweizer Raumplaner unterstreichen das für diesen Entscheid bestimmende psychologische Moment: Jeder Bürger, der das öffentliche — wenn auch noch so unkomfortable — Verkehrsmittel benützt, ist froh,wenn er wenigstens beim Fenster hinausschauen kann und nicht bloß dem Nachbarn .in den Hemdkragen.

Damit ist grundsätzlich nichts ge-'geri Untergrundbahnen gesagt, sofern sie eine Geschwindigkeit bieten^ die oberirdisch bei weitem nicht erreichbar ist. Es ist aber unsinnig, mit gigantischem Kostenaufwand Straßenbahnen unter die Erde zu verlegen, nur um ihnen wieder jene Geschwindigkeit zu ermöglichen, die sie erreicht hatten, als sie noch unbehindert vom Autoverkehr verkehrten. Mag sein, daß jene, die sich für Unterpflasterstraßenbahnen entscheiden, tatsächlich meinen, sie dienten damit dem öffentlichen Verkehr. Faktisch ist ausschlaggebend, daß man das „Verkehrshindernis Straßenbahn“ den Autofahrern aus dem Weg räumen will, welches Ziel vielleicht nur im Unterbewußtsein wirkt. Andernfalls würde man nicht dort Unterpflasterbahnen bauen, wo sich der Straßenbahnverkehr auch durch organisatorische Maßnahmen (Einschränken des Autoverkehrs) wieder auf seine frühere Geschwindigkeit bringen ließe (Zweierlinie), sondern dort, wo es keine andere Möglichkeit gibt, rasche öffentliche Verkehrsmittel unterzubringen

(Durchmesserlinien unter der Inneren Stadt). Fast den gleichen Effekt wie eine Unterpflasterstraßenbahn erzielt nämlich oberirdisch ein eigener Gleiskörper. Statt aber solche großzügig auszubauen, werden die wenigen noch bestehenden im Interesse der Autofahrer aufgelassen.

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