Wir sind uns heute weitgehend einig, wie das Idealbild einer neuen Stadt aussehen soll. Das Schema dafür sieht ungefähr folgendermaßen aus: In der Mitte befindet sich eine gut erhaltene Altstadt welche saniert und durch Bauverbote geschützt ist. Ein Grüngürtel an Stelle von Wall und Graben umschließt diese Altstadt, und trennt sie von der sogenannten City, von dem Quartier des Handels, des Verkehrs, mit seinen Hotels, Vergnügungsstätten und mit seinen Bildungsstätten, wie Hochschulen und Museen. Zwischen breiten Ausfallstraßen für den Schnellverkehr, welche nach allen Seiten von der zentral gelegenen Cityzone ausstrahlen, liegen die Wohnquartiere als Gartenstadtsiedlungen. Umfang und Größe der Stadt wird im voraus bestimmt. Das ganze Stadtgebiet wird abgegrenzt durch eine breite Grünzone, die sogenannte landwirtschaftliche Zone, welche durch Bauverbote für alle Zeiten gegen eine Verbauung geschützt ist, womit verhindert werden soll, daß die optimale Größe einer Stadt überschritten wird. Außerhalb des Grüngürtels der landwirtschaftlichen Zone liegen im Idealschema die sogenannten Trabantensiedlungen; ebenfalls außerhalb der Stadt befinden sich die Industriezone, sowie die Arbeitersiedlungen, die in einer Entfernung von ersterer liegen, welche es dem Arbeiter ermöglicht, den Weg von der Wohnung ir Arbeitsstätte zu Fuß zurückzulegen.
Dieses Idealbild einer neuen Stadt wird vielen wie ein schöner Traum dünken, der unausführbar ist. Doch warum, so wollen wir fragen, soll einer Menschheit, die im Bösen unsinnig Gewaltiges geleistet hat, nicht auch im Guten gelingen, die vornehmste Aufgabe unseres sozialen Zeitalters zu lösen, indem sie ihre Städte schön und menschenwürdig gestaltet?
Wenn wir uns erinnern, daß der Städtebau von heute, seine Erkenntnisse und Forderungen aus der Kritik des Städteb ,ues des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des beginnenden 20. Jahrhunderts entstanden, ist. so kann mein Idealbild einer Stadt im umgekehrten Sinne auch eine Illustration der verpaßten Gelegenheiten darstellen. Die größtem verpaßten Gelegenheiten sind in allen Städten die ausgedehnten Wohnquar-täere der damaligen Zeit mit den eintönigen Miethausblöcken und den verbauten Innenhöfen. Die Straßen ohne Baum und Strauch sind nüchtern und trostlos. Solche Quartiere hat man oft als Steinwüste charakterisiert. Dieses Bild erklärt bereits schon den Sinn der Forderung nach einer menschenwürdigen Stadt. In Anlehnung an den Spruch des Schweizer Dichters Jeremias Gotthelf „Im Vaterhaus muß beginnen, was leuchten soll im Vaterland“ sage ich: In der Wohnstube beginnt die Schönheit einer menschenwürdigen Stadt. Es ist eine Schönheit, welche nicht nur bestimmt wird durch die Sehenswürdigkeiten der Ansichtskartenreportage. Wir brauchen heute mehr.denn je für den Städtebau und für den Wiederaufbau im besonderen das hohe Ideal einer warmen Menschlichkeit und einen frohgemuten Optimismus. Wir brauchen die Erkenntnis, welche in dem Spruch Pestalozzis enthalten ist: „Wahre Menschlichkeit ist köstlicher als alle Schönheit der Erde“.
Vergessen wir aber eines nicht: Der schönste Idealplan genügt nicht, um das Idealbild der neuen Stadt zu schaffen. Hinzutreten muß die Stadtbaukunst, die künstlerische Planung. Auf diesem Gebiet hat CamiMo Sitte grundlegende Gedanken geäußert. In seinem im Jahre 1898 in Wien erschienenen Buch „Städtebau nach seinen künstlerischen Gesichtspunkten'* ging er von der Tatsache aus, daß dem großen technischen Fortschritt der Jahrhundertwende ein künstlerischer Mißerfolg entsprach. Sein Ausspruch: „Künstlerisch ist nur dasjenige wichtig, was überschaut, was gesehen werden kann, also die einzelne Straße, der einzelne Platz“, führte mich auf die Lösung der wichtigsten Fragen in der künstlerischen Gestaltung des Städtebaues. Es sind dies die Fragen des natürlichen Standpunkte und des Maßstabes für die künstlerische Planung. Bleibt nicht, trotz Automobil und Flugzeug, das Auge des Fußgängers auf 1,50 Meter Höhe der natürliche Standounkt? Der Mensch auf seinen zwei Beinen ist und bleibt wohl das Maß für die künstlerische Gestaltung. Wir Architekten schaffen nur allzuoft abstrakte und kostspielige Pläne und Modelle, welche in Wirklichkeit nicht erlebt werden können. Die künstlerische Gestaltung einer Stadt ist in erster Linie eine Frage der Räumlichkeit. Eine Stadt ist ein Organismus einzelner Räume, welche jeder für sieh erlebt werden.
Der Automobilverkehr und hygienische Gesichtspunkte haben die Straßenräume und die Räume zwischen den Häusern ausgeweitet und damit neue Grundlagen, aber auch neue Möglichkeiten für die künstlerische Gestaltung geschaffen.
Diese weiten Räume erlauben uns, die Natur wieder in die Stadt zurückzubringen und unsere Städte wieder zu Gartenstädten zu gestalten. Ermöglicht es uns die Natur nicht, eine mehrspurige, breite und kahle Verkehrsstraße durch Unterteilung mit Rasenstreifen, durch offene Vorgärten mit Blumen, Sträudiern und Baumgruppen in eine schöne und angenehme Straße zu verwandeln? Können wir nicht auch überall zwischen den Häusern Grünräume schaffen, so daß unsere Häuser nidit mehr in einer Steinwüste, sondern in einer Landschaft stehen? Wenn wir eine vierspurige Verkehrsstraße durch einen Grünstreifen mit Sträuchern und Bäumen in zwei Einbahnstraßen unterteilen, Fußgänger- und Radfahrerwege ebenfalls durch Grünstreifen abtrennen, so erhalten wir nicht nur einen schöneren Straßenraum, sondern auch einen gefahrloseren Verkehr. Die Straße wird schöner und zweckmäßiger. Diese Synthese von zweckmäßig und schön möchte ich eine sinnvolle Schönheit nennen.
Heute und in Zukunft wird man neu,e Stadtquartiere als Gartenstädte projektieren und ausführen. Welche Möglichkeit besteht aber, in die bereits bestehenden Städte die Natur zurückzubringen, vor allem in jene Viertel, die im 19. Jahrhundert entstanden sind und die die meisten Einwohner haben? Die also noch zu jung, zu wenig schlecht und leider noch zu rentabel sind, um durch neue Quartiere ersetzt zu werden?
Wir alle kennen die wunderbare Verwandlung einer kahlen Stube durch einen Blumenstrauß. An Stelle des Blumenstraußes könnte man Bäume in die öden, nüditernen Straßenräume stellen. In einen ausgekernten Hufraum pflanzt man Blütenbäume und bringt damit auch den schon beinahe unbekannten Ablauf der Jahreszeiten von der Natur in den Hofraum zurück. Bäume sind aber auch Heilpflanzen, welche die haßliche und kahle Architektur der Scheinfassaden um] die Nüchternheit der Mietskasernen mildern. Ich würde auch vorschlagen: daß in allen durch den Krieg zerstörten Städten bei den neu aufzubauenden Quartieren, welche Aufgabe ohnedies erst nach längerer 2eit wird in Angriff genommen werden können, mit dem Bäumepflanzen als erste Etappe begonnen wird. Ein Vorschlag, der finanziell auch ohne weiteres durchführbar ist. Es wäre allerdings nötig, eine Gesamtplanung vorzunehmen, um die Pflanzstellen zu fixieren. Die vorhandenen Bäume würden den neu aufzubauenden Häusern sofort ein schöneres Gesicht geben.
Neben dem Rezept mit dem Bäumepflanzen möchte ich noch ein anderes vorschlagen, um . die Altstadtquartiere zu sanieren und zu verschönern. Nicht nur der Blumen-, strauß im kahlen Raum, sondern auch die Reinlichkeit, welche eine armselige Stube verschönert- soll hier Vorbild sein. Nur tritt an Stelle des Zubers mit Wasser für das Reinemachen von Straße, Haus und Hof der Kübel mit Farbe. Die Häuser haben während des Krieges der Reinhaltung durch Farbanstrich entbehrt. Innen und außen müssen sie neu gestrichen werden, eine Tatsache, welche eine nicht zu unterbietende Möglichkeit gibt, jene grauen, häßlichen Viertel, die im 19. Jahrhundert entstanden mit wenig finanziellen Kosten zu verschönern. Man lasse endlich die graue Farbe, die den gfätieh Alltag noch' mehr verstärkte,' versc! binden und verwandle nicht nur ein Quämer, sondern die ganze Stadt in ein “weißes Quartier, eine weiße Stadt. Ist die weiße Farbe nicht Ausdruck der Reinlichkeit und ein Symbol für eine saubere und frohe Lebensbejahung? Selbst den skurrilen Architekturspielereien des ausgehenden 19. Jahrhunderts vermag die weiße Farbe eine amüsante, surrealistische Note zu verleihen. D'e Wirkung der weißen Fassade würde noch verstärkt, wenn die Haustüren. Dach-rinnen, Regenabfallrohre und andere Details mit roten, blauen, grünen, gelben Farben angestrichen würden. Was für ein schönes Bild bieten oft die Dörfer und Städte süd-licher Länder, aber auch einfache Dörfer in der Schweiz und in Österreich mit ihren einheitlich geweißelten Häusern und ihren färbigen Türen und Fensterläden!
Mein Rezept iür das Bäumepflanzen und Anstreichen der Häuser dienen mir auch als Beispiel für meine Überzeugung, daß man mit einfachen und gar nicht kostspieligen Mitteln Städtebau verwirklichen kann. Es gehört dazu aber vielleicht ebensoviel Phantasie wie für eine großzügige Planung. Der Architekt muß die Liebe zum Detail besitzen und eine Hellhörigkeit für die Nuancen und ihre einzelnen Auswirkungen, und vor allem muß er den Glauben besitzen, daß künstlerische Gestaltung bewußt oder unbewußt den Menschen günstig bee'nflußt und mithelfen kann an der Entstehung einer guten Gesinnung der Bewohner.
Im folgenden will ich nur noch kurz ein wichtiges und interessantes Problem des künstlerischen Städtebaues streifen. Es ist das Thema: Auto und Fußgänger. Die Geschichte des Städtebaues unserer Zeit beginnt mit der Erfindung des Automobils. Wir kennen heute die Erfordernisse eines reibungslosen Automobilverkehrs und bemühen uns, ihnen gerecht zu werden. Gilt dies aber auch für den Fußgängerverkehr? Wenn man auf einem Verkehrsplatz die von Inselchen zu Inselchen hüpfenden Menschen beobachtet, so muß man diese Frage verneinen. Eine gute Lösung für die Fußgänger, aber auch für den Autoverkehr bringt meiner Meinung nach nur eine weitgehende Trennung der beiden Wege in dem Sinne, daß wir neben dem Straßennetz für den Auto-mohilyerkehr auch ein Wegnetz für die Fußgänger innerhalb einer Stadt anlegen würden. In bestehenden Stadtquartieren könnte heute noch in vielen Fällen durch Sperrung des Automobilverkehrs in unwichtigen Straßenzügen ein Wegnetz für Fußgänger geschaffen werden. 3ei neu geplanten Quartieren führen die Wege für den Fußgänger durch die freien Höfe und Grünräume zwischen den Häusern. Ah diesem Wegnetz liegen die Kindergärten, die Schulhäuser, die Ladenzentren, die Kirchen, die öffentlidien Gebäude usw. Ein solches Wegnetz gäbe uns auch eine größere künstlerische Freiheit in der räumlichen Gestaltung. Wir könnten wiederum geschlossene Platzräume schaffen mit intimem, sachlichem Maßstab und einer schönen Proportion von Platz und Bauwerk. Können wir uns noch ohne Gefahr auf einem Verkehrsplatz aufhalten, um ein schönes Gebäude zu betrachten? Und können wir noch in dem Verkehrslärm ein Denkmal oder eine Plastik hineinstellen? Fußgängerwege und -platze geben uns wiederum die Möglikeit zur Atrfteflung von Werken der Malerei und Plastik.
Das Thema „Auto und Fußgänger“ .führt uns nochmals zurück an den Anfang jeder Betrachtung über künstlerische Gestaltung im Städtebap. Meiner Ansicht, daß der Mensch Maß und Ausgangspunkt für unsere städtebauliche Arbeit sein soll, entspridit meiner Uberzeugung, daß Stadtbaukunst eine Synthese zwisdien der Philosophie des gesunden Menschenverstandes und einer ideenreichen künstlerischen Begabung sein soll. Wir sollten uns nicht zu stark durch Regeln einengen lassen, noch uns einem allzu kritiklosen Fortschrittsglauben oder einer allzu starren Kompromißlosigkeit ver-, schreiben. Ein lebendiger Städtebau benötigt nicht nur das Werkzeug der städtebaulichen Theorien, sondern auch einen Spiegel, um die Reichhaltigkeit des Lebens aufzufangen und zu verstehen. Wir brauchen den Traum der schönen und menschenwürdigen Stadt, das Ideal der Menschlichkeit und eine ideenreiche Phantasie, um aus dem praktischen Städtebau die Kunst des Möglichen zu machen und nicht nur eine reale, nüchterne Zweckerfü'llüng. Wir brauchen einen starken, praktischen Idealismus, der sich nicht im kalten Luftzug der Finanzen verflüchtigt und tatenlos wird. Mit kleinen Mitteln Städtebau zu realisieren, gehört auch zur Kunst des Möglichen. Sicher ist eine großzügige Gesamtplanung nötig. Aber ist eine kleinere ausgeführte Arbeit oft nicht positiver als großzügige Planungen, welche durch die Unmöglichkeit der Finanzierung zusammengerollt in einem Archiv verschwinden?
Wohl nie wird es möglich sein, eine große Stadt nach einem Idealplan neu aufzubauen. Wohl aber ist es möglich', etappenweise eine Stadt zu sanieren und zu erneuern, mit der Zielsetzung, eine ideale Stadt zu schaffen. Auf dem Weg zu diesem Ziel darf man aber dann nicht auf die kleinsten Elemente, welche das Gesicht einer Stadt mitbestimmen, vergessen, wie auf Tramwagen, Straßenschilder, Hausnummern. Vor allem muß der Beleuchtung ein besonderes Augenmerk gewidmet werden. Welch zauberhafte Beleuchtung wäre möglich, wenn die Ladenbesitzer das viele Geld, welches sie für eine schreiende Lichtreklame ausgeben, zusammenlegen würden, um eine schöne Straßenbeleuchtung zu stiften. Das Bild der zauberhaft erleuchteten Stadt ist wie ein Symbol der dem Menschen vom Himmel geschenkten wunderbaren Gaben des Geistes und der künstlerischen Begabung.
Soll es einer Menschheit, welcher solche Gaben geschenkt sind, nicht auch gelingen, die schöne und menschenwürdige Stadt zu bauen? Ich glaube an eine starke und unzerstörbare ideelle Vitalität der Menschen, welche trotz der Not der Zeit den Menschen vor einem Realismus ohne Glauben behüten wird. Ohne einen starken Glauben und frohgemuten Optimismus ist kein Wiederaufbau der Städte und des menschlichen Lebens möglich.