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Häuser für den unbehausten Menschen

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DAS HANSAVIERTEL

Das Berliner Hansaviertel in seiner heutigen Form ist mehr als ein wiederaufgebautes Stadtgebiet; es ist aber auch mehr als eine Aneinanderreihung von Bauten zu Ausstellungszwecken. Vom städtebaulichen Standpunkt ist es ein interessanter Versuch einer Teillösung, aber es wird immer nur eine Teillösung bleiben. Vielleicht ist eine Großstadt vom Ausmaß und der Struktur Berlins, überdies in der exponierten Situation dieser Stadt, überhaupt nicht der geeignete Ort, um endgültige und grundlegende städtebauliche Lösungen zu finden. Zu viele, auch finanzielle und legislative Einschränkungen wirken hier mit. So gleicht das Hansaviertel viel mehr einer Zusammenstellung von Wohn- typen für die verschiedensten gesellschaftlichen Lebensformen, die auch als Modelle für größere Planungen Geltung haben werden. Und diese Idee läßt die „Interbau” („Internationale Bauausstellung”) mehr sein als die Summe ihrer Einzelobjekte.

ZIVILISATION AUF RÄDERN

Das Wohnen ist seit Urzeiten nicht nur die Erfüllung eines menschlichen Bedürfnisses, sondern zugleich Ausdruck eines bestimmten sozialen Verhaltens. Als die Bomben unsere Städte in Schutt und Asche warfen, wurde damit mehr zerstört als der Wohnraum für Tausende von Menschen. Die Unsicherheit und Heimatlosigkeit ging tiefer. In den Jahren nach dem Krieg begann dann das Suchen nach einer neuen Form der Gemeinschaft, für die die herkömmlichen Formen nicht mehr recht zu gebrauchen waren, und zugleich das Suchen nach einer Art des Wohnens, die diesen neuen Formen des sozialen Kontaktes entsprach; der „unbehauste Mensch” sollte eine neue Heimstatt finden.

Unsere Zivilisation rollt auf Rädern. Man kauft ein Auto leichter als eine geeignete Wohnung,1 man macht große Reisen und wohnt in Motels, dieser typischen Form des kurzfristigen Aufenthaltes, oder man zeltet. Der Zug zum Transitorischen, zum Nomadischen wurde im Krieg unserem Verhalten aufgezwungen; durch die Kampfeinstellung und die damit gegebene neue Bewegungsfreiheit wurde diese Tendenz zunächst noch verstärkt. Aber die Entwicklungsbeschleunigung dieser Zivilisation steht auf „Leerlauf”, es ist die Bewegung eines Autos mit abgestelltem Motor. So fährt man nur bergab. Das Bleibende kultureller Werte ist ein Produkt der Sammlung. Sammlung heißt für den einzelnen Besinnung und wird aus dem Zusammenleben der Familie organisch in die Gemeinschaft erweitert. Je mehr Menschen als Masse Zusammentreffen, desto oberflächlicher wird die Berührung. Diese Kontakte, die heute so schlecht funktionieren, müssen in die richtige Bahn gebracht werden. Und das ist die Verantwortung des Architekten, der die Kontaktnahme durch seine Ideen vom Zusammenleben beeinflussen kann. Er muß für die nächste Generation bauen. Er plant mit dem Grundriß zugleich die Struktur der künftigen Gesellschaft.

ALLEIN MIT VIELEN

Der Alleinstehende ist eine relativ junge Lebensform. Früher blieben unverheiratete Kinder meistens im Verband der Familie und wohnten auch dort. Für den Alleinstehenden, der auch berufstätig ist, wurde in Berlin ein eigener Wohnbautyp geschaffen. Das 17geschossige „Punkthaus” der Architekten K. Müller-Rehm und G. Siegmann, Berlin, enthält fast durchweg Garęonniėren, die aber, trotz des gleichen Grundrisses, sehr variabel sind. Ein Teil des Appartements hat eine komplette Kochnische und ist damit mehr für Frauen prädestiniert als die andere Form mit Kochschrank, die die Junggesellen vorziehen werden. Nicht alle diese Punkthäuser sind so streng als Junggesellenhäuser gedacht, viele sind auch für Zweipersonenhaushalte geeignet. Das löstöckige Haus der Architekten J. H. van den Broek und J. B. Bakema, Rotterdam, sieht in besonders wirtschaftlicher Verteilung Appartements und Dreizimmerwohnungen vor. Hier versucht man, für Einzelpersonen durch die Eingliederung der Garęonniere in ein Gebäude, in dem auch Familien leben, den gesellschaftlichen Anschluß zu erleichtern.

Für den Alleinstehenden ist das Wohnen das Hauptproblem; für die Familie kommt dazu der Haushalt, der hier eine viel größere Rolle spielt. Das heißt, daß die Küche, die Installationen, die sehr häufig zu durchgehenden Blocks zusammengefaßt sind, und die Lage dieser Einrichtungen im Wohnungsgrundriß eine besondere Bedeutung erhalten. Die Heizung erfolgt in allen größeren Häusern des Hansaviertels durch eine zentrale Fernheizanlage. Müllschlucker und Waschmaschinen, die meist in einer gemeinschaftlichen Wirtschaftsetage oder im Keller untergebracht sind, ermöglichen eine ökonomische und leichtere Wirtschaftsführung.

ISOLIERUNG IN DER MASSE

Die allgemeine Tendenz ist aber trotz dieses Zusammenschlusses die, der Familie, den Bewohnern einer Einheit, möglichst viel Eigenleben zu gestatten und die Wohnung im Prinzip so von den anderen abzuschließen, daß der Eindruck des „Für-sich-Seins” erhalten bleibt.

Ein besonders gelungenes Beispiel für diese von der Wohnung aus, also vom Kern der Wohneinheit nach außen hin geplanten Bauten ist das achtgeschossige Wohnhaus des finnischen Architekten Alvar Aalto, eines der Gruppe der „freistehenden Zeilen”. Vom Aesthetisčhen gesehen, ist es die ideale Lösung eines praktischen Nutzbaues. Die Einrichtung der Wohnungen ist mitgeplant, in den Ein- und Zweizimmerwohnungen sind Kochnischen, in den größeren Typen Küchen mit Eßplätzen eingerichtet. Durch Faltwände lassen sich Wohn- und Schlafräume völlig voneinander trennen. Besonders fällt hier die schöne Inneneinrichtung der Räume in den Musterwohnungen auf, die die verschiedenen Möglichkeiten der raumsparenden Innenarchitektur demonstrieren sollen.

Die Gruppierung der ganzen Wohnung um die Küche bzw. den Kochplatz und damit die Konzentration auf die Frau kommt in dem Haus der schwedischen Architekten F. Jaenecke und S. Samuelson zum Ausdruck. In dem zehnstöckigen Gebäude haben die meisten Wohnungen einen „Allraum”: Vor dem Kochherd, hinter dem nur eine kleine Nische ist, liegt der Eßplatz, an den sich der Aufenthaltsraum anschließt. So kann die Frau bei der Zubereitung des Essens zugleich Kinder beobachten, sich mit Gästen unterhalten usw. Praktisch wird diese Einrichtung erst durfch die Abzugsvorrichtung mit Exhaustor über dem Kochherd, die unangenehme Gerüche vermeiden hilft. Die schwedischen Möbel und das ausgestellte Geschirr können als Musterbeispiele industrieller Formgebung betrachtet werden.

Ein weiterer Versuch, Wohnräume möglichst in sich geschlossen und doch ökonomisch anzubringen, ist das Einziehen von Zwischengeschossen. Manchmal sind auch nur Boden- und Deckenhöhen erweitert und innerhalb der Wohnung eine Treppe angebracht, was den Raumeindruck vergrößert. Wir finden diese Art in dem Neungeschoßhaus des Architekten P. Vago, Paris, wo die Unterteilung auch in der Fassade zum Ausdruck kommt und zusammen mit den pastellfarbigen Glasplatten eine weitere Belebung schafft. Die offene Haupthalle im Erdgeschoß dürfte allerdings für unser Klima weniger geeignet sein.

Noch weiter geht Professor H. Schwippert, Düsseldorf, in seinem lögeschossigen Hochhaus. Er sieht eine Anzahl von „Maisonnettes” vor, das sind völlig abgeschlossene Wohnungen über zwei Geschosse, die den Eindruck von übereinandergeschachtelten Einfamilienhäusern geben sollen, was durch die ebenso hohen Wohn- balkone, die allerdings die Fassade zu sehr aufreißen, noch unterstrichen wird.

DAS EINFAMILIENHAUS

Das Einfamilienhaus ist natürlich die beste Lösung für das Zusammenwohnen einer Familie. Dazu gehört ein Garten, Zufahrtswege, Garage, usw. Schon daraus läßt sich ersehen, daß Einfamilienhäuser, zumindest in europäischen Großstädten, ein Luxus sind und auch vorläufig bleiben werden. Eine großflächige Anlage dieser Art verteuert naturgemäß den Grundpreis. Außerdem kommt ab einem bestimmten Ausmaß das Problem der Versorgung und das der Verkehrswege und deren Instandhaltung (Schneelage) dazu. Man versucht immer wieder durch Vorfabrikation solche Häuser zu verbilligen-, was in vielen Fällen zu einer noch viel stärkeren Uniformierung führt.

Bei den in Berlin gezeigten Typen bemüht man sich, durch den Zusammenschluß mehrerer Einheiten eine zuweitgehende Abschließung zu vermeiden und den Grundriß dafür variabel zu halten. Professor E. Ludwig, Berlin, umgibt die relativ kleinen Gartengrundstücke mit undurchsichtigen Einfriedungen aus Eternit; die großen Glaswände des Hauses erfüllen so ihre Funktion, den Raum in den Garten zu öffnen, ohne daß das Privatleben der Bewohner gestört wird. A. Jacobsen, Kopenhagen, legt aus denselben Erwägungen heraus atriumartige Innenhöfe an. Besonderer Wert wurde in diesen Häusern auf gute Wärmeisolierung (Beheizung durch Elektro- speicheröfen) gelegt.

UNITE D’HABITATION. TYP BERLIN

Nach dem Vorbild seiner Großbauten in Marseille bzw. Nantes hat Le Corbusier eine Wohneinheit „Typ Berlin” geschaffen, die außerhalb des Hansaviertels liegt. Das 135 Meter lange, siebzehngeschossige, aber schmale Gebäude enthält 527 Wohnungen — die größeren sind zweigeschossig —, eigene Innenstraßen und eigene Versorgungsanlagen für Strom und Heizung. Auf Wunsch der Berliner Auftraggeber hat Le Corbusier die Modularmaße (ein nach den menschlichen Körpermaßen ausgearbeitetes Raumsystem) leicht abgeändert. Die Idee der „Unite d’Habitation” wird immer wieder angegriffen und fälschlich mit dem Ausdruck „Wohnmaschine” übersetzt. Tatsächlich plant Le Corbusier wirklich etwas ganz anderes als seine sonst auf der „Interbau” vertretenen Kollegen. Die Bewohner dieser völlig autarken Wohneinheit sind fast zwangsläufig zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen. Während andere Architekten bewußt auf eine Isolierung innerhalb der Masse hinarbeiten, faßt er die Hausbewohner zu einer Masse zusammen, allerdings zu einer differenzierten Masse. Hier wird der ganze Umfang der Möglichkeiten deutlich, die dem Architekten als Schöpfer sozialer Kontakträume gegeben sind. Le Corbusier ist die Persönlichkeit, sich eine derartige Einflußnahme Zutrauen zu dürfen.

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