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Hamburg - Rom: Flach durch den Brenner

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Der Inhalt des „Furche“-Aufsatzes vom 14. Juli 1956 „München—Innsbruck in 40 Minuten. Projekt DreSler — ein europäisches Anliegen“ wird als bekannt vorausgesetzt. Die Berichtigung der angegebenen Neigungsverhältnisse als Promille (statt Prozent) sowie einige zeichnerische Erläuterungen (Längenprofil, Lageskizzen), wofür bei der damaligen Veröffentlichung der Platz fehlte, seien hiermit nachgetragen. Insbesondere werden aber die bisherigen Studienergebnisse hinsichtlich Trassenführung, technischer Realisierbarkeit, Schutzes jener Kultur-, Wirtschafts- und Landschaftswerte, die eines Schutzes wert und bedürftig sind, Erfordernisse totaler Verkehrs- analysierung und vor allem europäischer Zusammenarbeit nochmals in das Gedächtnis zurückgerufen.

Bundesminister Dr. Fritz Bock begründete in der „Furche“ Nr. 52 vom 22. Dezember 1956, „Wirtschaft zur Jahreswende“, die Inangriffnahme der generellen Trassen p 1 a n u n g der Autobahn von Wien über Wiener Neustadt- Graz—Klagenfurt zur italienischen Grenze bei Tarvis sehr richtig damit, daß — „unbeschadet des tatsächlichen Baubeginnes“ — diese Planung aus verschiedenen Gründen nicht früh genug anlaufen kann. Die gleiche Begründung gilt ebenso für den gleichfalls erfolgten generellen Planungsauftrag für eine Fernstraße (Autobahn) Rosenheim—Kufstein—Innsbruck-

Brenner und würde genau so, wenn im Grunde nicht noch dringender und berechtigter, für einen generellen Planungsauftrag für eine europäische Fernbahn (Flach- und Schnellbahn) Hamburg- Rom gelten. Beweis: Dit vielen ernsthaften Bemühungen um die Schaffung kürzester, ganzjährig betriebssicherer Nord-Süd-Verbindungen durch die Alpen, unter denen das vom Basler Ingenieur Eduard Grüner vorgelegte und in der „Stuttgarter Zeitung“ vom 1. Dezember 1956 besprochene Projekt eines 50 km langen Bahn-Straßen-Tunnels Amsteg—Biasca durch den St. Gotthard (2112 m) sozusagen als der letzte Schrei bezeichnet werden kann.

Schiene und Straße können und sollen sich in gegenseitiger Zusammenarbeit zweckmäßig ergänzen und entlasten. Anlagemäßig sollen sie aber grundsätzlich getrennt bleiben. Um so besser können sie sowohl ihren gemeinsamen als auch ihren verschiedenen Zweckaufgaben im Personen- und Güterverkehr, Fern- und Nahverkehr, Tag- und Nachtverkehr, Sommer- und

Winterverkehr, Ausgleich- und Spitzenverkehr gerecht werden.

In einem vereinigten Europa ist der zeitgemäße Fern bahn- und Fern Straßen- ausbau nicht nur der St.-Gotthard-Linie, sondern auch der Brennerlinie politisch, wirtschaftlich, technisch und finanziell vertretbar und möglich: in einem uneinigen Europa wird keiner oder werden nur noch weniger unbefriedigende Bruchstücke zustande kommen.

Wesentlich ist die Aufstellung eines Gesamtkonzeptes, einer Rangordnung und eines Aus- führungs- und Finanzierungsplanes für abschnittsweise Verwirklichung, vor allem hinsichtlich Dringlichkeit und Wirtschaftlichkeit.

Wenn einigermaßen weitschauend und klassisch-europäisch geplant wird, werden im Schienenfernverkehr auf europäischen Hauptlinien Streckengeschwindigkeiten von 60 bis 90 Stundenkilometer auf die technisch praktisch zulässige Höchstgrenze von etwa 200 km/h gesteigert; das heißt aber, statt Steilrampen von 25 bis 32 Promille Neigung nur noch flache Neigungen bis zu 8, höchstens 10 Promille, statt Krümmungen von 240 bis 280 m Bogenhalbmessern nur noch solche über 1000 oder 1500 m auf der freien Strecke zuzulassen. Moderne Zugförderung, moderner Fremdenverkehr, moderne Massengüterbeförderung verlangen heute einen ganzjährig garantierten, einfachen, sicheren, schnellen, hindernislosen Durchgangsverkehr.

Betrachten wir den mitteleuropäischen Raum zwischen der großen Auffanglinie im Westen der Alpen (etwa die Rhone-Seine-Linie Marseille—Dijon—Paris—Le Havre) und zwischen jener im Osten (etwa die Isonzo-Weichsel- Linie Triest—Villach—Wien—Breslau—Posen—

Danzig). Um mit Dr. techn. August Dreßler zu sprechen: Die zwei Hauptschienenquerungen der Alpen bleiben immer die Gotthardbahn und die Brennerbahn. Im europäischen Nord-Süd- Ferndurchgangsverkehr werden Mt. Cenis, Sim- plon, Tauern und Phyra—Schober immer zweitrangige Alpenbahnen bleiben. Um so begründeter ist aber der Flachbahnausbau der St.-Gotthard- Linie und der Brennerlinie. Denn erstere endet nicht in Mailand, Genua, Zürich oder Basel, letztere nicht in Verona, Rom, München, Nürnberg oder Berlin. Der Einfluß eines klassischeuropäischen Ausbaues beider Linien auf Flach- und Schnellbahn würde über die ihnen zugeordneten Industriegebiete an Po, Rhein, Weser, Elbe und Oder sowie über die ihnen zugeordneten Mittelmeer-, Nord- und Ostseehäfen noch weit hinausreichen. Beim Bestehen der vielen und vielfach wechselseitigen Beziehungen könnte in engster übernationaler Zusammenarbeit die eine Linie sozusagen gleichberechtigte Partnerin und Vertreterin der anderen und umgekehrt sein, weil dann beide Linien am besten ausgelastet sind.

Auch und gerade im Zeitalter der Technik müssen Eisenbahn- und Straßen-, Tunnel- und Kraftwerksbauten ebenso wie die großartigsten Brücken- und Hochbauten als Teile jener klassischen Baukunst angesehen werden, deren oberstes Gesetz immer die Harmonie zwischen Zweck, Funktion, Konstruktion, Form und Landschaft ist, welche den wertbeständigen Geist des Schöpfungsauftrages, sich die Erde untertan zu machen, atmet, jenen Geist göttlichen Rechtes und bewährter Weltordnung, der die Materie und jeden Ungeist beherrscht, der nicht Sklave der Technik, sondern freier Ideenträger ist. Der klassische Bau des Kölner Domes ist trotz seiner durch mehr als sechs Jahrhunderte sich hinziehenden Bauzeit ein Bauwerk von unsterblichem, zeitlosem Wert, von einheitlichem europäischem Gepräge geworden. Das ursprüngliche Konzept, der von Meisterhand entworfene klassische Bauplan, wurde zwecks Vollendung nach 600 Jahren noch anerkannt. Bauunterbrechungen von Jahrzehnten; ja von Jahrhunderten spielten keine Rolle. Die Idee siegte.

Die ebenfalls klassische, vor mehr als 100 Jahren erbaute Hochfinstermünzer Straße Prutz—Nauders könnte heute nicht besser angelegt werden.

Klassisch und bahnbrechend im eigentlichen Sinn des Wortes und zu ihrer Zeit waren auch die ersten großen Gebirgsbahnbauten (Semmering, Brenner, Arlberg, St. Gotthard u. a.), nur genügen sie heute den Anforderungen nicht mehr.

ln unserem Zeitalter der Technik, wo schon ganze Kontinente sich näherrücken, ist es ohne weiteres vorstellbar, daß der europäische Kontinent in erster Linie an einer Schnellfernverbindung seiner eigenen Wirtschaftsgebiete, wie oben skizziert, ein lebhaftes Interesse kundtut, daß zum Beispiel skandinavische Länder gerne bereit sind, zum Bau eines Wetterstein- und Brenner-Basisflachbahntunnels wegen des Vorteiles einer namhaften Weg- und Zeitverkürzung in die Poebene, nach Venedig, Florenz, Rom und Neapel, Beiträge zu leisten, am Bau eines Brenner-Scheitel- oder Basisstraßen tunnels mangels eines wirtschaftlichen Vorteiles aber keinerlei Interesse zeigen, abgesehen davon, daß jede Fern Straße besser, schöner, billiger und ebenso wintersicher auf historischen Spuren oberirdisch über die nur 1370 m hohe Brennersenke geführt wird als unterirdisch.

Wenn der Basler Ingenieur Eduard Grüner damit rechnet, daß ein 50 km langer, kombinierter Bahn-Straßen-Tunnel durch den St. Gotthard jährlich von 300.000 bis 500.000 Autos benützt wird, um durch diese große Zahl die Unterhaltskosten und den Kapitaldienst sicherzustellen, so dürfte er damit wohl zu wirklichkeitsfern rechnen und übersehen, daß die Montblanc- und Bernhardin-Straßentunnel vor einem St.-Gotthard-Straßentunnel den Vorrang einnehmen. Ein zweistöckiger kombinierter Bahn- Straßen-Tunnel mag, bevor er die Alpen unterfährt, eher den Aermelkanal queren, abgesehen davon, daß im Gebirgstunnelbau vor allem der Gebirgsdruck als Naturerscheinung vorschreibt, den Ausbruchquerschnitt so klein wie möglich zu halten.

So bleibt die Hoffnung, daß am selben Tisch, an dem heute schon höchste und maßgebenste Politiker, Wirtschaftler und Finanzfachleute in unser aller ureigenstem Interesse über die schrittweise Schaffung unseres vereinigten Europas zu Rate sitzen, bald auch Europas beste Techniker, Naturwissenschaftler und Baufachleute sitzen werden, um Europas Verkehrswesen klarer, organischer, einheitlicher und einfacher zu gestalten, um beispielsweise mit dfer Planung und abschnittweisen Schaffung einer Flach- und Schnellbahn Hamburg — Rom einen wichtigen Fundamentbaustein eines vereinigten Europas zu legen helfen.

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