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"Latente Utopien", die große Architekturschau im "steirischen herbst", entwirft Räume der Zukunft.

Fremdkörperforschung betreibt der diesjährige "steirische herbst". Das Fremde und Körperliche übersiedelt dabei in eine große Ausstellung. Internationale Baukünstler inszenieren dort multiple Formen von Architektur und umwerben selbstbewusst ihre zukünftigen Bewohner. So verführen vier kokonartige Polypropylenhülsen, an der Innenseite mit neuen, visuell weichen Materialien bezogen, gekonnt mit Mutterbauchästhetik. Zur Restwelt, insofern diese noch gefragt ist, steht man digital in Verbindung. Karim Rashid (USA), einer der derzeit gefragtesten Industriedesigner, schuf eine Welt der Wattebäuche für das globale Dorf der immer schneller und härter werdenden Informationsgesellschaft. "WOOM-the world room" präsentiert die neue Weichheit und Zwanglosigkeit, nach der wir uns offenbar sehnen.

Meditative Utopie

"Liquid Lounge", ein meditativer Entwurf des österreichischen Designers Andreas Thaler für die Architekturausstellung, fügt sich schmeichelhaft in ein Rondeau. Als kollektiver Ruheplatz gedacht, friert diese Rauminstallation gleichsam einen "Wassermoment" ein: Ein Tropfen trifft auf eine glatte Wasseroberfläche und schlägt Wellen in Form konzentrischer Ringe; diese bilden die Sitz- und Gehflächen des Raumobjekts. Wie Schaumstoffwellen gleiten sie an den Wänden hoch, begleitet von Wasserbildern und Wassergeräuschen. Andernorts atmet die Architektur. Dachdeckungsmaterial, ausgelegt am Boden und an Wänden, wird über Computersteuerung beatmet. Beulen, Blasen und Falten bilden sich, wenn der schwarze Gummi aufgeblasen wird. Eine mögliche Utopie oder doch nur eine verborgene Intensivstation?

Sehgewohnheiten ändern

Das französische Büro dECOI experimentiert wiederum mit den Sehgewohnheiten der Besucher und verschlingt, mit Hilfe digitaler Systeme, freie Formen für befreite Menschen. Der Traum vom flexibilisierten Menschen wird hier geträumt. Und das latent in allen Projekten. 26 Architekten bzw. Architektengruppen teilen sich 13 Räume. Idee und Vorgabe der Kuratoren Zaha Hadid und Patrik Schumacher war, experimentelle Architektur sowie Projekte im Entwurfstadium aus dem internationalen Unterrichtszirkus nach Graz einzuladen. Der Besucher ist, anders als in gewöhnlichen Bauaustellungen, eingeladen, neue ästhetische Erfahrungen zu machen. Vieles kann dabei auf die Probe gestellt werden. Man durchstreift, ganz im Sinne Patrik Schumachers, ein neues Universum der Materialien und Medientechnologie; "schenkt" diesen Baugebilden Bedeutung(en); selektiert im günstigsten Fall diese "Mutationen" der internationalen Architektenschar für die spätere Reproduktion (Projektumsetzung).

Zaha Hadid und Patrik Schumacher sehen die Ideen der Architektur der sechziger und siebziger Jahre hier "ironisch verfremdet". Hatte man vor 35 Jahren strukturell ein Baukastensystem angeboten, sähe man sich heute einem "Raumkontinuum" gegenüber. Und genau das verbindet so unterschiedliche Disziplinen wie Biowissenschaften, Nanotechnologie und die Expansion im Internet. Raumlos sind die meisten sich im Umlauf befindlichen Utopien. Scheinbar ist die "Eliminierung des Raumes" das gemeinsame "utopische Moment". Schwebebauten der Zukunft spielen mit amöbenartigen Raumzonen, Verdichtungen und fließenden Übergängen ebenso wie mit Hybridformen, in denen Identitäten verschwimmen. Der von der Schar der Architekten erträumte flexibilisierte Mensch bevorzugt nicht den geschlossenen Raum, sondern lebt in offen bestimmten Raumhüllen. Just dies bezweifelt die österreichische Architekturgruppe propeller z mit ihrem Beitrag; "Möglicherweise utopisch" nennt sie ihr aus Spanplatten hergestelltes raupenähnliches Tunnelgebilde. Die Frage nach den latenten Utopien beantwortet propeller z mit Architektur selbst. Exakt für einen bestimmten Raum geschaffen und für eine vorherbestimmte Dauer entwickelt, hält diese Arbeit "Momente des Utopischen" fest. Dem Betrachter und Betaster ermöglicht dieses architektonische Gebilde, "möglicherweise utopische Funktionen und Erfahrungen zu testen".

Konkrete Projekte

Propeller z sind nicht die einzigen in dieser großen Schau, die die Utopie von ihrem Inseldasein befreien. Anhand aufwändiger Modelle begegnet man "konkreten Projekten". Da wäre zum Beispiel Lars Spuybroeks (NOX/NL) geplante Konzert- und Ausstellungshalle für Nancy (geplante Eröffnung 2005). Eine metallfarbige Oberfläche wird dabei zu einem Raumkörper hochgehoben und durch dieses Hochbiegen in einzelne Streifen und Spalten zerrissen. Eine poröse Architektur entsteht.

Neues World Trade Center

Die Neufassung des World Trade Centers "ObliqueWTC" war als Beitrag für eine von Max Protetch initiierte Ausstellung in seiner New Yorker Galerie nach dem 11. September gedacht. Mehrere sich flexibel verzweigende Elemente, die aufstrebend eine hohe, sehr porös wirkende Beinskulptur darstellen, ersetzen die zwei Türme. Auch die englische Architektengemeinschaft Foreign Office Architects entwarf einen "Bundle Tower" als Antwort für den Wiederaufbau von Ground Zero. Nicht als Denkmal entworfen, sondern "mit dem Ziel, dem kapitalistischen Raum, der in ständiger Expansion und Veränderung begriffen ist, eine neue Gestalt zu geben" zogen sie einen neuen Hochhaus-Prototyp in den Himmel. COOP Himmelb(l)au prolongiert die Zukunft der herrlichen Trostlosigkeit. "Gut ist, was akzeptiert werden muss", ist im Katalogbeitrag zu lesen. Man sieht von ihnen unter anderem ein galaktisches Museumsprojekt, entworfen für Lyon. Als beeindruckend poetisch und raffiniert erweist sich der architektonische Beitrag der österreichischen Partner Pichler & Traupmann. Ihr Projekt "MALINA 3" räumt Bachmanns Wandwahn - "Ich bin an die Wand gegangen, ich gehe in die Wand ..." - einen Platz ein. Den im Joanneum vorgefundenen fünfeckigen Grundriss mit drei Türöffnungen und einer Fluchttür verwendeten die beiden Architekten, um einen Tür-Wand-Raumkörper zu kreieren, der weder den alten Unraum noch die neu entstandenen Unräume wirklich erkennen lässt. Jeder eingeschlagene Weg den Raum zu queren bringt entscheidende Konsequenzen mit sich. Wie ein Spielball wird man an der nächsten Ecke aus der Bahn geworfen.

Zaha Hadids hausgemachter utopischer Beitrag wirft sich als großes Wandrelief - "Domestic Wave" - an die Seite eines Ausstellungsraums. Die Wohnung der Zukunft fädelt nicht mehr Raum an Raum; sie wird aufgebaut aus vielen Schichten, die sich schlängeln, Falten, Nischen und Mulden freigeben; eine für das Waschbecken, eine andere Aussparung für das Bettsofa.

Nach so viel lässiger Häuslichkeit im Zufall der sanften Wand kommt einem mit guten Grund die Latenz gespielt vor. In diesen aufwändig gestalteten Räumen wird viel (mitunter einer gesellschaftlichen Vision nach)gespürt. Vor allem aber betritt die Architekturavantgarde selbst ihre schwebenden Gegenwelten (viele darunter in Blasenform) als "deus ex machina". Und das stimmt bedenklich.

Latente Utopien

Bis 2. März 2003 im Landesmuseum Joanneum/Graz. Öffnungszeiten: Di-So 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr. Der Katalog "Latent Utopias, Experiments within Contemporary Architecture"(Hg. Zaha Hadid, Patrik Schumacher) kostet e 34,-

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