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Kairo platzt aus den Nähten

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Am Beispiel Kairo wird deutlich, was Verstädterung in der Dritten Welt bedeutet: Die Städte verlieren ihre Struktur, sie werden unsteuerbar.

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Am Beispiel Kairo wird deutlich, was Verstädterung in der Dritten Welt bedeutet: Die Städte verlieren ihre Struktur, sie werden unsteuerbar.

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Schon über 13 MilUonen Menschen drängten sich 1987 in Kairo auf einer Fläche von 150 Quadratkilometern, uiid dies bei 50 Millionen Ägyptern im ganzen Land. Wie sehr sich hierbei die Einwohnerstruktur verzerrt, indem die Volksmassen in geradezu erschreckender Dichte bevorzugt an wenigen Orten leben (außer in Kairo noch in Alexandria mit rund drei Milhonen Einwohnern), zeigt erst ein Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland. Dort, bei 62 Millionen Gesamtbevölkerung, sind die Ballungsräume - an ägyptischen Verhältnissen gemessen - klein, dagegen weit gestreut: so Berlin (West) mit 2,02 Millionen Einwohnern, Hamburg mit 1,6 MiUionen, München mit 1,4 Millionen, \rm nur die größten zu nennen.

Viele Zuwanderer finden in Kairo keine Wohnung; sie ziehen zu Freunden und Verwandten in die ohnehin schon engen, baufäUigen Häuser der Medina oder in bereits abgewirtschaftete moderne Wohnblocks; sie bevölkern auch zu Tausenden die Flachdächer, wo sie unter freiem Himmel ihr Essen kochen und schlafen. Andere mieten für ein paar Piaster Schlafplätze in den Slimis, wo ein Bett an drei Schläfer vergeben wird, die im festgelegten Turnus schichtweise das ärmliche Matratzenlager benutzen müssen.

Weim man abends durch die Medina von Kairo geht und emen Bhck durch die Fenster in die heUerleuch-teten Räume wirft, daim sieht man die meist schlauchartig engen, niedrigen Zinmier gesteckt voll von

Menschen. Man kann sich vorstellen, daß dort die Böden nachts dicht mit Matratzen belegt sind; Platz für eine Intimsphäre in unserem Sirm ist da undenkbar. Im Stadtteil Bab ash-Sharya, dem „Tor des Gesetzes", drängen sich, so schätzen die Statistiker, auf jedem Quadratkilometer an die 153.000 Menschen in unwürdigsten Wohnverhältnissen - dies ist selbst für übervölkerte Slums ein Rekord, zählt man doch im Altstadtzentrum von Kalkutta pro Quadratkilometer „nur" 50.000 Menschen. (Im Vergleich dazu eine westdeutsche Großstadt: In Frankfurt kommt man bei der gleichen Fläche auf 2.900 Einwohner

Kairo platzt endgültig aus den Nähten. Seit die Irmenstadt nicht mehr fähig ist, neue Zuwanderer aufzunehmen, strömen Wohnungssuchende in die ausgedehnte Gräberstadt der Mamluken-Sultane, in deren Gewölbe bisher nur die Toten ihre Bleibe hatten; heute schätzt man die Zahl der dort Wohnenden auf 600.000, so habe ich mir von Ägyptern sagen lassen. Weitere Zehntausende leben in dürftigen Zelten oder in ausrangierten Bussen der städtischen Verkehrsbetriebe, die Ärmsten der Armen aber auf den Müllkippen im Osten der Stadt.

Kairo ist von den Städteplanem der dreißiger Jahre auf höchstens zwei bis drei MiUionen Einwohner angelegt worden; Straßen, Plätze, Kanahsation und Stromversorgung waren für diese Dimensionen konzipiert.

Defekte Wasserrohre werden aus Geldmangel nicht repariert, neue Rohre für die rasch wachsenden

Wohnviertel und Slums am Stadtrand gar nicht mehr gelegt; das Stromnetz ist überlastet und bricht bei der Überaltenmg seiner Leitun-pn irmner häufiger zusammen. Wo rüher die Straßen sauber waren, stinken heute oft genug trübe Wasserlachen nichtkanalisierter Abwässer, kommt die MüUabfuhr bei der AbfaUbeseitigung nicht mehr nach. Deuthch sichtbar entgleitet der Stadtverwaltung die Kontrolle über diesen immer unförmiger werdenden Stadtkoloß; Kairo droht unre-gierbar zu werden - oder ist es bereits.

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