Kommune samt Ziegenstall

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"Die Charakteristika des Bestands führen bei einem Umbau oft zwangsläufig zu originellen Lösungen, zu etwas Einzigartigem.

Eine Vereinsamung oder gar Isolierung -ob von Kindern und Jugendlichen, ob von Alleinstehenden, von alten oder behinderten Menschen - ist bei diesem Modell so gut wie ausgeschlossen."

Mehr als 2000 Bauernhöfe verlieren in Österreich alljährlich ihre Funktion. Meist dienen sie ihren Eigentümern noch als viel zu große Wohnhäuser. Doch sind sie ohne wirtschaftliche Auslastung über kurz oder lang von Verfall bedroht -was einen unwiederbringlichen Verlust bedeuten würde. So sind etwa die großen Vierkanthöfe im nördlichen Alpenvorland Ober-und Niederösterreichs seit Jahrunderten prägender Bestandteil der Kulturlandschaft. An die 13.000 gibt es von diesem meist zweigeschoßigen Hoftyp, der einen rechteckigen Innenhof umschließt und in seiner Stattlichkeit mitunter an Schlösser oder Klöster erinnert. Diese Analogie drängt sich bei dem 1459 erstmals urkundlich erwähnten Gutshof "Mayr auf der Wim" in Garsten, unweit der alten Industriestadt Steyr, umso mehr auf, als er im Eigentum des Bistums Linz steht und auf einem Hügel über dem Ortszentrum, genau in der Achse einer barocken Stiftskirche thront.

25 Jahre lang war das bischöfliche Anwesen ohne Funktion und dementsprechend heruntergekommen, zumal sich kein Pächter mehr für seinen landwirtschaftlichen Betrieb gefunden hatte. Alternative Nutzungskonzepte scheiterten an mangelnder Rentabilität, an der Baubehörde oder am Denkmalamt, das die älteren Gebäudeteile mit ihren Spitzkappengewölben und Böhmischen Platzlgewölben, den Stuckaturen, Sgraffiti und Wandmalereien aus dem 16. Jahrhundert unter Schutz gestellt hatte. Eher zufällig fragte die Diözese 2012 den Linzer Architekten Fritz Matzinger, ob nicht er eine Nutzungsidee hätte. Der heute 76-jährige Wohnbaupionier brauchte nicht lange zu überlegen, zumal die historische Hofform ziemlich genau jenem Typus entspricht, den er -meist mit Baugruppen - schon drei Dutzend Male neu errichtet hat.

Nachbarschaftliches Wohnen

Für sein Modell des nachbarschaftlichen Wohnens hatte Matzinger in den frühen 70er-Jahren das sogenannte Atriumhaus entwickelt. Dabei bilden üblicherweise acht zweigeschoßige Reihenhäuser in geschlossener Bauweise einen Innenhof, das Atrium, das bei Schönwetter offenbleibt und sonst durch ein Glasdach geschützt wird. Dieser Gemeinschaftsbereich funktioniert wie ein Dorfplatz, auf dem die Bewohner einander tagtäglich begegnen. Denn die Reihenhäuser sind über das Atrium erschlossen, sodass man sich über den Weg läuft, wann immer man die eigenen vier Wände verlässt. Ohne vorherige Verabredung spielen Kinder hier miteinander, kommen Erwachsene ins Gespräch oder trinken gemeinsamen Kaffee. Sobald sich daraus Freundschaften entwickelt haben, trifft man sich im Atrium, um zu grillen, Geburtstage zu feiern, Konzert-und Filmabende zu veranstalten, gemeinsam zu turnen oder zu tanzen.

Pragmatische Umnutzung

Der 54 Meter lange und 30 Meter breite Vierkanter in Garsten bot Matzinger genügend Potential, um darin in ausreichender Menge Wohnungen sowie die für sein Konzept wichtigen Gemeinschafträume zu realisieren. Der Innenhof wiederum war für ein attraktives Atrium wie geschaffen. Und da der Architekt seit Langem eine Warteliste mit Interessenten an seinen Projekten führt, war auch die Baugruppe bald gefunden. Als deutlich komplizierter erwies es sich, all die statischen, baurechtlichen oder auch finanziellen Fragen zu klären, die sich beim Umbau historischer Substanz jedes Mal neu stellen -und den Planungsaufwand massiv erhöhen. Zudem war eine Umwidmung der Liegenschaft durch die Gemeinde erforderlich. Und es galt, die Planungen mit dem Denkmalamt abzustimmen, was langwierige Verhandlungen und so manchen Kompromiss bedeutete. Nach Abschluss des Baurechtsvertrags mit dem Bistum, das der Gruppe für die nächsten 96 Jahre die - für Durchschnittsverdiener leistbare -Nutzung des Hofs samt umliegender Grünflächen gewährte, konnten die Bauarbeiten im Herbst 2015 beginnen.

In eineinhalb Jahren Bauzeit wurden alle denkmalgeschützten Trakte saniert und dabei auch zahlreiche überformte Architekturdetails freigelegt. Einen jüngeren, baulich minderwertigen Trakt musste Matzinger indes komplett ersetzen. Veränderungen aus dem 20. Jahrhundert wurden entfernt oder pragmatisch umgenutzt: So dient der vor wenigen Jahrzehnten betonierte Kuhstall nun als Garage. Von den zwanzig ein-und zweigeschoßigen Wohnungen gleicht keine der anderen, und das nicht nur der individuellen Bewohnerwünsche wegen. Während im Wohnungsneubau mitunter krampfhaft versucht wird, mit exaltierten Kunstgriffen gegen die Belanglosigkeit heutiger Architektur anzukämpfen, führen bei einem Umbau die Charakteristika des Bestands oft zwangsläufig zu originellen Lösungen - die den Nutzern etwas Einzigartiges bescheren und die Geschichte des Hauses am Leben erhalten.

Besondere Hinwendung erfuhr der Freiraum, dessen Begrünung wenige Monate nach Bezug des Hauses freilich erst am Beginn steht: Jede Wohnung verfügt über eine eigene Terrasse vor dem Haus, zu der man aus dem Obergeschoß direkt über Laubengänge und Außentreppen gelangt. Eine Ausnahme bilden die Maisonetten auf der Nordseite: Für sie schnitt der Architekt hofseitig Terrassen aus dem Dach aus, wodurch diese Wohnungen zumindest im Dachgeschoß Sonne von Süden erhalten. Umgeben wird das Gebäude von 8000 Quadratmetern gemeinschaftlichen Grünlands, der einem Bauerngarten, einer Obstwiese und sogar einem Ziegengehege Platz bietet -inmitten einer hügeligen Landschaft aus Feldern, regionstypischen Mostobstbäumen und anderen Vierkantern.

Im Innenhof erschließt eine beinah umlaufende Galerie das obere Stockwerk und stellt -so wie die als Balkone genutzten Laubengänge draußen -nicht nur einen Zugang, sondern eine Erweiterung des Wohnraums dar. Hier finden sich Zimmerpflanzen, Bücherregale, ein Schaukelstuhl oder ein Heimtrainer an der Schnittstelle zum Gemeinschaftsbereich, dem 30 mal 15 Meter großen Atrium. Das Herz der Anlage wird auf seiner gesamten Länge von einem Schwimmkanal durchzogen. "Der Swimmingpool ist seit jeher ein Fixpunkt meines Konzepts", erklärt Fritz Matzinger, "da er die Menschen zusammenbringt und in entspannter Atmosphäre miteinander kommunizieren lässt." Weiters finden sich im Hof eine Gemeinschaftsküche mit einem großen Tisch und am anderen Ende eine Art Café für kleinere Runden. Dazwischen ist viel Platz für Pflanzen, die jetzt noch aus Töpfen wachsen, bald aber schon aus der Erde sprießen und das Atrium in einen üppigen Wintergarten verwandeln werden.

"Wir leben hier nicht anonym"

"Wir wohnen hier am Land und brauchen doch nur zehn Minuten in die Stadt", begründet Rudolf Pilat, einer der beiden Geschäftsführer der Baugruppe, die Entscheidung seiner Familie wie auch der meisten anderen, mehrheitlich aus der Region stammenden und in Steyr arbeitenden Bewohner für das Projekt und seinen Standort. "Wir leben hier nicht anonym, können uns in die Dorfgemeinschaft integrieren und sind auch näher am kommunalpolitischen Geschehen als in der Stadt." Ursächlicher Beweggrund für die durchaus heterogene Gemeinschaft aus Singles, Alleinerziehern und klassischen Familien hierherzuziehen, war aber die soziale Dimension von Matzingers nachbarschaftlichem Konzept: Eine Vereinsamung oder gar Isolierung -ob von Kindern und Jugendlichen, ob von alleinstehenden Erwachsenen, von alten oder behinderten Menschen -ist bei diesem Modell so gut wie ausgeschlossen.

Das gesellschaftliche Phänomen der Vereinzelung beschränkt sich längst nicht mehr auf die urbanen Zentren. Doch stoßen gemeinschaftliche Wohnformen als probates Gegenmittel am Land bisher auf Skepsis. Matzingers Prototyp bricht hier eine Lanze für Alternativen zum klassischen Einfamilienhaus -mit nicht nur kommunikativem, sondern auch ökologischem, ressourceneffizientem Qualitätsanspruch. Und nicht zuletzt führt er vor Augen, wie der weiteren Zunahme des landwirtschaftlichen Leerstands bei gleichzeitig wachsender Bevölkerungszahl und Baulandvergeudung sinnvoll begegnet werden kann.

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