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Krankheit und Gesundung von Wien

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Beweis für die Krankheit der Stadt ist ihre Geburtenarmut. Wenn Wien wieder g e- sunden soll, dann braucht die Stadt einen größeren Entwicklungsraum, dessen Grenzen im folgenden beschrieben werden sollen. Wir beginnen im Norden und gehen im Sinne des Uhrzeigers um die Stadt. Die Großbuchstaben beziehen sidi auf die beigegebene Skizze und bezeidinen Räume, die jeweils mehrere Gemeinden umfassen.

Raum A: Im Norden von Wien bildet der Bisamberg die deutliche Trennung zwi schen dem Wiener Becken und dem Korneuburger Becken. Korneuburg ist Hauptort eines vorwiegend landwirtschaftlichen Bezirkes von Niederösterreich, seine drei Nadi- bargemeinden Bisamberg, Klein-Engcrsdorf und Flandorf, sind vorwiegend bäuerlich, wurden 1938 zu Unrecht eingemeindet und sollen an Niederösterreich zurückkehren.

Raum B: Die Gemeinden am Süd- und’ Ostfuß des Bisamberges von Lang-Enzcrsdorf über Stammersdorf bis Enzesfeld gehören zum Wiener Becken, und zwar zu dessen landschaftlich und klimatisch besonders begünstigtem Randbereich. Wird das Stadtbahnnetz bis dorthin ausgedehnt, wofür Projekte vorliegen, dann besteht in diesem Raum die günstigste Gelegenheit zur Anlage einer nördlichen Tochterstadt von Wien. Die Eignung zum Siedlungsgebiet in Flachbauweise mit Eigengärten ist ähnlich groß wie am Gebirgsrand von Mauer bis Mödling, wo in den letzten Jahrzehnten eine Tochterstadt entstand, leider im Wege des Fortwursteins ohne Planung.

Raum C; Die Marchfeldgemeinden Geras- dorf, Seyring, Süßenbrunn und Breitenlee wurden zwischen 1918 und 1938 namentlich entlang der Zweiglinie der Ostbahn derart von Arbeitersiedlungen durchsetzt, daß sie ihren vordem bäuerlichen Charakter verloren. Da dieser Raum auch für die Anlage eines künftigen Großflughafens am besten geeignet erscheint, wird seine Eingemeindung befürwortet.

Raum D: Die durch die Straßenbahn erschlossenen Gemeinden Eßling und Groß- Enzersdorf sind heute von wilden Siedlungen derart umgeben, daß eine Sanierung notwendig ist, die nicht dem Land Niederösterreich angelastet werden kann. Die Siedler sind durchweg in Wien beschäftigt.

Raum E: Oestlich von Groß-Enzersdorf liegen zwölf Gemeinden im unteren March- feld, die 1938 ohne jeden vernünftigen Grund eingemeindet wurden. Sie zählen noch heute bis zu 70 Prozent landwirtschaftlich tätige Bevölkerung und sollten, selbst wenn sich der städtische Gemüsebau immer mehr hierher verlagern sollte, zu Niederösterreich zurückkehren.

Raum F: Wenn man in Wien ernstlich an eine Industrieverlagerung denkt, dann kommt als künftige Schwerlinre eines neuen Industriegebietes vor allem das Schwechattal und die Simmeringer Heide in Betracht. Der Raum vom Donauhafen Albern bis Himberg ist schon heute durch mehrere Bahnlinien er schlossen. Ein Donaukraftwerk ist in diesem Raum geplant, durch den Stau könnte eine Wasserstraße im Schwechattal und eine schleusenfreie Querung der Donau zum Hafen Lobau ermöglicht werden. Dieser Raum sollte daher eingemeindet werden.

Raum G: Die Gemeinden des Fischatales und mittleren Schwechattales sind durch die Rauchenwarter Platte wirksam von Wien getrennt. Sie bilden Ausläufer des Haupt- industriegebietes von Niederösterreich im südlichen Wiener Becken und sollten zu Niederösterreich zurückkehren.

Raum H: Im Süden besteht eine überaus deutliche Naturgrenze, der Stadt Wien. Sie wird durch das Plateau des Anninger und den vorgelagerten Eichkogel gebildet. Auch

Schloß und Park Laxenburg gehören noch zum Südrand von Wien. Fährt man von Laxenburg zur Spinnerin am Kreuz, so überquert man zwei große, siedlungsleere, von weiten Zuckerrübenäckern bedeckte Platten, die Mödlinger und Liesinger Platte. Dieser Raum ist das weitaus wichtigste und größte Ausdehnungsgebiet der Stadt Wien. Nur hier sind große Tochterstädte möglich, nur hier besteht schon heute ein Nerz von wenig gebrauchten Schienen, die leicht an das Wiener Stadtbahnnetz angeschlossen werden könnten. Ohne Einbeziehung dieser Flächen ist eine Auflockerung Wiens unmöglich. Die Einwohner der Orte von Perchtoldsdorf bis Mödling haben genau gleiche Interessen wie die der Gemeinden von Mauer bis Liesing. Es ist nicht einzusehen, warum die einen an Wien angeschlossen, die anderen an Niederösterreich zurückgegeben werden sollen. Eine natürliche Grenze besteht nicht, eine planmäßige Verbesserung der Verkehrsverhältnisse und aller Arten der Versorgung ist notwendig, eine Aufgabe, die nur der Stadt Wien angelastet werden kann.

Raum J: Gumpoldskirchen und die westlich, anschließenden. Wienerwaldgemeinden von Gaaden bis Stangau gehören zum Einzugsbereich der Schwechat und zum Hinterland der Stadt Baden. Sie sind noch vorwiegend der Land- und Forstwirtschaft zugehörig und sollten zu Niederösterreich zurückkehren.

Raum K: Im Gegensatz dazu sind die Gemeinden am Liesing- und Mödlingbach derart eng mit Wien verbunden und von der fortschreitenden Ueberwältigung durch städtisdie Siedler bzw. Grundstückmakler bedroht, daß schon im Interesse der Erhaltung des Erholungsgebietes der Wiener ihre Eingemeindung gefordert werden muß.

Raum L: Die Gemeinden im Einzugsgebiet des Wienflusses wurden unbegreiflicherweise 1938 nicht nach Wien eingemeindet, obwohl sie nur noch wenig ländliche Bevölkerung aufweisen und die Mehrheit der Berufstätigen täglich mit Bahn oder Autobus in die Stadt fährt. Im Interesse der Erhaltung des Wienerwaldes, der Sanierung der Siedlungen, der Aufschließung für den Erholungsverkehr muß die Verlegung der Stadtgrenze auf die Wasserscheide zwischen Wiental und Tuilner Feld gefordert werden. Dafür spricht auch ein höchst aktueller Grund:

Wird die Autobahn durch die Baunzentalflucht gebaut, wie

Im Jahre 1938 wurden ohne vorher- gegangene Planung 97 Gemeinden in die Stadt Wien einbezogen und dadurch die Stadtfläche von 278 Quadratkilometer auf 1215 Quadratkilometer vergrößert. Dabei wurden Räume eingemeindet, die nicht nur gegenwärtig reines Bauernland sind, sondern es selbst bei starker Ausdehnung der. Stadt nodi lange bleiben werden.

Bei der Uebernahme der Besetzung Wiens durch die vier Alliierten wurden diese „Randgemeinden“ zwar von Wien abgetrennt, aber dennoch nicht an das Bundesland Niederösterreich zurückgegeben. Sie mußten seither eine Zwitterstellung einnehmen, die wenige Vorteile und viele Nachteile brachte.

Im Juli 1946 beschloß der Gemeinderat der Stadt Wien eine Neuabgrenzung, die aber von den Alliierten nicht einstimmig anerkannt wurde und daher auch bisher keine Wirksamkeit erlangen konnte. Kürzlich wurde nun die Stimmeneinhelligkeit erreicht und damit der Weg für die Neuabgrenzung frei. Dieses „Ncuwien“, in unserer Skizze mit punktierter Fläche dargestellt, umfaßt 414 Quadratkilometer und reicht von Stammersdorf bis Liesing und von Hadersdorf - Weidlingau bis Eßling.

Der Unterschied zwischen den beiden Vergrößerungen Wiens ist bemerkenswert: Während man 1938 eine Vergrößerung der Stadtfläche von rund 400 Prozent für notwendig hielt, will man sich 1946 bzw. 1954 mit einer Vergrößerung von nur rund 30 Prozent begnügen. Es besteht daher Anlaß zur Sorge, daß die Grenze von Neuwien ebensoviel zu eng gezogen ist, wie die von 1938 zu weit gezogen war. Eine ausführliche Begründung der neuen Grenze wurde unseres Wissens von der Stadtgemeinde nie bekanntgemacht. Es liegt daher die Vermutung nahe, daß für die Neuabgrenzung solche Gründe wegleitend waren, die der Volksmund unter den Bezeichnungen „Wahlgeometrie“ und „Steuerarithmetik“ zusammenfaßt. Wir wissen aus Erfahrung, daß derlei willkürliche Abgrenzungen sich zumeist binnen kurzem als Fehlplanungen erweisen.

Seit 1946 sind acht Jahre verflossen, und die Fachleute der Gemeinde Wien haben in diesen Jahren sorgfältige Untersuchungen darüber angestellt, wie die Stadt und das Leben ihrer Bewohner künftig besser gestaltet werden könnten. Es wurde im Stadtbauamt ein Acht-Punkte-Programm des sozialen Städtebaues für Wien aufgestellt (siehe Zeitschrift „Aufbau“ vom Juli 1953). Im Gegensatz zu den willkürlich angenommenen Gründen der 1946 beschlossenen Stadterweiterung besteht das Acht-Punkte-Programm durchwegs aus vernunftgemäßen Forderungen im Interesse aller Einwohner unserer Stadt. Wir nennen die acht Punkte in Kurzform:

WIEN BRAUCHT: 1. Einen höheren Wohnungsstandard, 2. Industrieverlagerung in bestimmte Zonen, 3. Auflockerung der allzudicht bebauten Viertel durch Grünflächen, 4. Gründung von Tochterstädten, die durch geeignete Verkehrsmittel erreichbar sein müssen, 5, aktive Bodenpolitik, die Neuanlagen geschlossener Stadtviertel erlaubt,

6. Sanierung der „wilden Siedlungen“,

7. Schutz des Wald- und Wiesengürtels,

8. Einführung der Landesplanung mit dem Zfel einer sinnvollen Nutzung des gesamten Bodens der Stadt,

Im folgenden soll bewiesen werden, daß diese acht Punkte nur verwirklicht werden können, wenn die künftige Stadtgrenze wesentlich weiter gezogen wird, als 1946 festgelegt wurde. Der beste

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