"Man kann sein Leben nicht planen"

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Das 'meuble plus' folgt der Wirklichkeit. Nur die wenigsten bleiben heute ihr ganzes Leben lang an einem Ort.

Außerdem hatte ich diese Erfahrung, Flüchtling zu sein. Ich musste mein traditionelles jüdisches Leben in Budapest 1944 aufgeben ... So realisierte ich, dass es unmöglich ist, zu planen.

Die größte Behinderung der politischen Utopien war, dass man sie den Leuten aufzwingen wollte. Utopien können nicht eingeführt werden.

Yona Friedman ist eine Legende in der Architekturszene. Seine Bücher und "realisierbaren Utopien" sind sehr einflussreich. In den 1950ern arbeitete er am Konzept seiner "Ville Spatiale", in den 1990ern reagierte er mit seiner Theorie der "Cloud infrastructure" als immaterieller Infrastruktur auf das Internet. Sein meuble plus, der Prototyp für eine sehr günstige, erweiterbare Basisbehausung für einen nomadischen Lebensstil, passt perfekt zu seiner Vision der "zerstreuten Stadt". Am 5. Juni - seinem 95. Geburtstag -wurde Yona Friedman mit dem renommierten Friedrich-Kiesler Preis ausgezeichnet.

DIE FURCHE: Welche Beziehung haben Sie zu Friedrich Kiesler und seiner Arbeit?

Yona Friedman: Kiesler ist natürlich sehr wichtig mit seiner Idee des endless house, des unendlichen Raums und mit seinem interdisziplinären Ansatz. Zu seiner Zeit waren seine Ideen unmöglich realisierbar, die Technologie war einfach noch nicht so weit. Die Cloud infrastructure ist heute eine Realität. Ich bin also sicher, wäre Kiesler 1923 geboren, so wie ich -er wäre mit mir auf einer Wellenlänge.

DIE FURCHE: Sie sind Jude. Ist Ihre Religion für Ihr Denken und Ihre Arbeit wichtig?

Friedman: Ich denke nicht, dass ich besonders daran gebunden bin. Aber wissen Sie, auf eine gewisse Weise ist auch das Christentum jüdisch. Jesus war nie Christ. Er war ein Jude. Für mich ist diese Idee des immateriellen Gottes wichtig. Aber das ist keine jüdische Idee. Man kann sie bei den Chinesen finden, den Taoisten, den Buddhisten Die Idee des Immateriellen ist sehr alt und hat eine sehr lange Tradition. Wenn ich also über die Cloud infrastructure spreche -die heutige Technologie -, dann ist diese auch immateriell.

DIE FURCHE: Sie denken also, das Immaterielle ist essentiell für die Architektur?

Friedman: Das Immaterielle ist essentiell für alles. Es ist unser Salz. Ich propagiere keine Objekte, ich propagiere eine Idee. Heute nutzen die Wissenschaften die Mathematik. Sie ist ein wesentlicher immaterieller Teil unserer operativen Erfahrung. Das Unendliche ist ein Schlüsselkonzept der Mathematik, die jüdische Tradition war damit sehr vertraut. Die jüdische Mystik erfand die Unendlichkeit. Die gesamte moderne Physik wäre ohne sie unmöglich.

DIE FURCHE: Architektur ist aber eine sehr materielle Disziplin. Wie passt da das Immaterielle dazu?

Friedman: Es ist möglich, dass Architektur sofort immateriell wird, aber wir sind noch nicht bereit dafür. Im Moment wird die Architektur immer ungeplanter, improvisierter. Das ist es. Ich persönlich verweigere immer, einen Plan zu zeichnen. Ich experimentiere und teste alles mit Modellen aus. Immaterialität ist der Gedanke, die Idee in Ihrem Kopf. Denken wir an das meuble plus, diese Art von Behausung oder Box, die ich entwickelt habe. Sie bekommen das meuble plus in einem Baukasten in einem kleinen Lieferwagen. Das Objekt, das man in Paris daraus gebaut hat, bestand aus 60 Basis-Einheiten. Es lag an Ihnen, wie Sie diese zusammenstellen.

DIE FURCHE: Dieser Raum des meuble plus: Ist das Ihre Antwort auf teure Mieten oder die Mobilität in der Gesellschaft? Warum haben Sie diese Form von Prototyp gerade jetzt entwickelt?

Friedman: Ich habe es aus meiner eigenen persönlichen Erfahrung heraus entwickelt. Die ganze Zeit stellte ich meine eigene Wohnung um. Sie war improvisiert. Außerdem hatte ich diese Erfahrung, Flüchtling zu sein. Ich musste mein traditionelles jüdisches Leben in Budapest 1944 aufgeben. Danach lebte ich ein Jahr in Bukarest, danach elf Jahre in Israel, später in Frankreich und arbeitete zur selben Zeit in den USA und in England. So realisierte ich, dass es unmöglich ist, zu planen. Man kann sein Leben nicht planen. Als ich ein Kind war, dachte jeder, dass das Leben planbar wäre. Ich hätte aber nie daran gedacht, dass eine meiner Töchter einmal in Kalifornien leben würde und die andere in Israel und ich selbst in China oder Japan oder Paris arbeiten würde. Wir müssen alle ständig improvisieren. Das meuble plus ist beim heutigen Stand der Technik das Maximum, das man machen kann. Ich wollte immer erklären, was mobile Architektur ist: Man kann diesen Raum des meuble plus überall aufbauen, wo man will. Nach dem Krieg war ich als Flüchtling in einem Flüchtlingslager. Meine Eltern und ich, wir waren zu dritt, wir hatten ein Zelt in einer bestimmten Größe. Es gab andere, die waren zu zehnt und hatten ein genau so großes Zelt. Sie hatten darin einfach zu wenig Platz. Das meuble plus kann unendlich aneinander gereiht oder aufeinander gestapelt werden. Man kann es genau so weit vergrößern, wie man es braucht.

DIE FURCHE: Aber wie wird es gebaut?

Friedman: Ich habe Instruktionen über die Größe gegeben -Sie wissen, es sind Ringe mit einem Durchmesser von zwei Metern, was genug Platz bietet, um an einem Tisch zu sitzen und auch noch darum herum gehen zu können. Es besteht oben aus einem Kreis und auch rundherum aus lauter runden Kuben, man kann damit tun, was man will. Man kann als Trennwand Glas dazwischen tun oder ein Holzpaneel. Es liegt ganz an Ihnen. Die Idee ist, einen leistbaren Raum für jeden zur Verfügung zu stellen, der von den Bewohnern selbst aufgebaut und gestaltet werden kann. In China kamen sie mit einem kleinen Lastwagen, vier Arbeiter bauten alle meuble plus in weniger als einem Tag auf. In Paris gestalteten sie die meuble plus so, dass sie mir nicht gefielen. Aber mein Geschmack spielt hier keine Rolle. Es ist ihr Haus, daher ist das ganz in Ordnung. Ich möchte nur die Idee weiter geben.

DIE FURCHE: Welche Auswirkung hat das Konzept der mobilen Architektur auf die Stadt?

Friedman: Das meuble plus folgt der Wirklichkeit. Nur die wenigsten bleiben heute ihr ganzes Leben lang an einem Ort. Die Menschen sind mobil. Die Dichte ist heute in einer Stadt nicht mehr nötig, wie ich erklärt habe: Das alte Konzept war, dass Dichte Sicherheit bedeutet. Heute ist es das Gegenteil: Dichte ist gefährlich. Denken Sie an Selbstmordattentäter. Früher bedeutete Dichte Beschäftigung. Aber heute arbeiten immer mehr Menschen von zu Hause aus. Es wird immer weniger Arbeit an einem bestimmten Ort erledigt. Auch für den sozialen Kontakt muss man heute keine Menschen mehr in großen Foren treffen. In Paris braucht niemand mehr die großen Foren. Die Leute treffen einander in kleinen Eck-Cafés und machen sich ihre Rendezvous in den sozialen Netzwerken aus. Ich nenne es die ,zerstreute Stadt' im Gegensatz zur alten verdichteten Stadt. Alles wird heute immateriell gelöst. Man kann eine ganze Fabrik von zu Hause aus, von einem Café aus, von irgendwo aus managen. Man kann auch seine Büroarbeit von zu Hause aus, von einem Café aus, von irgendwo aus erledigen. Die städtische Realität ist das, was ich das städtische Dorf nenne. Um das zu erklären: Ich hatte einen Hund. Wann immer ich diesen Hund äußerln führte, traf ich jemand, der mich grüßte. Doch sobald ich zwei Metro-Stationen weiter fuhr, war ich an einem fremden Ort. Das nenne ich dialogische Nachbarschaften. Ich denke, die ,verdichtete Stadt' wird aus lauter dialogischen Nachbarschaften bestehen. Ich habe ein gutes Beispiel: Den Strand. Sie gehen auf den Strand, legen ein Handtuch hin und werden sich in dessen Nähe aufhalten. Abends gehen Sie heim, und am nächsten Tag werden Sie ihr Handtuch nicht auf denselben Ort legen.

DIE FURCHE: Wie wird die Cloud Infrastructure unsere Wahrnehmung von Raum verändern?

Friedman: In den 1950ern musste ich harte Infrastruktur verwenden: Das Elektrizitätsnetzwerk, das Telefonnetzwerk, die räumliche Tragstruktur und so weiter. Heute kann man Elektrizität über Solarpaneele gewinnen, das Telefon hat man in der Hosentasche, in einer Stadt wie Paris trinkt man kein Wasser mehr, man kauft sich Wasserflaschen. In Erdbebenregionen müssen Menschen Wasserreserven anlegen, weil das Erdbeben all ihre materielle Infrastruktur zerstören wird. So wird die Infrastruktur immer immaterieller, außer die Biosphäre: die Erde unter Ihren Füßen, die Luft, der Regen, der Sonnenschein. Das ist die wirkliche Infrastruktur.

DIE FURCHE: Kiesler war ein utopischer Architekt. Sie sind auch ein utopischer Architekt. Worin liegt die Bedeutung der Utopie?

Friedman: Sie wissen, zwei meiner Bücher hatten den Titel: "Realisierbare Utopien". Utopien sind richtig, wenn sie realisierbar sind. Übrigens: sie realisieren sich von selbst, weil eine Utopie erst durch den sozialen Konsens realisierbar wird, wenn die Menschen sie einfach umsetzen. Die größte Behinderung der politischen Utopien war, dass man sie den Leuten aufzwingen wollte. Utopien können nicht eingeführt werden. Heute sind die Menschen auf eine Art und Weise gekleidet, wie es in meiner Kindheit unvorstellbar war. Alte Männer in kurzen Hosen und so weiter. Aber niemand hat das aufgezwungen -es entwickelte sich über den Konsens.

DIE FURCHE: Was würden Sie zukünftigen Architekten raten?

Friedman: Das ist eine sehr wichtige Frage. Architekturschulen sollten nicht nur das Handwerk lehren. Zukünftige Architekten sollten etwas über Biologie, Physik, Soziologie wissen. Architektur ist die Verpackung des menschlichen Verhaltens. Das menschliche Verhalten ist nicht nur Handwerk, es ist Liebe. Wir sollten uns nicht auf eine einzige Disziplin einschränken, weil unser Verständnis davon abhängt, sie sich die Disziplinen entwickeln. Sie wären nicht dort, wo sie sind, ohne ein Allgemeinwissen.

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