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Medizinischer Spaziergang durch Alt-Wien

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“Wer die hygienischen Zustände im gegenwärtigen Wien richtig würdigen will, der tut gut, sich im Geiste in das Wien der Vergangenheit, etwa der Kongreß- oder Biedermeierzeit z versetzen,' um die gesundheitlichen Verhältnisse in der damaligen Kaiserstadt an der Donau zu betrachten.

Wien, das damals in der höchsten Kulturblüte stand, zeigte trotz der kürzlich über-standenen Kriegswirren bereits einen gewissen wirtschaftlichen Aufschwung, es wurde langsam zu einer Großstadt emporgehoben. Die Stadt maß — samt den Vorstädten — 3200 Klafter in der Länge, das heißt von St. Marx bis an die Nußdorfer Linie, und 2400 Klafter der Breite nach, nämlich, vom Ende der Jägerzeile bis an die Mariahilfer Linie. Die Grundfläche'der Stadt und Vorstädte betrug 7,680.000 Quadratklafter, den Prater abgerechnet. Die Stadt war durch das „Glacis“, einen schönen, freien, 600 Sdiritte breiten, trockenen, mit Alleen von Wildkastanienbäumen gezierten Wiesenplatz von den Vorstädten getrennt, gewiß ein wichtiges Luftreservoir für die ohnehin zusammengedrängte Stadt. Wien, das in vier Viertel eingeteilt war (Stuben-, Kärntner-, Wiedner- und Schattenviertel), zählte ohne Kirchen 1376 Gebäude, mit den Vorstädten zusammen*, 4900. Es ist nicht leicht, die damalige Bevölkerungsziffer Wiens genau festzustellen. Da jede amtliche Statistik völlig fehlt, sind wir nur auf Privatquellen angewiesen und diese weidien beträchtlich voneinander ab.

Während Reifenstuhl und Kuchelbedcer in ihren Büchern: „Vienna gloriosa“ und „Allerneueste Nachricht vom Kais. Hof nebst Beschreibung von Wien“, die Einwohnerzahl Wiens am Anfang des 18. Jahrhunderts auf 600.000 einschätzten, behauptet Süßmilch, daß Wien im Jahre 1752 nur 140.000 Einwohner hatte. Wenn man aber bedenkt, daß die Sterblichkeit Ende des 18. Jahrhunderts in Wien zirka 5 bis 6 Prozent betrug und daß damals jährlich etwa 15.000 bis 16.000 Menschen starben, so dürfte Wien zu dieser Zeit höchstens 300.000 Einwohner gehabt haben, welche Zahl auch für das Wien der Kongreß- und Biedermeierzeit gelten dürfte.

Nur wenige Häuser haben bloß zwei bis drei Stockwerke, die meisten waren vier- und fünfstöckige Gebäude. Die Treppen waren schmal, finster, hodistufig und schneckenartig, die Höfe und Fluren sehr eng und infolgedessen war sowohl die Lufterneuerung als auch die Sonnenbestrahlung sehr mangelhaft. In den Höfen waren oft Pferdc-st alle eingerichtet und Senkgruben unterbracht, bei deren Entleerung sich ein furchtbarer Gestank verbreitete. Während Je Gassenzimmer geräumig und luftig waren, herrschte in den Hofzimmern Finsternis und Feuchtigkeit, und gerade diese Räume wurden sowohl den Dienstboten als auch den Kindern all Wohnung zugewiesen. Diese Unsitte herrichte durchaus nicht nur bei der ärmeren Klasse und die Folge war eine enorme Verbreitung der Skrofulöse, Blutarmut und Rachitis. Die Mietzinse waren hoch, ein Zimmer in den höheren Stockwerken kostete mindestens 150 Gulden W. C. In den Vorstädten war das Wohnen entsprechend billiger, doch lagen dort die hygienischen Verhältnisse sehr ungünstig, besonders in den entfernten Vororten, Wo die ärmere Bevölkerung wohnte. Das Zusammenwohnen mit Hunden, Katzen, Hühnern, die gleidizcitige Benützung der Wohnräume zu anderen Zwecken, der Mangel an Lüftung usw. trugsn wesentlich zur Verschlechterung der Wohnungshygiene bei. Wenn man bedenkt, daß in Wien damals 10.000 Pferde und 30.000 Hunde gezählt wurden, so wird man leicht ermessen, wie sehr die Luft durch die schlechte Ausdünstung verunreinigt war. Da alle Märkte in der Stadt selbst untergebracht \Y.aren — der Fisdimarkt lag hart an den St'.idtmaucrn, der Fleisch- und Wildbretmarkt im Inneren der Stadt —-, so war dadurdi eine bedeutende Verschlechterung der Luft unver-meidlich.

Die Stadtgassen waren meist mit Granit und Gneis gepflastert, in den Vorstädten dagegen gab es gar keine Pflasterung. Da der Boden sandig war, so herrschte, obgleich das Bespritzen der Gassen im Sommer obligatorisch und den Hauseigentümern als eine Verpflichtung auferlegt war, stets eine große Staubplage, die zur Entstehung von Erkrankungen der Atmungsorgane wesentlich beitrug. Die Wasserversorgung Wiens lag damals im argen. Da es gar keine Wasserleitung gab, war jedes Haus auf den Hausbrunnen angewiesen. Fast jedes Haus hatte einen solchen und nur einige Vorstädte, wie Mariahilf, Neubau, Gumpendorf, Schottcn-feld, Josefstadt, litten in dieser Hinsicht Mangel. Alle Brunnen waren zugedeckt, um das Wasser vor Verunreinigung zu schützen. Dieser Übelstand dauerte solange, bis endlich am Beginn des 19. Jahrhunderts durch die Freigebigkeit des Prinzen Herzogs Albert von Sachsen-Teschen und seiner Gemahlin, Erzherzogin Christine von Österreich, dem großen Wassermangel ein Ende bereitet wurde. Man zog bei Hütteldorf mehrere Quellen zusammen und leitete ihr Wasser durch eiserne Röhren in die verschiedenen Stadtbezirke. Außerdem gab es sowohl in der Stadt als auch in den Vororten mehrere Springbrunnen, vor^ denen die am Hof, am Hohen Markt, am Graben und andere das Wasser aus den hinter Dörnbach gelegenen Bergen erhielten, während die anderen, mehr südlich gelegenen, wie der als „Mosesbrunnen“ bekannte Brunnen an Franziskanerplatz — ein im Auftrage der Gemeinde von J. Martin Fischer ausgeführtes Meisterwerk — sein Wasser durch die Matzleinsdorfer Linie bezog. Das Dornbacher Wasser war hart und enthielt freie Kohlen- und Schwefelsäure sowie an diese Säuren gebundene Alaun- oder Bitttererde, dagegen war das andere Wasser viel weicher und enthielt weniger von diesen Stoffen. Da das Wasser der Wiener Hausbrunnen dem Dornbacher Wasser ganz ähnlich war, so ist die Annahme berechtigt, daß es zumeist gleichfalls aus dieser Gegend stammte. Auch das berühmte Schönbrunner Schloßwasser war von der gleichen Beschaffenheit, dagegen war das Wasser vom Trattnerhof am Graben und vom Gemeindebrunnen in Mariahilf salz-säurehältig. Die in den tieferen Stadtteilen, wie am Rothen Tor, gelegenen Brunnen gaben ein weiches und fades Wasser, das wahrscheinlich aus der Donau stammte.

Die hügelige Lage der Stadt und ihrer Umgebung gestattete den Winden einen bequemen Durchzug, der als die Ursache vieler rheumatischer Erkrankungen angesehen wurde, wenngleich er zweifellos auch den Vorteil hatte, daß die Luft leicht erneuert und verbessert wurde. Äußerst primitiv finden wir in Alt-Wien das Badewesen. Das Baden in der Donau war nur an bestimmten Stellen erlaubt, zum Beispiel in der Brigit-tenau, außerdem gab es auch sogenannte „Badehütten“, wo man ohne Gefahr baden konnte. Sie wurden im Jahre 1780 von Regierungsrat Dr. von Ferro errichtet, gerieten einige Zeit später in Verfall und wurden erst wieder im Jahre 1800 am Tabor als sogenannte „Armenbäder“ zum unentgeltlichen Gebrauch fürs Volk eröffnet. Von den Donaufreibädern war das 1717 errichtete „Schüttelbad“ das älteste, ihm folgte 1718 in der Brigittenau ein zweites, und 1799 tat sich eines im Prater auf, aber das großartige Ferdinand-Marienbad beim Augarten wurde erst im Jahre 1839 errichtet. Badeanstalten mit warmen Bädern waren auch in mehreren, nahe der Donau gelegenen Häusern vorhanden, xloch waren sie alle ganz primitiv eingerichtet und nicht gerade sauber, das schmutzige Badewasser wurde durch einfaches Umstürzen der Badewannen in der Badestube selbst ausgeleert. Das größte Bad Wiens, das Dianabad, wurde im Jahre 1810 erbiüt, das Brünnlbad, dessen Wasser mineralische Bestandteile enthielt, bestand schon früher.

• -J^ie gesundheitlichen Verhältnisse der da-nwligcn Bevölkerung Wiens ließen unter den geschilderten Umständen viel zu wünschen übrig. Es starben jährlich 15.000 bis 16.000 Menschen; diese Zahl war sehr hoch, viel höher als in der gleichen Zeit in London und Paris. Besonders groß war die Kindersterblichkeit, starben doch im damaligen Wien jährlich zirka 7000 bis 8000 Kinder. Eine wahre Geißel bildete die Lungentuberkulose,die vorwiegend Jugendliche ergriff und jährlich mehr als 3000 Opfer forderte. Ganz verheerend wirkten auch die häufigen Blatternepidemien, von 10.795 Kindern, die im Jahre 1800 starben, wurden 3296 allein durch die Blattern hinweggerafft. Die segensreiche Einführung der Blatternimpfung durch Dr. Pascal Josef de Ferro und Dr. Carro im Jahre 1799, machte diesem entsetzlichen Kindersterben rasch ein Ende; im Jahre 1801 starben 164, im Jahre 1802 nur 61, im Jahre 1803 nur 37 und im Jahre 1804 sogar nur mehr zwei Kinder an Blattern. Al' während der napoleonischen Kriege die Impfung wieder vernachlässigt wurde, stiegen die Kindertodesfälle an Blattern sofort wieder an. Da die Zahl der Eheschließungen eine sehr geringe war — anfangs des 19. Jahrhunderts betrug das Verhältnis der Verheirateten zu'den Ledigen nur 1:145 —i und auf eine solche Ehe kaum drei Geburten Kamen, so machte sich die große Kindermortalität verhängnisvoll geltend. Von den zirka 11.000 Kindern, die damals in Wien pro Jahr lebend geboren wurden, gingen jährlich 60 Prozent zugrunde! Die Mütter stillten in der Regel ihre Kinder selbst, nur selten nahm man Zuflucht zur Amme. Im Jahr 1801 wurde das Säugammeninstitut gegründet, das der k. k. Findelanstalt einverleibt war und die Aufgabe hatte, gesund und braudibare Ammen zur Verfügung zu stellen. Ganz besonders streng ging man damals gegen die Milch Verfälscher vor, es wurde ihnen die Konzession für alle Dauer entzogen und sie wurden ganz allgemein als ehrlose Betrüger betrachtet.

Anfangs des 19. Jahrhunderts gab es in Wien etwa 300 Ärzte, von denen jedoch nur die wenigsten den Doktortitel führten. Dieser war nur nach Ablegung einer besonderen, strengen Prüfung zu erreichen und verjieh dem Besitzer besondere Vorrechte. Jeder Doktor der Medizin war sogar dadurch auch Mitglied der medizinischen Fakultät, und erhielt somit die „Venia legendi“. Außer den Ärzten gab es nodi sogenannte „Wundärzte“, die besser ausgebildeten führten den Doktortitel, während die anderen nur „Magistri chirurgiae“ oder „bürgerliche Wundärzte“ genannt wurden. Außerdem gab es Zahn-, Bruch- und Augenärzte, Geburtshelfer und dazu noch eine Menge von Kurpfuschern, die trotz der behördlichen Verordnungen ihr Unwesen trieben. Einen sehr guten Ruf genossen die Wiener Hebammen, di in der Regel vorzüglich ausgebildet waren. Apotheken gab es zu dieser Zeit 38, davon 18 in der Stadt selbst und 20 in den Vororten. Die Leitung des Sanitätswesens ruht in den Händen der Landesregierung. Einen ausgezeichneten Ruf genossen die Wiener Heilanstalten, und viele Kranke kamen von fernen Ländern nach Wien, um hier Heilung zu finden. Außer dem 1784 durch Kaiser Joseph II. gegründeten „Allgemeinen Krankenhause“ gab es noch das Spital der Barmherzigen Brüder, das Elisabethinenspital, das Spital der Israeliten, das Arrestantenspital und das Militärspital, also eine vollkommen genügende Anzahl von Heilanstalten, um eine ganz ansehnliche Menge von Kranken aufzunehmen.

Was nun die Ernährungslage im damaligen Wien betrifft, so verfügte nach den Angaben Z. Wertheims (Medizin. Topographie von Wien, 1810) die Stadt zu dieser Zeit geradezu über einen Überfluß an guten und billigen Lebensmitteln. Ein Rundgang durch die Wiener Märkte zeigte Berge von Butter, Eiern, Speck, Fleisch, das erlesenste Obst und Gemüse, Weine von Niederösterreich, Südsteiermark usw.

Es war einmal...

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