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Mit der Gondel in die Innenstadt

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Einkaufszentren am Stadtrand sorgen oft für die Verödung der Innenstadt. Den riesigen Konsumtempeln läßt sich wenig entgegensetzen.

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Einkaufszentren am Stadtrand sorgen oft für die Verödung der Innenstadt. Den riesigen Konsumtempeln läßt sich wenig entgegensetzen.

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Fast eine Million Menschen kamen in den ersten drei Wochen nach der Eröffnung. Die Eigentümer sind überzeugt, daß sie bald mehr Besucher anlockt als Disneyworld oder der Grand Canyon. Die Rede ist von der „Mall of America", einem gigantischen Shopping-Center am Rande von Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota. Auf insgesamt 400.000 Quadratmetern finden sich vier Supermärkte und rund 360 kleinere Geschäfte, aber auch über 40 Restaurationsbetriebe, 23 Eislauf- und Rollschuhbahnen, zwei Theater und ein Vergnügungspark.

„Das Einkaufszentrum ist das genaueste Spiegelbild der verlorengehenden Stadt, das wir heute haben, und es ist damit ihr pünktlichster Totengräber", schreibt Dieter Hoffmann-Axthelm, Stadtplaner und einer der einflußreichsten Architekturtheoretiker Deutschlands in „Mythos Metropole" (siehe Buchtips Seite 17). Dadurch, daß die Einkaufszentren die Urbanität, Dichte und Angebotsvielfalt der Stadtzentren imitieren, werden sie zu einer ernsthaften Konkurrenz.

Eine mögliche Folge: Die Verödung der Innenstädte. Um dem zu entgehen, ahmen die Stadtkerne ihrerseits die Einkaufszentren nach. Der Leiter des Architektur Zentrums Wien, Dietmar Steiner, spricht in diesem Zusammenhang von „Disneysie-rung" (siehe auch Seite 14). So habe eine texanische Stadt, in Anlehnung an amerikanische Erlebnisparks, in ihrem Zentrum ein Netz künstlicher Kanäle angelegt, in dem venezianische Gondeln schippern, erzählt Steiner.

Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sind seit 1990 mehr als zwei Dutzend Einkaufszentren aus dem Boden geschossen. Die meisten davon außerhalb der Grenzen großer Städte - „auf der grünen Wiese", so eine häufig gebrauchte Wendung. Die unter dem kommunistischen Regime verfallenen ostdeutschen Innenstädte konnten den riesigen Konsumtempeln vor ihren Toren kein vergleichbares Waren- und Dienstleistungsangebot entgegensetzen. Kaufkraft und Steuereinnahmen fließen in jene Gemeinden, in denen die Einkaufszentren liegen. Dieses Geld fehlt den Städten für die Instandsetzung und Wiederbelebung ihrer historischen Kerne, um sich zu einer attraktiven Alternative zu den Shopping-Centers zu mausern. Ein Teufelskreis. „Wie Blutegel kleben die Einkaufszentren an der Stadt und saugen sie langsam aus", schrieb die Münchener „Süddeutsche Zeitung".

In Österreich allerdings herrscht eine andere Situation als in Ostdeutschland oder den USA. Die Ein-, kaufszentren seien hierzulande vor allem in jenen Branchen erfolgreich, die in den engen Stadtkernen zu wenig Platz fänden, analysiert Otto Steinmann, Leiter der Unternehmensberatung „Standort und Markt-beratungsgesmbh" im niederösterreichischen Felixdorf. So sei etwa in Wien die Einrichtungsbranche - bis auf spezialisierte Betriebe wie Antiquitätenhändler - zur Gänze aus der Innenstadt verschwunden. Aber die Stadtzentren Österreichs hält Steinmann für nicht bedroht. „Die Innenstädte verlieren gegenüber den Einkaufszentren real nicht an Kaufkraft", schwört er.

Das Konsumverhalten der Österreicher habe sich gewaltig verändert, erklärt der Wirtschaftsfachmann. So kaufte der durchschnittliche Konsument früher alle Nahrungsmittel bei einem bestimmten Lebensmittelhändler. Heutzutage sei er, um für einen gedeckten Tisch zu sorgen, Stammkunde in drei verschiedenen Geschäften: Dem nächstliegenden Laden für kleine Besorgungen, einem Supermarkt für Großeinkäufe und einem Diskonter für einige wenige, dort besonders günstige Produkte. Ähnlich verhält es sich in anderen Branchen: Die exquisite HiFi-Stereoanlage werde im Fachgeschäft in der City gekauft, während der Zweit- oder Drittfernseher beim billigen Elektromarkt an der Peripherie erworben werde. Steinmanns Fazit: Will der Konsument Auswahl und persönliche Beratung, begibt er sich ins Stadtzentrum, will er günstig und ohne großen Aufwand shoppen, so pilgert er an den Stadtrand.

Die Shopping City Süd (SCS) im Süden Wiens ist mit ihren 135.000 Quadratmetern Fläche größer als der Saale-Park, Deutschlands größtes Einkaufszentrum in der Nähe von Leipzig. Im lahre 1994 haben nach Angaben der Betreiber rund 22 Millionen Menschen die SCS besucht. Gerald Speckner hat sich in seiner Diplomarbeit am Institut für Raumplanung der Wirtschaftsuniversität Wien mit dem vermeintlichen Konkurrenzverhältnis zwischen der SCS und der Favoritenstraße, einer traditionellen Einkaufsstraße im zehnten Wiener Gemeindebezirk, beschäftigt. „Der Standort eines Einkaufszentrums ist auch sein Haupteinzugsgebiet", hat er herausgefunden.

Demnach kommt der weitaus größte Anteil der SCS-Kunden, nämlich rund 28 Prozent, aus dem Bezirk Mödling, in dem die SCS liegt. Aus dem nächstliegenden Wiener Bezirk Favoriten stammen nur 8,3 Prozent. Obwohl insgesamt doch fast die Hälfte aller Besucher der SCS aus der Bundeshauptstadt kommt, versichert Speckner: „Die SCS und die Wiener Geschäftsstraßen können problemlos nebeneinander existieren."

Im 22. Wiener Gemeindebezirk steht das Donauzentrum (DZ), ein Einkaufszentrum mit einer Grundfläche von 65.000 Quadratmetern. Doch der Komplex zerstört den Bezirk keineswegs - im Gegenteil: Vor der Eröffnung des DZ im fahre 1975 habe es im 22. Bezirk keine nennenswerte städtische Struktur gegeben, erzählt Otto Steinmann. Mittlerweile sei es mit seinen 177 Fachgeschäften, drei Banken und einem Verbund von Ärztepraxen zum Zentrum des Bezirkes geworden.

In unmittelbarer Nähe befinden sich auch das Bezirksgericht, das Finanzamt, das Arbeitsamt, eine Post und viele andere Einrichtungen. Allerdings sei das DZ, im Unterschied zu den anderen Bezirkszentren, geplant und nicht natürlich gewachsen. „Das natürliche Wachstum von Geschäftsstraßen ist heutzutage offenkundig nicht mehr möglich", schreibt Steinmann Kritikern von Einkaufszentren ins Stammbuch.

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