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Mit der U-Bahn in die Antike

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Rom, im Februar. „Endlich haben auch wir die Metropolitana!“ bemerkt aufatmend und voll befriedigter Erleichterung ein Schafhirte in der römischen Campagna zu seinem Kollegen. Eine bukolische Landschaft: weidende Herden, im Hintergrund die verlassenen weißen Marmorskelette der Monumentalbauten von Mussolinis Weltausstellungsgelände — und die Endstation der neuen Untergrundbahn Roms. So sieht ein Mailänder Wochenblatt die letzte technische Errungenschaft der Hauptstadt in der Karikatur. Es ist ein wenig Aerger dabei, weil das angeblich indolente Rom die angeblich dynamische Stadt der Lombardei im Wettlauf um das moderne Verkehrsmittel geschlagen hat, aber auch ein wenig Wahrheit. So sonderbar es erscheinen mag, Roms „Metro“, die am 9. Februar um 10.30 Uhr ihre Jungfernfahrt antrat, beginnt am Hauptbahnhof Termini, wogegen nichts einzuwenden ist, und führt schnurstracks auf freies Land hinaus. Nicht etwa durch das Zentrum, unter den engen, verkehrsüberfüllten Straßen, wo Fußgänger, Automobilisten und Polizei im dauernden Kriegszustand sind, auch nicht nach den neuen übervölkerten Randbezirken, wo die Häuser im Wolkenkratzerformat wie die Pilze aus dem Boden schießen, sondern hinaus in die Natur, als handle es sich um eine hygienische Einrichtung, mit dem spezifischen Zweck, die Römer reine, frische Luft atmen zu lassen.

Diese Sonderbarkeit hat natürlich, wie es in Rom gar nicht anders sein kann, ihre historischen Gründe. Als der geistige Vater der Metropolitana, der Ingenieur Giovanni Battista Sirletti, am Tage Maria Himmelfahrt des Jahres 1937 sein Projekt einreichte, war die Weltausstellung 1942 eine beschlossene Sache. Die Besuchermassen sollten rasch und bequem nach dem Gelände befördert werden, auf dem die Kolossalbauten des ,.Duce“ aus dem Boden zu wachsen begannen. Das optimistische und phantasievolle Klima der faschistischen Gründerzeit wechselte im Kriegssturm, die Weltausstellung wurde niemals abgehalten, und als dann alles vorüber war, sah sich die Stadt Rom als Erbe eines Vermächtnisses, mit dem sie nichts Rechtes anzufangen wußte: eine Reihe zerfallender Paläste und ein U-Bahn-Projekt, für dessen Vorarbeiten bereits die runde Summe von 150 Millionen Vorkriegslire — 600 Millionen Schilling — aufgewendet worden war. Sollte man sie nicht umsonst ausgegeben haben, mußte man das Werk fortsetzen.

Bis zu seiner Vollendung brauchte es ein weiteres Dezennium, denn die Mittel waren nur mühsam aufzutreiben. So oft war die versprochene Eröffnung aufgeschoben worden, daß die Römer schließlich nicht mehr daran glauben wollten, und als sich das Publikum am 10. Februar zum ersten Male in die Wagenzüge drängen konnte, erschien ihm die neue Metro bereits alt und vertraut.

Das moderne Rom ist spät Millionenstadt geworden, aber noch später kam es zu seiner Untergrundbahn. London hat seine 168 Kilometer lange „tube“ seit 1863, Paris seine „Metro“ (123 km) seit 1898, Berlin seihe U-Bahn seit 1882, New York seinen „subway“ - 373 Kilometer! - seit 1904. Hamburg, Boston. Madrid, Barcelona, Chikago und zuletzt Moskau haben einen langen Vorsprung, Da ist es ein geringer Trost, wenn die Lokalhistoriker entdeckt haben, daß die römische Metropolitana „theoretisch“ bereits über ein halbes Jahrhundert alt ist, weil ein Ingenieur Francesco Degli Abbari bereits im Jahre 1881 ein Projekt eingereicht hat, das von den Stadtvätern zurückgewiesen wurde, weil sie fanden, daß die Römer besser und IiebeT unter dem freien, sonnigen Himmel reisen. Selbst Neapel ist Rom zuvorgekommen, denn das Eisenbahnstück zwischen Piazza Garibaldi und Mergellina ist so etwas wie eine U-Bahn en miniature.

Die Metropolitana Roms ist nicht nur die jüngste, sondern auch die kürzeste U-Bahn der Welt, mit ihren elf Kilometern, die von vorläufig acht Wagenzügen in weniger als zehn Minuten zurückgelegt werden. Es bestehen freilich Pläne zum Bau weiterer Linien, aber davon spricht man besser nicht, wenn schon die erste „mit dem Tropfenzähler“ vollendet wurde Dafür übertrifft jedoch Roms Metro ihre Schwestern in allen anderen Städten in einem Punkt: Ohne Widerspruch befürchten zu müssen, kann sie von sich behaupten, die schönste der Welt zu sein. Auch der revolutionäre Neuklassizismus der Moskauer Metro wirkt mit seiner ganzen öden Pracht glanzlos neben der Metropolitana.

Denn die Fahrt von der Stazione Termini nach der Esposizione Universale Roma (EUR) wird in wenigen Monaten eine phantastische Reise sein, voll unerwarteter wechselnder Eindrücke, mit überraschenden Blicken auf die Zeugen uralter Kultur. Solche Worte im Zusammenhang mit einer Untergrundbahn zu gebrauchen, die man sich gemeinhin als einen langen, finsteren Schlauch vorstellt, wird merkwürdig erscheinen; aber sie sind nicht übertrieben, denn die Metro ist zu einer touristischen Attraktion ersten Ranges geworden und muß in den neuen Baedeker-Ausgaben mit einem Stern vermerkt werden. Das Einzigartige an Roms Metro ist der Boden, den sie durchquert: ein Terrain voll von Resten klassischer Kunst, einer zweitausendjährigen Vergangenheit.

Während der umfangreichen Erdbewegungen stieß man auf Schritt und Tritt auf Reste antiker Bauwerke, zum lebhaften Mißvergnügen der Techniker. Nach sehr rigorosen Bestimmungen müssen archäologische Funde unverzüglich der Superintendanz für antike Baudenkmäler gemeldet werden. Eine Kommission hat dann die Bedeutung der Funde abzuschätzen und über ihre weitere Bestimmung zu entscheiden. Das bringt nicht nur kostspieligen Zeitverlust mit sich, sondern stellt oft den Fortgang des Werkes selbst in Frage. Die Konstrukteure der Metro waren in dieser Hinsicht geradezu von Pech verfolgt. Es wird gemunkelt, daß die Arbeiter schließlich den Auftrag erhielten, alle weiteren Funde, wo es möglich war, zu verheimlichen, zu vergraben, verschwinden zu lassen. Aber das entdeckte Material reichte aus, um demnächst die neun Stationen mit einer Ueberfülle von Skulpturen, Bildern und Mosaiken auszuschmük-ken, die also fast alle an der gleichen Stelle wieder zu sehen sein werden, wo sie gefunden wurden. Man stieß auf die Reste von Wohnhäusern, von denen eines einem unmoralischen Zwecke diente; das bekannte Haus der Dienerinnen Aphroditens in Pompeji hat in Rom ein Gegenstück gefunden.

Der Kopfbahnhof der Metro neben der Stazione Termini wird, wenn die Archäologen das Material freigeben, kostbare Mosaikfußböden aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert, seltene Wandmalereien von Thermen, Hochreliefs der römischen Zeit und eine doppelte Reihe antiker Statuen zeigen. Für den Bau sind hier Quarzit und roter Porphyr verwendet worden. Zwischen Termini und der nächsten Station unter der Via Urbana stieß man auf einen kleinen unterirdischen See, der aber verbaut werden soll. Längs der ganzen Strecke bis zum Kolosseum ist die Bahn hell beleuchtet, um einen Blick auf die Reste des Vicus patricius, einer Straße in der Suburra, dem volkstümlichen Wohnviertel Alt-Roms, zu gestatten. Unter der Kirche San Pietro in Vincoli fand man Mauerreste aus drei verschiedenen Epochen. Noch vor dem Kolosseum hat die Bahn einen bisher unbekannten unterirdischen Fluß zu überqueren, der die Arbeiten sehr erschwert hatte. Die Station unter den Kaiserforen ist aus schwarzem Marmor, Travertin und weißen Marmorfragmenten der antiken Zeit erbaut. Tritt man aus ihr ins Freie, fällt der Blick auf das Kolosseum und den Konstantinbogen. Die Linie berührt dann die Zone des Circus Maximus, den modernen Palast der FAO, die Porta San Paolo mit der Cestius-Pyramide, die Sankt-Pauls-Basilika und endet schließlich an der UEO.

Die neue Metro Roms kann also auch dem Touristen etwas bieten. Das verkehrstechnische Problem der mächtig anwachsenden italienischen Hauptstadt hat sie freilich nicht gelöst. Zweifel an ihrer Zweckmäßigkeit bestehen. Aber in den Sommermonaten werden zumindest die Badelustigen, die einen raschen Anschluß nach Ostia erhalten, für die Metropolitana dankbar sein.

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