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Mussen Gemeindebauten so sein?

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„Die Kuttur unserer Zeit wird in der Zukunft nickt nach Kathedralen und Palästen beurteilt werden — sondern nach der Qualität der \olks-xuohnungen.“ Arch. Oskar Pay er, „Soziale Wohnkultur“ (Ausstellung: „Die Frau und ihre Wohnung“)

Die Gemeindebauten sind der Stolz der Gemeinde Wien. In den 25 Jahren, in denen Gemeindehäuser in großem Stil gebaut wurden, also von 1919 bis 1934 und von 1945 bis heute, sind mehr als 100.000 Wohnungen entstanden — eine wahrlich imponierende Zahl. Noch einmal so,viele werden gebaut werden müssen, damit der herrschenden Wohnraumnot wirklich abgeholfen ist. Etwa ein Sechstel des Wohnungsbestandes der Stadt sind heute gemeindeeigene Wohnungen. Die Gemeinde ist aber nicht nur der größte Hausherr der Stadt, sie ist auch der mächtigste Bauherr: an die 8 Milliarden Schilling — auf den heutigen Wert umgerechnet — flössen der Bauwirtschaft aus Steuermitteln auf dem Gebiete des Wohnungsbaues in diesem Zeitraum zu. Eine beachtliche Summe.

Die Gemeindebauten waren nach dem ersten Weltkrieg eine soziale Tat. Sie stellten etwas Neues dar. Der „soziale Wohnungsbau“ wurde zum Begriff, ja zum Schlagwort.

Das Neue drückte sich auch in der Architektur aus. Wer den Karl-Marx-Hof im 19. Bezirk betrachtet, wird spüren, wie er sich wie eine Zwingburg erhebt, eine Burg, die sich kühn ins Stadtbild einfügt, die dem Bild der überkommenen, historisierend-ornamentreichen Fassaden trotzt. Damals, in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, entstand auch die Wohnhausanlage der Gemeinde auf dem Modenapark, die von Architekt Frank geschaffen wurde, eine der wohlgelungensten Gemeindebauanlagen Wiens. (Architekt Frank hatte auch die Oberleitung über die Werkbundsiedlung in Lainz, an der Architekten wie Loos, Neutra, Hoffmann, Holzmeister beteiligt waren.)

Damals war der Gemeindebau eine revolutionäre Tat. Wien wurde ob seiner Gemeindebauten in aller Welt gerühmt. Die Architekten besaßen auch in den zwanziger und dreißiger Jahren viel mehr Freiheit als heute — kein Bebauungsplan schrieb ihnen im Detail vor, was sie zu tun hatten. Es bestand ein normale Auftragsver-bältnis: die Architekten hatten im Einverständnis mit ihrem Bauherrn, der Gemeinde Wien, Ihre Pläne selbständig auszuarbeiten.

Wie anders ist das heute I

Der Bebauungsplan fesselt die Hände des Architekten.

Was sind das für Bauten, die da entstehen?

Es sind Gebäude ohne eigenen Stil; einander sehen sie, in ihrer einheitlichen Stillosigkeit, eum Verwechseln ähnlich.

Es sind wenig gegliederte, fast immer vier-oder fünfstöckige, meist zu Hauskomplexen mit mehreren Stiegen zusammengefaßte Wohnhausanlagen. Der Bau eines vier- oder fünfstöckigen Hauses ist vom wirtschaftlichen Standpunkt aus am günstigsten: die Baukosten sind dann, im Verhältnis zur Zahl der Wohnungen, am niedrigsten. Ein Aufzug — der in allen vier- bis fünfstöckigen Häusern noch durchweg fehlt — würde etwa 100.000 bis 120.000 S kosten und den Bau beträchtlich verteuern.

Die Bebauungspläne sehen in der Regel eine Verbauung des Baugrundstückes von etwa 30 Prozent vor. Der übrige Platz wird von Grünflächen, Kinderspielplätzen und einer oft „sinnigen“ Anordnung von Mistkübeln, Klopfstangen und Sitzbänken ausgefüllt. — Lichthöfe, wie sie in der Altstadt zu finden sind, werden vermieden. (Obwohl es, leider, auch diesbezüglich noch Ausnahmen gibt — etwa in Meidling.)

Zwei Prozent der Bausumme sind für die künstlerische Ausgestaltung der Gemeindehäuser vorgesehen; das ist ein leidiges Kapitel, denn die künstlerische Ausgestaltung ist meist ebenso unvollkommen wie der ganze Bau. Die meisten Mosaike oder Wandmalereien, die an der Häuserfront angebracht werden — an der einen fensterfreien' Wand, die der Architekt dafür reserviert hat —, sind ohne Bezug auf das Haus. Günstigere Lösungen wurden für Plastiken gefunden.

Diese Bebauungspläne sind von der Gemeinde Wien bis aufs letzte durchkalkuliert. Ihr Sinn ist es, möglichst viele Wohnungen um möglichst wenig Geld zu bauen. Die Summe, die die Ausführung eines Hauses kosten darf, darf nicht überschritten werden. Niemand wird annehmen, daß die Gemeinde Wien aus Böswilligkeit den Komfort der Gemeindewohnungen auf ein Mindestmaß herabgedrückt hat. Aber vor die Wahl gestellt, 50 Wohnungen mit ent-

• Vgl. I. „Bebauungsplan“ und „Bestbietsystem“ — „Wie eine Wohnhaueanlage entsteht“ in „Die Furche“ Nr. 7 vom 11. Februar 1&56.sprechender moderner Wohnkultur oder 100 Wohnungen mit einem Mindestmaß an Komfort zu bauen, hat sich die Gemeinde Wien zu letzterem Weg entschieden.

Man darf annehmen, daß sich der Entschluß in einigen Jahrzehnten, vielleicht früher als wir denken, rächen wird — dann nämlich, wenn die Gemeindewohnungen, auf deren Zahl, wie gesagt, die Gemeinde so stolz ist, saniert werden müssen. Und dieser Tag wird kommen; es ist denkbar, daß wir ihn sogar noch erleben.

Wie könnte das anders werden?

Zunächst müßte der verhängnisvolle Entschluß, so viele Wohnungen als möglich zu bauen, aufgegeben werden. Es müßte vielmehr ein neues Mindestmaß an Wohnkultur festgesetzt werden, unter das der Architekt unter keinen Umständen heruntergehen darf. Ein Wohnbauplan, der sich zwar auf eine längere Zeit erstreckt, aber innerhalb dieser Zeit nur gute Wohnungen schafft, ist auf jeden Fall einem „Schnellsiedesystem“ vorzuziehen.

Unter den Mindesterfordernissen an Wohnkultur stellen wir uns heute, 1956, vor: höchstens zweigeschossige Häuser zu bauen oder aber unbedingt einen Aufzug einzubauen. Dann: jede Wohnung mit eingebauten Baikonen oder verdeckten Loggien auszustatten. Das hat einen doppelten Grund: erstens einmal jeder Familie einen von der Wohnung aus zugänglichen, geschützten Platz an der freien Luft zu geben und zweitens die Sicht von der einen Wohnung auf die andere unmöglich zu machen. Keinem Menschen ist es angenehm, wenn ihn der Nachbar oder sein Visavis einsehen kann.

Dann wäre es notwendig, die Wände schalldicht abzudichten.

Weiter sollte Jede Wohnung über ein eigenes Badezimmer verfügen.

Eine Normung der Installationseinheiten ist nicht von der Hand zu weisen; auch Architekt Rainer sieht sie für seine Einfamilienhäuser vor; doch sollte sie sinnvoll erfolgen und nicht nach dem Prinzip „so billig wie möglich“.

Die Architekten müßten freie Hand haben und nicht mehr gezwungen werden, nach demselben Leisten zu arbeiten. Sie sollten, wenn sie es für richtig halten, einem Hause ein flaches Dach geben dürfen (ein solches Projekt stieß in Pötzleinsdorf vor einiger Zeit auf große Schwierigkeiten). Dann sollten sie einem Hause so viele und solche Fenster geben können, wie sie es für richtig halten, und nicht an ein „Einheitsfenster“ gebunden sein, das die Fassadengliederung so schrecklich eintönig erscheinen läßt.

Dann sollte die Gemeinde Wien — und das wäre vielleicht das Nächstliegende — ähnlich der Verkehrsenquete eine „W o h n b a u-enquete“ einberufen. Sie sollte Architekten, Wohnbaufachleute aus aller Welt einladen, ihre Vorschläge, ihre Entwürfe, ihre Ratschläge zu geben — und sie sollte diese Anregungen dann verwerten. Sie sollte vielleicht auch ein Preisausschreiben veranstalten, bei dem die Architekten, die einen zu niederen Standard an Wohnkultur vorsehen — und also zu billig arbeiten wollen —, von vornherein ausscheiden.

Das sind einige Anregungen, die den Weg skizzieren möchten, der zu gehen wäre.

Er beginnt mit der Stadtplanung.

Er setzt sich fort in der Architektenarbeit.

Er endet in der soliden Durchführung des Baues.

Befreien wir uns endlich von dem Gedanken, möglichst rasch, möglichst viel und möglichst billig zu bauen. Denken wir daran, zunächst möglichst gut zu bauen. Brechen wir mit dem Prinzip des „Fortwursteins“, wagen wir uns an eine großzügige Stadtplanung auf weite Sicht! Die Gemeindehäuser in Wien müssen endlich wieder zu einem eigenen Stil finden, damit sie wieder das werden, was sie einmal waren: ein Vorbild für alle Städte Europas. In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg waren Ansätze dazu gegeben; heute wird stillose Stückarbeit geleistet.

Albert Schweitzer sagte einmal: „Erst bauen die Menschen die Häuser. Dann bauen die Häuser die Menschen “ Dann bauen diese Menschen wieder Häuser, ergänzen wir.

Der Ring schließt sich.

Durchbrechen wir den Ring und beginnen wir mit. neuer, zukunftweisender Bautätigkeit. Wien muß wieder Weltstadt werden I

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