6650088-1958_48_12.jpg
Digital In Arbeit

Nur ein „Vorzimmer“ in Europa?

Werbung
Werbung
Werbung

ES SOLL IN SAINT-GERMAIN gewesen sein — andere behaupten, auf einer der Dutzendkonferenzen der Zwischenkriegszeit — wo ein drittrangiger Diplomat, als von Tirol die Rede war, sagte: „Das ist ja nur ein Vorzimmer in Europal Wenn Sie dort mit einem Kasten durchgehen, stoßen Sie an allen Ecken an. „Der Mann, dessen Stärke, wie bei vielen seinesgleichen, damals die Geographie nicht war, hatte nur Nordtirol gesehen und völlig vergessen, daß das „Vorzimmer“ von 190 Kilometer Länge zwischen Hochfilzen und St. Christoph am Arlberg und 45 Kilometern geringster Breite zwischen Scharnitz und Brenner zu einer „Dreizimmerwohnung“ gehört, in der ein Untermieter sitzt, der sich den Durchgang in das vom Norden völlig getrennte Osttirol auf der Schiene gut bezahlen läßt. Aber insofern hat der Diplomat recht gehabt: Wer mit einem Kasten im Vorzimmer durchgeht, stößt an allen Ecken an. Mögen in diesem Kasten Aktenstücke liegen — oder Menschenschicksale.

VON DEM ALTEN TIROL, das lange mit seinem westlichen Nachbarland die „gefürstete Grafschaft Tirol und Vorarlberg“ gebildet hat, das mit seiner Größe von 26.650 Quadratkilometern Belgien gleichkam, sind nur 12.649 Quadratkilometer bei Oesterreich geblieben. Und geblieben ist auch die eigenartige Doppelstellung: als Teil Oesterreichs politisch das Donauland und das Rheingebiet zu verbinden, wirtschaftlich Nord- und Südeuropa. Davon wissen die meisten Fremden im Land, das Oesterreichs bester Devisenbringer ist, wenig oder nichts. Diese in mindestens sechs Sprachen gemütlich die Maria-Theresien-Straße auf und ab Flanierenden photographieren routinemäßig den Blick über die Annensäule auf die Nordkette: sie lassen sich vor dem Goldenen Dachl verewigfei (ohne zu wissen, daß die Originale der Sandsteinreliefs sich im Landesmuseum Ferdi-nandeum befinden); sie pendeln zum Hafelekar hinauf, schreiben dort nach dem Essen die üblichen Ansichtskarten, fünf Worte mit ermäßigtem Porto; schließlich schwemmen sie die Tageseindrücke mit einem Viertel Kälterer in leibliche Kellerregionen (ohne zu wissen, daß der Kälterer See in Südtirol liegt); bereits auf dem Wege zum Hauptbahnhof, beschauen sie entzückt die Trachtenstoffe und Loden (unwissend, daß die größte Lodenfabrik Mitteleuropas nächst Telfs Hunderte modernster Webstühle aufgestellt hat); zuletzt erstehen sie in gehobener Stimmung eine Spielkassette, die womöglich auch Jodler von sich gibt, und steigen in den Zug mit einem mehr oder weniger echten Gamsbarthut.

TIROL OHNE GAMSBART - terra incognita, unbekanntes, unentdecktes Land. Von Hochfilzen schon beginnend, wo sich die Industrie in die Berge wühlt; in Kufstein, wo man zur Heldenorgel pilgert, aber einige Schwierigkeit hat, den Standort eines Unternehmens zu erfragen, das vor einiger Zeit das zehnmiliionste Stück seines auf der Basis synthetischen Kautschuks erzeugten Dichtungsmittels fabrizierte; Kirchbichl, das ein Fünftel des österreichischen Zementbedarfs deckt; Brixlegg mit seinem Montanwerk, wo vor acht Jahren die erste Anlage in Oesterreich zur Erzeugung von Nickelsulfat entstand; die Jenbacher Werke, aus einem Rüstungsbetrieb hervorgegangen, nun mit ihren Dieselmotoren und Kompressoren Weltruf genießend! Von Wattens müßte man reden, nicht des hypermodernen Schwimmbades wegen, in dem man die Menschen unter Wasser wie Fische in einem Aquarium beobachtet und dazu Erdbeereis löffelt; sondern wegen der „Tiroler Diamanten“ und der technischen Schleifmittel. Mit den Zweigbetrieben in Schwaz und Absam beschäftigt Swarovsky 2500 Arbeiter und Angestellte, für die man schon zu Zeiten der Monarchie Wohnhäuser baute. Seit 1945 sind in Wattens weit -mehr als vierhundert Wohnungen erstellt worden. Firmenchefs werden dort zwar mit „Herr“, aber dazu mit ihrem

Vornamen angesprochen. Wattens nannte der Finanzreferent von Wien gelegentlich einer Pressekonferenz einmal neidvoll die „reichste Gemeinde Oesterreichs“. Wenn dem so ist, dann hat die Gemeinde mit ihrem Vermögen etwas anzufangen gewußt. Terra incognita auch Kramsach mit seiner jetzt zehn Jahre bestehenden Glasfachschule, Plansee mit seiner Pulvermetallurgie, die Kleineisenindustrie im Stubai — mit einem Pickel aus Fulpmes erstieg Buhl den Nanga Parbat. Keiner verlasse Nordtirol, ohne seine wissenschaftliche Leistung zu beachten. Mag dies in der Universitätsklinik sein, im Tiroler Volkskundemuseum schräg gegenüber der Hofburg, wo die vom Landeskonservator Oswald Graf Trapp gestaltete Schau „Maria Theresia und Tirol“ ein sensationeller Ausstellungserfolg wurde. Beachtung verdienen ebenso der Kunstpavillon am Hofgarten,. das Ferdinan-deum, der Berg Isel mit dem Haus der Kaiserjäger, und besonders die immer unterwegs befindlichen , Architektur- und Gemälderestauratoren, auf deren Wirken man allerorts in Tirol stößt. Lind man vergesse nicht das Außerfern-gebiet, für das man vor dem Krieg eigene Reisebegünstigungen für unsere östlichen Landesteile schuf, während man sich heute damit zufrieden gibt, daß ganze, Gebiete hundertprozentig nur Ausländerbesuch'in die Statistik-liefern.

OSTTIROL — das zweite Zimmer Tirols — hat vor geraumer Zeit erstmals, den Besuch des Tiroler Landtags- empfangen. Demonstrativ wurde damit auf die Vereinsamung des Lienzer Gebiets und auf seine Anliegen hingewiesen. Man besah die-, tüchtig vorangetriebenen Ausgrabungen von Aguntum, die Straßenbrücken, die Wildbachverbauung im Defreggental, den Neubau des Infektionskrankenhauses in Lienz und machte sich mit dem dringlichen Projekt der Straße über den Felbertauern bekannt. Viel bleibt noch zu tun übrig. Der Bund sollte bei all seinen Autobahnplänen (Nordtirol wartet auf den Bau der Straße Kufstein—Brenner samt Brennertunnel) und den nicht immer motivierten Auslagestücken von Flüßuferstraßen bedenken, daß ausreichende Wegverbindungen für ein abgeschnittenes Land wie Osttirol, auf die Dauer gesehen, geradezu eine Lebensfrage sind. Besorgt heute Nordtirol Umfahrungen durch die Schweiz, um wieviel mehr gilt dies f'.r Osttirol. Die derzeitigen Bahnverbindungen von

Kärnten (Spital—Millstätter See) nach Lienz lassen viel zu wünschen übrig. Auf einer Strecke von 67 Kilometern verkehren drei sogenannte Eilzüge, von denen einer in jeder der zwölf Zwischenstationen, die anderen sechs bis siebenmal halten und außerdem einer davon nur im Sommer fährt. Die Reisedauer beträgt eine Stunde zehn bis eine Stunde zweiundzwanzig Minuten. Die Benachteiligung des Drautals von Lienz westwärts ist offensichtlich. Vier Triebwageneilzüge halten in jeder Station bis Sillian und entwickeln die atemberaubende Schnelligkeit von durchschnittlich 36 Kilometern in der Stunde.

NEBEN DEM BAHNHOF VON INNICHEN begrüßt uns eine stattliche Kaserne. Und dieser martialische Eindruck setzt sich über Toblach und Bruneck bis nach Franzensfeste und weiter südlich fort. Man sagte uns, das wären die Kasernen, die Mussolini habe erbauen lassen — vermutlich zum Zeichen seiner urtümlichen Freundschaft mit Wien. Aber recht dicht sind diese Kasernen noch heute besetzt, und die Manöver im Pustertal letzthin gehören zum Gesamteindruck. Die Alpini im Triebwagen verkürzten meine Fahrtzeit mit munteren Partisanenliedern. In Franzensfeste hörte ich einige Alpini deutsch sprechen. Südtiroler dienen, wie sie sagten, wohl bei dieser Truppe, sind aber nicht in gleichsprachigen Verbänden zusammengefaßt, wie etwa die Deutschen bei Eupen und Malmedy im belgischen Heer. Seltsam übrigens, die Koffer der Soldaten zu sehen: es sind die gleichen hölzernen Kasten, mit denen der k. u. k. Soldat zwischen Bodenbach und Mostar, Bregenz und Czernowitz in den Urlaub oder in die Garnison gefahren ist.

VOR DER EINFAHRT IN DEN BAHNHOF BRENNER rief eine Dame mit unverkennbar norddeutscher Betonung ihren Gemahl aus sanftem Schlummer: „Och, Manne, guck mal, da sieht man schon die italienischen Häuser, janz toll, da wird gleich der italienische Wein kommen!“ Und er kam. Der Zug fuhr den Eisack entlang, und „Manne“ saß beglänzten, wirtschaftswunderfetten Gesichts am Fenster, den Hut auf dem Kopf, die Schuhe ausgezogen, und die strohumflochtene Chiantiflasche unter dem Sitz. Der Wein — der Südtiroler, versteht sich — wächst in Wirklichkeit erst ab Brixen, der mehr als tausendjährigen Bischofsstadt. Man braucht, vor Brixen nur die Hand aus dem Fenster zu strecken, und es ist, als tauche man sie in lauwarmes Wasser. „Manne“ merkte es nicht. Er tauchte den Mund in lauwarmen Chianti. Brixen hat übrigens heuer im Sommer eine schöne Ausstellung anläßlich der Wiederkehr der Einweihung des neuen Doms veranstaltet und das viel zuwenig bekannte Diözesanmuseum mustergültig geordnet. Davon und von vielen anderen Dingen hört man in unseren Reisebüros nichts. Sie verfrachten ihre Menschen im Eiltempo über die Dolomitenpässe, fahren an Kriegerfriedhöfen unwissend vorbei, empfangen erstes Ah! am Gardasee und sausen südwärts. Heuer war in Arco eine Segantini-Ausstellung anläßlich des hundertsten Geburtstages dieses in Altösterreich geborenen Malers. Aber niemand wußte in allen amtlichen Stellen Genaues darüber zu sagen, außer einem CIT-Büro, das meinte: „Nur eine lokale Sache!“ Vielleicht war Segantini zu österreichisch, trotz seines romanischen Namens. In Bozen lächelt man nur zu solchen Erzählungen. Aber es gibt Dinge in Südtirol, die nicht zum Lachen sind.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung