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Ötzi reist im Kühlwagen

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Temperatur, Sterilität und Luftfeuchtigkeit, müssen auch bei den wissenschaftlichen Untersuchungen gewährleistet sein.

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Temperatur, Sterilität und Luftfeuchtigkeit, müssen auch bei den wissenschaftlichen Untersuchungen gewährleistet sein.

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Der Countdown für den seit seinem Tod um ein bis vier Zentimeter geschrumpften, 1,60 Meter kleinen Mann vom Tisenjoch in den Ötztaler Alpen hat begonnen. Laut Vertrag vom 2. Mai 1992 zwischen Osterreich und dem Land Südtirol soll der nach Andreas Hofer wahrscheinlich populärste Tiroler -liebevoll Ötzi genannt - noch heuer seine letzte Reise antreten.

Er wird, geht alles nach Plan, in einem gut gefederten und gepolsterten Gefrierwagen, begleitet von Medizinern vom tirolischen Innsbruck ins südtirolische Bozen chauffiert. Sein endgültiges Domizil soll dann ein ehemaliges Bankgebäude im Zentrum Bozens sein, das von der ober-italienischen Firma Syremont ähnlich ausgestattet wird wie sein gegenwärtiger Aufenthaltsort.

Seit dem 24. September 1991 liegt die am 19. September in einer teilweise ausgeaperten Felsvertiefung entdeckte, vier Tage später nach stümperhaften Bergungsversuchen aus dem Eis gehobene, zunächst in das Innsbrucker Gerichtsmedizinische Institut verbrachte Leiche bei minus vier Grad und 98 Prozent Luftfeuchtigkeit im Keller des Innsbrucker Anatomischen Instituts. Veranlaßt wurde die Verlegung von Konrad Spindler von Institut für Ur-und Frühgeschichte der Universität Innsbruck, der das vorgeschichtliche Alter der vom Gletschereis konservierten Mumie und ihrer Habe gleich nach seiner Beiziehung erkannt hatte - auch wenn er sie noch der Bronze- (1800 v. Chr. -750 v. Chr) und nicht der Jungsteinzeit (Neolith-ikum, 6.000-1.800 v. Chr.) zugeordnet hat.

Das Innsbrucker Anatomische Institut besitzt alle notwendigen Einrichtungen zur Erhaltung eines Leichnams. Sie bestehen vor allem aus einer Kühlzelle, deren Aggregate auf eine stets gleichbleibende Temperatur eingestellt werden kön-nen.^Außerdem verfügt es über eine zweite, immer leer mitlaufende Kühlzelle für den Fall, daß die erste Zelle ausfällt. Beide Zellen sind mit vom Institutspersonal gewarteten und geprüften Hochleistungsapparaturen ausgerüstet. Dazu zählen je vier Temperatur- und zwei Luftfeuchtigkeitsfühler. Einer dieser Temperaturfühler ist direkt mit einer elektronisch gesteuerten Alarmanlage gekoppelt. Sie löst bei Temperaturabweichungen, also bei einem möglichen Versagen des Kühlsystems, akustische und optische Alarmsignale aus.

Nach einer von Werner Platzer, dem Vorstand des Anatomischen Institutes, entwickelten Methode zur Verhinderung von Austrocknung und Zerfall des Gletschermannes ist der in einem Bett ruhende Ötzi in ein steriles Tuch gewickelt. Rund um ihn legt man in einer Eismaschine erzeugtes gehacktes Eis auf, das in bestimmten Zeitabständen erneuert werden muß. Darüber ist eine weiche Plastikfolie gebreitet, auf die zwecks weiterer Temperaturdämmung zusätzliche Eispackungen gebracht werden.

Dann kommt nochmals eine Plastikfolie, an der einer der beiden Feuchtigkeitsfühler montiert ist. Der zweite befindet sich an der Wand der Kühlzelle und überprüft die Luftfeuchtigkeit.

Wird die Mumie zu Untersuchungszwecken aus der Kühlzelle genommen, muß sie Schicht für Schicht abgedeckt und in einen gläsernen, steril gehaltenen, mit Eis gefüllten Behälter gelegt werden. Da jedoch trotz solcher Maßnahmen die Temperatur außerhalb der Kühlzelle ansteigt und die Luftfeuchtigkeit abfällt, darf keine Untersuchung länger als dreißig Minuten dauern.

Zum ersten Mal untersucht wurde Ötzi schon im September 1991 durch äußerliche anthropologische Messungen sowie mittels Computertomographie und Röntgenaufnahmen. Später mit Hilfe der Radiokarbon-Datierung, indem man ihm 20 bis 30 Milligramm schweres Gewebematerial und Knochenpartikel von seiner linken, bei den Rergungs-versuchen beschädigten Hüfte entnahm. Das Ergebnis bestätigte die Datierungen der Fundstücke, die bei den Nachgrabungen unter der Leitung von Andreas Lippert vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der W7iener Universität zutage gekommen waren. Man hatte sie per Ötzis Erbsubstanz

Dampfstrahlgeräten kaum hundert Meter vom nicht auf den Landkarten eingetragenen Tisenjoch, dreihundert Meter entfernt vom karto-graphierten Hauslabjoch ausgeschmolzen. Laut C-14- Untersuchung zählen Ötzi und seine Ausrüstung rund 5.200 Jahre. Somit ist der „Mann vom Eis” älter als die älteste bekannt gewordene ägyptische Mumie des 1,70 Meter großen Pharaos Sekenenre aus dem Ende der 17. Dv-nastie (etwa 1.555 v. Chr.).

Als diese Daten bekannt wurden, gehörte der als „die jungneolithische Mumie aus dem Gletscher vom Hauslabjoch, Gemeinde Schnals, Autonome Provinz Bozen/Südtirol” in die Wissenschaft eingegangene Ötzi allerdings längst nicht mehr Österreich. Denn Neuvermessungen der Fundstelle der Leiche und ihrer Barschaft, die aus einem Kupferbeil mit Eibenholzschäftung, aus mit Heu ausgestopften Lederschuhen, Feuerklingen, aus Gräsern gedrehten Schnüren, Bastmatten, Bogen, Pfeilen, einem Köcher, Holz- und Fettfragmenten einer Rückentrage und einer stark zusammengedrückten kegelförmigen Fellmütze von rund 25 Zentimeter Höhe sowie zwei Birkenrindengefäßen bestand, hatten erbracht: Der Zeitzeuge aus ferner Vergangenheit war 92,5 Meter jenseits der heutigen Grenze auf italienischem Gebiet zu Tode gekommen. Als man ihn unter österreichischen Denkmalschutz stellte, wußte man noch nicht, daß er völkerrechtlich ein „Italiener” und deshalb dem Gesetz nach in zwei Jahren dem Eigentümer Italien zurückzugeben ist.

Im Einvernehmen mit der Südtiroler Landesregierung wurde allerdings die Rückgabe verlängert und auf allerdings 1995 festgesetzt. Auch ein „Forschungsinstitut für Alpine Vorzeit der Universität Innsbruck” wurde einvernehmlich gegründet. Drei Jahre sollte es bestehen, nun wurde seine Lebensdauer auf weitere drei Jahre verlängert.

Die Aufgabe des Forschungsinstituts liegt in der administrativen und organisatorischen Verwaltung des international beobachteten Projekts. Neben der „Eismannforschung” betreiben die W issenschaftler jedoch auch archäologische Prospektion in den Nordtiroler Alpen. So entdeckte der Steinzeit-Experte Dieter Schäfer 1994 einen Jagdrastplatz aus der

Mittelsteinzeit. Das freigelegte Fundmaterial wie Abschläge, die bei der Herstellung von Steinwerkzeugen anfallen, sowie konzentriertes Vorkommen von Holzkohle und verbranntem Lehm, deuten auf eine Feuerstelle hin, die um 2.000 bis 3.000 Jahren älter ist als der durch Eis und Schnee konservierte Alpler vom Tisenjoch. Während der heurigen Sommermonate wird die Grabung fortgesetzt. In Zukunft wollen die Institutsangehörigen zudem experimentelle Archäologie betreiben, das heißt Gegenstände und Werkzeuge des Gletschermannes rekonstruieren und auf ihre Alltagstauglichkeit überprüfen - unabhängig davon, ob Ötzi, dessen Erbsubstanz soeben und dessen Magen-Darmtrakt kürzlich von Werner Platzer untersucht worden ist, dann noch in Innsbruck weilt oder nicht. Nach Bozen chauffiert man ihn jedenfalls erst, wenn die klimatischen Voraussetzungen für seine zufriedenstellende Erhaltung gegeben ist. Besichtigt werden kann die älteste Mumie der Welt auch im Bozener Heim nicht. Selbst nicht per Kamera. Nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft muß Ötzi, soll er nicht zerfallen, weiterhin von eisgekühlten Tüchern umhüllt bleiben.

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