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Peripherie

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VOR ACHTZEHN MINUTEN flammten weiß, blau, grün, gelb und rot die Neonröhren der Kärntner Straße und des Opernringes; stand wie eine riesige Theaterkulisse die beleuchtete Karlskirche vor dem Schwarz des Nachthimmels. Achtzehn Minuten Fahrt mit der Straßenbahnlinie 65 — und man glaubt sich in eine andere Stadt versetzt. Matzleinsdorfer Platz-Gürtel: dort liegt noch immer unsichtbar der Linienwall. Seitwärts der Triester Straße, in den Nebengassen, wie der Davidgasse, der Angeligasse und Hardtmuthstraße, kann man lange suchen, bis man einen parkenden Kraftwagen findet. Am ehesten noch vor den zahlreichen Wirtshäusern und Cafes, wo der Inhaber nahezu jeden Gast persönlich kennt, wo die Unterhaltung abreißt, wenn sich ein Fremder ins Lokal verirrt. Vom Freitag, ja oft schon vom Donnerstag abend an, geht es laut zu hier. Da — an die -Wand des Hauses gelehnt, sitzend, mit Mörtelspuren auf dem Rock, schlafend, ein Betrunkener. Dort — an der Ecke der Knöllgasse und Troststraße — eine Gruppe Halbwüchsiger um einen, der ein Weekendradio unter dem Arm hält. Seine laute Jazzmusik mischt sich in die der Lautsprecher aus der vierstöckigen Zinskaserne an der nächsten Ecke. Männer in Hemdärmeln, einige auch mit nacktem Oberkörper, schauen bei den Fenstern heraus. Ein paar Häuser weiter Geschrei und Streit mit unflätigen Schimpfworten. Ein Mädchen läuft vorbei. Die Burschen mit dem Radio hinterher. Favoriten!

DER ZEHNTE HIEB - so nennt der Volksmund diesen Wiener Bezirk. Im Jahre 1861 wurden die unklaren Grenzen zwischen den damals bestehenden neun Bezirken geregelt, und man gab den einzelnen Stücken, in die sozusagen Wien zerhauen wurde, die Bezeichnung „Hieb”. Eigentümlich, daß der Name sich gerade bei dem 10. Bezirk erhielt, der nicht durch Teilung entstanden ist. Bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts gab es auf Favoritner Boden keine geschlossene Siedlung. Die Gründe gehörten der Gemeinde Wien oder dem Bütgerspitalfonds. Südöstlich des Laaer Waldes gab es sogar eiqen Weingarten von 60 Joch. Mit einigem Recht hat daher der alte Volkssänger Edmund Guschelbauer (bekannt durch sein Lied: „Weil i a alter Drahrer bin”) seine letzten Lebensjahre in der Neilreichgasse verbracht. Nach dem Sturmiahre 1848 siedelten sich im Bezirke viele Slowaken an. Ihr Ruf: „Kaffts Kuleffel” (kauft Kochlöffel) war ein bekannter Ton. Die „slawische Front” ging über den Wiener Berg hinunter bis nach Hennersdorf, Vösendorf, Siebenhirten, Wiener Neudorf und Leopoldsdorf. Im Jahre 1910 bildeten die Tschechen (die Slowaken rechnete man als „Staatsfremde” — der ungarischen Reichshälfte wegen) in Wiener Neudorf 25, in Leopoldsdorf 31 und in Hennersdorf sogar 37 Prozent der Bevölkerung. Grund dieser Bevölkerungszusammensetzung, die in vielen Personennamen heute Spuren zeigt, waren die Ziegeleien. Ihre Abbaukrater, das Grundwaäser, das sich in den Gruben zu den Ziegelteichen sammelte, der. Wasserturm, die Spinnerin am Kreuz — und der Autofriedhof sind neben den Industriestätten die Merkmale des Bezirkes. Man hat neuerdings versucht, den Wiener Berg aufzuforsten, man baute große, zerstreute Wohnanlagen, ein Schwimmbad ist im Entstehen — aber das Gesicht dieses Bezirkes kann keine Städteplanung mehr ändern.

HÄUSER MIT FÜNFZIG UND MEHR PARTEIEN sind in Favoriten keine Seltenheit. Auf den Gängen weiß ein Bewohner vom anderen so ziemlich alles. Die letzten Skandalgeschichten und Marktpreise werden dort, bei der gemeinschaftlichen Wasserleitung, der „Bassena”, besprochen. Ein WC für den ganzen Stock. Ein quäkendes Radio neben dem andern. Die Kinder sind meistens unterwegs. Richtig jung sehen sie eigentlich kaum aus. Es ist, als hätten sie eine Entwicklungsstufe übersprungen. Die Buben kennen jede Auto- und Motorradmarke, gehen „schwarz” in Wildwestfilme; die Mädchen, mit seltsam ernüchterten Augen, haben nicht selten schon in der Hauptschule ihren „Freund”, ihre Dauerwellen und Nylonstrümpfe. Das Familienleben läßt mitunter zu wünschen übrig. Kein Wunder bei dem engen Zusammenwohnen. Der Bezirk ist trostlos eingeengt durch die Süd- und Ostbahntrasse. Auch wenn man die Bahn unterirdisch legte — so bleibt noch immer der riesige Matzleinsdorfer Frachtenbahnhof, der auf 20.000 Quadratmetern fast vier Dutzend Geleisepaare.

in der Mehrzahl beidseitig eingebunden in die Strecke, aufweist. Diese südliche Peripherie lebt andauernd von Plänen. Vor dem ersten Weltkrieg war es etwa die gigantische Verbauung des Burgenlandplatzes mit unterirdisch zu führender Straßenbahn; nach dem zweiten Weltkrieg ist es die zur Sage gewordene Schnellbahn Meidling—Favoriten—Floridsdorf und ist es die Südeinfahrt der Autobahn. Die Bewohner werden froh sein, wenn es nur keine Tariferhöhung gibt. Viele müssen ja nicht nur die Linie 65, sondern noch weiter die Linie 165 benützen, welche nach Inzersdorf geht. Ueberhaupt liegt verkehrsmäßig hier vieles im argen. So fehlt beispielsweise eine durchgehende Ost-West-Ver- bindung mit der Straßenbahn. In die Troststraße ragen von der Triester Straße und der Laxen- burger Straße nur Streckenstümpfe. Von der Raxstraße aus fehlt eine Zuführung übfr die Wienerbergstraße zum wichtigen Verkehrsknoten Philadelphiabrücke in Meidling.

PERIPHERIE, geographisch-raummäßig gesehen, rings um Wien. Aber sie ist nirgends gleich. In Meidling, unten in Altmannsdorf, hat der Stadtrand zuweilen fast dörfliches, freilich auch ärmliches Aussehen. Es gibt noch genug Häuser, welche Spuren von Granattreffern und Maschinengewehrgarben aufweisen. Gebäude, denen der halbe Verputz fehlt. Die andere Hälfte zerfressen und schwarz. Es ist, wie Theodor Kramer von dieser Gegend einmal schrieb: „Es frißt der Ruß bei uns am Rand sich in die Zeile ein.” Dann gibt es noch ein paar kümmerliche „Garten”anlagen — und mit einem Male sind die Holzplanken, die Schuttabladeplätze, die Gärtner, die Schreberhäusler da, welche mit rührender Sorgfalt in das Grau Obstbäume und Blumen setzten. Traurig ist das Bild im Frühling, wenn der Rauch über die Blüten weht, traurig der hitzedurchflimmerte, stickige Sommer, traurig der Herbst, wenn sogar die Schrebergärten verblassen, und der Winter, wenn vom Osten her der eiskalte Wind peitscht und in,-ei} ,-.paar Stunden die- Gassen und Wege zuweht, - Am längsten müssen die Leute hier draußen auf die Schneeräumung warten. Aber sie sind’s gewohnt und greifen selbst zur Schaufel. Am meisten freuen sich noch die Kinder über das Leben am Rande. An der Peripherie gibt es richtige Geländer zum Rutschen, Bretterwände, auf die man mit Kreide Gesichter malen kann (und den Freund von gestern unorthographisch beschimpft). Hier draußen gibt es noch nicht die abstrakten Spielfiguren der innerstädtischen Parks und auch nicht die Spielplätze hinter Maschengittern. Man höhnt den Stadtrand, das sei eine Welt, „mit Brettern verschlagen”. Wer weiß, ob diese bemalten, schiefen Planken nicht den Kinderherzen näher stehen als die Gitterbetten der großstädtischen Kinderspiellust!

IRONIE an der Peripherie, wohin man greift. Die Troststraße bietet wahrlich niemandem Trost, und es wirkt auch nicht tröstlicher, wenn man erfährt, der Herr Michael Trost sei vor- einstens ein Fleischhauer und Gemeinderat gewesen. Und was soll Adalbert Stifter in der Brigittenau? Von eben dieser Straße ist bei der letzten Internationalen Verkehrstagung auch die Rede gewesen sie soll :in:(jjįe gtqße T psvqrsale eingegliedert werden, die den Liechtenwerder Platz im 9. Bezirk mit der Brünner und Prager Straße verbinden soll, wobei die Franz-Josefs- Bahn und der Donaukanal mit neuen Brücken übersetzt werden müßten. Vielleicht nennt man eine Brücke die „Hochwald”brücke und das dann fällige Hochhaus „Die Narrenburg”.

BRIGITTENAU ist die rechte Vorstimmung auf das Gegenstück zu Favoriten, auf Floridsdorf. Beide Bezirke haben — wie auch Meidling, Ottakring, Hernals und der Südosten Wiens — unverhältnismäßig schwer durch die Bomben gelitten. Auf der Karte der Schwer- und Schwerstzerstörungen sehen diese Gebiete wie Tintenkleckse aus. Ein Stadtplaner meinte einmal, es sei dort zuwenig zerstört worden, um alles von Grund auf ändern zu können. Nun, den armen Leuten ist genug verlorengegangen, und die Menschen von Favoriten, Meidling, Ottakring, Floridsdorf und Simmering gehören nicht zu jenen, die sich eine fashionable Eigentumswohnung kaufen können. Peripherie ist gleichbedeutend mit dem Würgegriff der Kleinwohnungen. Wiederum auf der Karte schwarze Flecke. Favoriten, Meidling, Ottakring und der ganze Norden: dort sind zu 80 bis 100 Prozent ‘‘Klžhf-S’-tjSd Klmttsffvohhühgen vėHiČrrščhi ūcl ! Gäfiz LStadfVfetteIl!-’ tvfenri’nfan dieses veržMitfte Gebiet überhaupt noch Stadt nennen kann — wären sanierungsbedürftig. Das heißt: Verlagerung der Fabriken, ihre Sammlung in Industrie- regionen mit Grünumgürtung; völliges Umdenken im Wohnhausbau, Schaffung von Einzelhäuserreihen mit Bildungszentren (bei denen man weder die Kirchen beiläufig vergessen darf noch die zweckmäßige Lage der Schulen).

RANDBEZIRKE OHNE KULTURELLE FUNKTION — auch das sollte bedacht1 sein. Sehr im Gegensatz zu früher verlor die Welt draußen ihre kulturelle Mittlerstellung zwischen Stadt und Land. Die Folge: das Volksstück, nach dem heute die „Volks”theater suchen, wurde zur Glashauspflanze. Von Stranitzky, Prehauser, Bäuerle zu Nestroy, Raimund und Anzengruber hat ein Weg geführt: von draußen nach drinnen. Heute vereinsamt die Peripherie geistig. Daran ändern auch die propagandistisch-volksbildnerisch aufgetakelten Theater-Wandervorstellun- gen in den Außenbezirken nichts, ja sie unterstreichen gerade das Alleinsein. Kann man sich heute vorstellen, daß ein großes Theater an der Ecke der Thaliastraße und des Lerchenfelder Gürtels steht und dort nicht etwa die „Zirkusprinzessin”, sondern „Tannhäuser” spielt? Und doch ist im „Thalia-Theater” in Ottakring den Wienern am 28. August .1857, also im Hochsommer, mit „Tannhäuser” die erste Wagner- Oper geboten worden! Oder konnte man sich in Meidling, wo jetzt das Theresienbad steht, ein Theater mit 600 Plätzen denken? Unter den Darstellern war Ignaz Friedrich Castelli (dessen iheaterbibliothek jetzt die Nationalbibliothek besitzt), waren Burgschauspieler, wahrscheinlich spielte hier auch Raimund, und Anzengruber trat als L. Anz (Lanz) hier auf. Da und dort fristet heute an der Peripherie eine Liebhaberbühne, ein Stegreiftheater in einem Gasthausgarten, wie in Meidling, sein Leben, kümmerlicher Abglanz einstigen künstlerischen Lebens. „An Aschen!” würde Raimund singen, stünde er nochmals auf.

IN DEN KUNSTAUSSTELLUNGEN sind Bilder von der Peripherie selten, von den Menschen, die dort wohnen und arbeiten, noch seltener. Das Mitglied einer Jury meinte einmal auf einen entsprechenden Vorhalt hat: „Mein Lieber, so was verkauft sich nicht.” Und ein Verleger zu einem Gedichtband, der Themen aus jener verlorenen Welt enthielt: „Das ist zu traurig, das liest niemand.”

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