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Phonix aus der Asche

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ANGELPUNKT UNSERER HOLLANDFAHRT mit ANW, dem Allgemeinen Niederländischen Fremdenverkehrsverband, ist Rotterdam, „die bauende Stadt“. Vielleicht eine der seltsamsten Städte der Welt. Eine alte Hafenstadt, der man aber die „Jahre“ nicht ansieht. Der Grund dafür ist alles andere denn heiter. Man schreibt den 14. Mai 1940, als mit einem vernichtenden Feuerschlag aus der Luft die gesamte Altstadt sowie die meisten östlichen Stadtbezirke in Schutt und Asche sinken. Als ob der Schaden nicht schon groß genug wäre, wird auch ein Großteil der für Rotterdam lebenswichtigen Hafenanlagen im Herbst 1944 zerstört. Zadkines „Zerstörte Stadt“, ein erschütterndes Denkmal an das Inferno von 1940 und 1944, zeigt es deutlicher als viele Worte: eine Riesengestalt, deren Herzteil herausgerissen ist...

„ERST DEN HAFEN WIEDER AUFBAUEN“, das ist die Parole. Vielleicht nur dem verständlich, der - weiß, daß Rotterdam ohne seinen Hafen einfach nicht leben kann. Noch - während der Besetzung gibt es geheime Besprechungen, die sofort nach Kriegsende zu offizieller Planung erhoben wurden. In einer wahren Rekordzeit von vier Jahren ist der grundlegende Wiederaufbau des Hafens abgeschlossen, stehen der Seeschiffahrt 23 und der Binnenschiffahrt 13 Kilometer Kailänge zur Verfügung. Die Tagesumschlagsleistung für Massengüter liegt bei 150.000 Tonnen . . . Rotterdam ist heute schon der zweitgrößte Hafen der Welt und das Tor aus und nach Europa. Europator, Europahafen.

ALTES ODER NEUES ZENTRUM? Das ist nach dem Chaos von 1940 die Frage. Zunächst kann man — es ist Krieg — nur Schutt und Trümmer wegräumen und den Wiederaufbau der Stadt mehr vom Theoretischen her planen. In Form eines „Enteignungsverfahrens auf dem Tauschwege“ — die Besitzer erhalten Grundstücke am Stadtrand für die praktisch kommas-sierten Gründe der Altstadt — wird die Voraussetzung für eine großzügige Stadtplanung im besten Wortsinne geschaffen. Mitten in den ersten bescheidenen Verwirklichungsarbeiten wird der Krieg immer totaler, und im Juli 1942 heißt es vorläufig „Haiti“ für alles. Irgendwie ist dieser Baustopp dafür maßgebend gewesen, daß Rotterdam so wurde, wie es heute ist. Denn durch diese unfreiwillige Zeit der Überlegung und Einkehr klären sich diie Fronten, und die Horizonte erweitern sich. Man distanziert sich mehr und mehr von dem alten Lieblingsgedanken, die Stadt „wie einst“ aufzubauen. Nicht nur aus finanziellen, weit mehr aus grundsätzlichen Erwägungen. Und das Ergebnis ist der Grundplan der neuen Innenstadt: Charakter eines reinen Verwaltungs-, Handels- und Kulturzentrums, Reduzierung der Wohnungen von früheren 25.000 auf nunmehrige 10.000, dadurch Begünstigung von satellitenartigen Zentren rund um die Stadt. Im Inneren: Planung, Planung und wieder Planung; da werden die neuen Banken rund um die Börse arrangiert, das neue Stadttheater und die neue Konzerthalle werden zu einem Kulturzentrum erweitert, zwei frühere große Bahnhöfe hat man zu einem einzigen Bahnhof zusammengefaßt. „Wie in Wien“, schmunzelt ein Kollege. Die wichtigsten Großhandelsbetriebe sind wiederum im „Groothandelsgebouw“ zu finden. Stadt in der Stadt: allein hier arbeiten an die 5000 Rotterdamer ... *

IN DIESES MEKKA DER STÄDTEBAUER UND ARCHITEKTEN hatte man uns also eingeladen, und es ist kein Zufall, daß man uns nach einer höchst eindrucksvollen Hafenrundfahrt zuallererst ins Stadtplanungsamt führt. An die Wiege der neuen Stadt also. Hier ist von Kleinplanung keine Rede, hier entsteht in anschaulichen Modellen Stück für Stück, Viertel für Viertel die neue Stadt. „So und nicht anders wird sie aussehen“, erklärt man uns, und als ich aus der Froschperspektive in eine der (Modell-) Straßen hineinknipse, ahne ich noch nicht, daß man auf dem Dia das Modell nur daran erkennen wird, daß — im Hintergrund ein riesiger Plan des neuen Rotterdam hängt. So detailgründlich ist alles festgelegt. Sicherlich: nur wenige Stadtplaner haben solche „Aus-dem-Nichts“-Möglichkeiten. Wir erleben „dieses Museum modernen Städtebaues“, das wir wenig später in voller Größe sehen werden, hier oben im Stadtplanungsamt in handlichem Modellformat.

EINE PRACHT FÜR SICH IST DIE „LIJNBAAN“, das neue Einkaufszentrum der neuen Stadt. Hier ist „Seine Majestät der Fußgänger,“ unumschränkter Alleinherrscher und weiß, daß er den gegenüberliegenden Gehsteig auch tatsächlich noch lebend erreicht. Weil dazwischen keine Autos fahren. Die fahren samt und sonders von „außen“ zu. Keiner stört ergo den anderen, und das ist gut so. Man ertappt sich, Kummer und Leid gewöhnt, dabei, daß man von einer Auslagenherrlichkeit zur gegenüberliegenden anderen hinüber will und unwillkürlich, links und rechts „sichernd“, gestreckten Schrittes „übersetzt“. Gestern noch ein aufregendes, neues Experiment, ist die „Lijnbaan“ heute bereits oft kopiert, doch nie ganz erreicht worden und immer noch spezielle Station der architektonischen „Pilger“ aus aller Herren Ländern. Wir haben völlig „freie Jagd“, können nach Herzenslust in diesem unbeschreiblichen Fußgängerviertel umherwandern und unsere von „normalen“ mitteleuropäischen Kaufzentrumsbräuchen reichlich ramponierten Nerven gründlich erholen. Sie ist ein wahres Sanatorium, diese Lijnbaan.

WENIGE SCHRITTE „UM DIE ECKE“ grüßt mir, als ich am anderen Morgen noch vor Sonnenaufgang die noch halb schlafende Stadt durchwandere, vor dem alten Rathaus das Gefallenendenkmal von Andriessen entgegen. Anderswo würde man hier von Vandalismus, Grauen, Tenor, Zerstörung und dergleichen lesen. Ich arbeite mich durch den holländischen Text durch . . . und bin erschüttert. „Das Tagwerk braucht einen untadeligen Menschen, man muß ein Unheil in seiner Überwindung vergessen . . . und so unaufhaltsam wie der Möven-schwarm kehrt auch die Lebensdrift wieder . . .“ Und dann jener lapidare Satz, den sich die Rotterdamer durch allerhöchst königliches Dekret in ihr altes Stadtwappen aufnehmen ließen: „Sterker door Strijd“ („Stärker durch Kampf“). Wahrhaftig: Rotterdam ist eine einzige Manifestation ungebrochenen und durch keinerlei Haßgefühle getrübten Wiederaufbauwillens seiner gesamten Bevölkerung. Und wenn uns unsere holländischen Freunde und Gastgeber beim Abschied sagen: „Wir haben Rotterdam wiederaufgebaut“, dann darf jeder einzelne dieser Riesenstadt ein Stück dieses „wir“ in Anspruch nehmen.

OHNE GROSSBAUTEN NUR DIE HALBE STADT, und wer nicht den Maastunnel (er wurde während des Krieges, als die königliche Familie und die Regierung im britischen Exil weilten, praktisch durch drei Rotterdamer Buben „eröffnet“) kennengelernt hat, der kennt wirklich eine technische Sehenswürdigkeit nicht. Originelle Art, ihn zu bauen: man verfertigt neun Senkkästen aus Eisenbeton von je 61 Meter Länge, senkt sie auf den Boden der Maas ab, verbindet sie untereinander, und fertig ist der Tunnel! Notabene mit vier säuberlich getrennten Einzeltunnels, zwei für Motorfahrzeuge, für Fußgänger und Radfahrer je einer. Originelle Verbindung der „zwei Stadtteile“, des alten Kerns am rechten und der neuen Viertel am linken Maasufer. Was sich hier pro Stunde reibungslos durchbewegen kann? 6000 Kraftfahrzeuge, 16.000 Radfahrer (die „fietse“ ist das holländische Hauptverkehrsmittel, vom Minister bis zum Milchmann) und 72.000 Fußgänger.

DIE ROTTERDAMER HABEN GIGANTISCHES VOR. Sie bauen gegenüber Hoek van Holland — zweiter Welthafen ist schön, erster Welthafen ijSt noch schöner — unter dem beziehungsreichen Namen „Europa-poort“, also Europator, Europahafen, ein ausgesprochenes Gigantprojekt von Hafen. Mit eigenem Hafenbecken für Supertanker, angeschlossenen Pipelines, geplanten Hochöfen, Stahlfabriken, Walzwerken, riesigen Lagerräumen und so weiter.

„Gleich um die Ecke“ haben sie in Form der sogenannten „Deltawerke“ das Vielerlei der Mündungsarme von Maas, Lek und Rhein gegen das Meer abgedeicht. Oft und lange genug hat das Meer ihnen landeinwärts üble Streiche gespielt. Damit ist es jetzt vorbei, und riesige Flächen von (heute) Binnenseen und (morgen schon) Nutzland wurden gewonnen. Was wir im Rotterdamer Stadtplanungsamt nur ahnten, hier wird es zur Gewißheit: Rotterdam steht erst am Anfang seiner Zukunft. Die wird gigantischer werden, als es sich vielleicht selbst die Rotterdamer vorstellen.

ROTTERDAM HAT SEINEN „EUROPAMAST“, so wie Stuttgart seinen Fernsehturm, New York seine Freiheitsstatue oder Wien seinen „Steffel“ (der durch den Riesenturm jenseits der Donau moderne Konkurrenz bekommen wird). Den Rundblick muß man genossen haben. Um ihn zu genießen, zischen wir — übrigens mit einem österreichischen Aufzug! — in wenigen Sekunden in das „Krähennest“ in mehr als 100 Meter Höhe. Wer (noch) nicht schwindlig ist, kann es hier, weit über Stadt und Hafen, lernen. Wenngleich man bemüht ist, den ob solchen erhöhten Standpunktes etwas unsicheren Zeitgenossen sogleich mittels kulinarischer Medizin wieder ins rechte Lot zu bringen. Und auf diesem Gebiet sind die Holländer kaum zu schlagen. Wem es übrigens „hier oben“ zu hoch ist, der kann in 32 Metern Höhe eine komplette Schiffskommandobrücke besichtigen und einen „Trockenkursus“ in Seefahrt mitmachen. Alles inbegriffen.

Wer sich Seewind um die Nase wehen lassen will, der kann noch ein wenig höher klettern und von den Aussichtsterrassen das Stadtpanorama genießen. Abends, so wie wir es erleben, einfach unvergeßlich.

MAN HAT UNS SEHR VIEL GEZEIGT, und trotzdem könnte man in dieser einmaligen Stadt noch lange, iange unterwegs sein und würde immer noch etwas Neues, Bemerkenswertes, Einmaliges, Originelles entdecken. Die Holländer lösen hier ihre Städtebauprobleme nicht „irgendwie“, sondern eben originell. So genial einfach und einfach genial, so ganz im Stile des erwähnten „so und nicht anders muß man's machen“. Viel zu früh heißt es Abschied nehmen. Wenig später braust unser Kombibus nach Norden, der Grachtenstadt Amsterdam entgegen. Aber wir werden noch lange, weit über die Fahrt hinaus, zu tun haben, um all das Erlebte, Gezeigte, Mitgegebene zu „verdauen“.

Eine Stadt, die wie Phönix aus der Asche neu erstanden ist, bleibt hinter uns zurück. Aber nur „auf der Landkarte“. Rotterdam muß man gesehen haben, um es nicht vergessen zu können und um klein und stolz zugleich zu werden.

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