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Richard Neutra

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U m das Werk Richard Neutras würdigen zu können — insbesondere vom Standpunkt des Europäers aus —, erscheint es notwendig, die Wurzeln aufzuzeigen, mit denen es einerseits der österreichischen, anderseits der amerikanischen Architektur verhaftet ist und die es mit den internationalen Bestrebungen der modernen Architektur verbinden.

Der in den Bauten Neutras sich dokumentierende Formausdruck zwingt zur Auseinandersetzung mit der Frage:

Gibt es einen nationalen Bau- und Wohnungsstil in den Vereinigten Staaten und welche Komponenten waren zu seiner möglichen Entstehung wirksam?

Für die Bildung einer amerikanischen Architektur waren zunächst bestimmend:

1. der funktionalistische Form-sinn des Amerikaners, der sowohl dem Erzeuger als auch dem Werbraucher in den Vereinigten Staaten natürlich und angeboren ist und der seit 'den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts besonders ausgebildet wurde, und

2. äußere Einflüsse durch europäische Ueberlieferung. Sie erfolgten durch verschiedene Länder, und zwar: durch England: im mittelalterlichen Sinne bis zum Londoner Großfeuer von 1666, im klassizistischen Sinne im IS. Jahrhundert, im romantischen Sinne im 19. Jahrhundert; femer durch: Holland, Deutschland und Skandinavien, in bäuerlichem und „unprofessionellem“ Sinne in der Frühzeit, teilweise auch später, und weiter vom Mittelmeer: in volkstümlichem Sinne in professioneller Auslegung im 20. Jahrhundert, und durch Ostasien, insbesondere Japan.

Schließlich muß noch die amerikanische Ueberlieferung vor der angelsächsichen Staatengründung erwähnt werden, also die indianische, mayanische, aztekische, mexikanische, als professionelle Beeinflussung zu Ende des vorigen und Beginn unseres Jahrhunderts. alß VGnPieg£%de Träger- der Einflüsse, waren: Handverketu und, Amateure !jfirudetvfrükesten Zeit. Ingenieure: in der Frühzeit bis etwa 1810, architektonische V orlagenwerke insbesondere französischer Provenienz seit dem Ende des 17, Jahrhunderts, und im 19. Jahrhundert: professionelle Architekten und kulturell interessierte Einwanderer.

Der für lange Zeit entscheidende Block von Ersteinwanderern an der atlantischen Küste war von puritanisch-beschränkter Sachlichkeit. Diese Geistesverfassung, an sich durchaus nicht gleichsetzbar mit Rationalismus, wurde wesentlich für dessen gegenwärtige nordamerikanische Spielart, die sich fest auf die klar meßbaren Felder praktischer Tätigkeit bezieht und keine Hinneigung zu philosophischer Spekulation zeigt, wie etwa der französische Rationalismus des 18. Jahrhunderts.

Wenn man das Werk Richard Neutras einer kritischen Analyse unterzieht und unter dem Aspekt der gegenwärtigen Architekturentwicklung von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet, so ist folgendes besonders hervorzuheben:

Vom allgemein archtitektonischen und städtebaulichen Standpunkt gesehen, zeigt sich im Werk Neutras ein deutliches Abrücken vom amerikanischen Typus des Stockwerk- und Hochhauses für Wohnzwecke. Gemeinsam mit Fr. L. Wright, einem leidenschaftlichen Verfechter des Flachbaues, propagiert Neutra den ebenerdigen Wohnhausbau, nicht nur aus menschlichen und hygienischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen. Interessant ist die Feststellung, daß Wright nach seinen systematischen Untersuchungen über die Vor- und Nachteile des Hochhauses und des Flachbaues zu dem Ergebnis gelangt, daß der Flachbau im Wohnhausbau, trotz des hiedurch bedingten ungeheuren Wachstums der Städte, im Gesamteffekt, volkswirtschafthich gesehen, günstiger erscheint als das Hochhaus. Es tritt somit das für eine spätere Kunstgeschichtsschreibung sehr interessante Phänomen auf, daß in der Mitte des 20. Jahrhunderts führende amerikanische Architekten das Flachhaus vertreten, während namhafte Pioniere einer modernen Baukunst in Europa, wie etwa le Corbusier, das Hochhaus inmitten großer Grünanlagen und die Zusammenfassung des Wohnraumes zu großen Wohneinheiten propagieren.

Vom formalen Standpunkt betrachtet, erhebt sich die Frage: wie weit ist die Architektur Neutras seit der Zeit, als er an die Möglichkeit der Entwicklung einer Kunstform aus den .struktiv-funktionalen Gegebenheiten des amerikanischen Wohnhausbaues dachte, also seit etwa zwanzig Jahren, „Kunstform“ geworden?

Als Neutra diese Möglichkeit in seinem Werk „Amerika, die Stilbildung in den Vereinigten Saaten“ erwähnte, hatten auch namhafte emtpäsche Architekten ein völlig neues Raumideal entwickelt. Im Anschluß an den Kubismus in der Malerei, mit seinen die perspektivische Raumkomposition auflösenden Tendenzen, geht die Auflösung des Raumes auch in der Architektur vor sich. Hatte Otto Wagner noch mit durchaus konkreten, perspektivisch erdachten Räumen gearbeitet, beginnt bereits bei Adolf L o o s die Entwertung des Räumlichen zugunsten des flächenhaften Gefüges — und damit die Entwertung der Wand als raumabschließendes Element im Sinne einer kubischen Auffassung des Raumes. Insbesondere die namhaftesten Architekten der vornationalsozialistischen Aera in Deutschland haben diese Auflesung weiterentwickelt, wie Mies van der Rohe, Walter Gropius, Marcel Breuer, Erich Mendel-sohn und andere, die ab 1932 nach den Vereinigten Staaten in die Emigration gingen und dort bereitwilligst aufgenommen wurden. Durch die Lehrstühle, die ihnen an den großen amerikanischen Universitäten angeboten wurden, erhielten sie großen Einfluß auf die junge Architektengeneration der USA.

Dieser in Europa von einem geistigen Standpunkt aus erfolgten Raumauflösung, als Ergebnis einer Erweiterung des optischen Gesichtsfeldes in der modernen Kunst, kam in den Vereinigten Staaten das aus wesentlich anderen Motiven von Fr. L. Wright entwickelte, aufgelöste, räum- und landschaftsverbindende ebenerdige Wohnhaus entgegen. Statt einer Raumfolg, wie.-iimder; früheren Architektur, ist nun •die iRamwdi'u r c h d r i n g un grsitafs Kompositionsprinzip der modernen Baukunst. Die Wand verliert ihre Funktion als Abschluß; die Räume sind nicht mehr als Einzelzellen gestaltet, sondem der Großraum, nur funktionell durch entsprechende Möbelstellung unterteilt oder durch halbhohe Wände getrennt, bestimmt das Haus. Die äußere Umhüllung als stoffliche Wand macht der Begrenzung des Raumes durch die entstofflichende Wirkung großer Glasscheiben Platz. Der Raum setzt sich in Form von Terrassen und Plattformen, ohne Treppen, sondern mit gleicher Fußbodenhöhe in den Garten oder die Landschaft fort, in der Wirkung unterstrichen von weitauskragenden Baldachinen, die die Grenze von innen und außen weiter verwischen.

Es ist eine Ausstrahlung des Innenraumes nach außen und ein Hereinziehen der Landschaft in •den Innenraum.

Eine neue Form des landschaftsver-bundenen Baurrfs — allerdings in einem .anderem Sinne als- dieses oft mißverständlich gebrauchte Worte bei uns angewandt wird — kündigt sich an. Dieses landschaftsverbundene Bauen wird bei Neutra nicht durch Anwendung traditionsbedingter Bauformen erlangt, die sich in die Landschaft einfügen, sondern im Gegenteil dadurch, daß das Bauwerk, als Produkt des menschlichen Geistes, in kristallin-kubischer Form den bewegten Linien der Natur entgegengestellt wird. Die Wirkung dieser gläsernen, mit flachen Dächern abgedeckten Kuben in der bewegten Gebirgslandschaft ist eine überraschende. Aber auch der Ausblick aus den Räumen i n die Landschaft läßt dieselbe durch die Großräumigkeit erst voll zur Wirkung kommen. Durch die äußerst zart dimensionierten, eloxierten Aluminiumprofile der Tür- und Fenstersprossen wird die Glaswand in rhythmisch sich wiederholende Einzelabschnitte zerlegt. Die Landschaft erfüllt den Raum wie ein kostbares Gemälde. Die bewegte Wirkung der, Landschaft wird noch gesteigert durch jeglichen Verzicht auf d e k o r a t i v e Details in der Raumgestaltung. Als dekoratives Detail wirkt lediglich der Schmuck der Blumen und Pflanzen, der allerdings nach rein architektonischen Grundsätzen in die gesamte räumliche Komposition einbezogen wird.

Das gleiche äußerst feinfühlige Augenmerk wird der Behandlung des Materials gewidmet. Die Differenzierung der verschiedenen Oberflächenwirkungen wird mit der gleichen Delikatesse ausgeführt wie die farbige Ueberein-stimmung. Hierin zeigt sich allerdings in besonderer Weise der große Meister Neutras, Adolf Loos.

Gerade diese Vollkommenheit der Beherrschung sowohl des funktionalen als auch des konstruktiven Elements hat die radikalen Vertreter der verschiedenen Richtungen der modernen Architektur, der „Funktionalisten“ und der „Konstruktivisten“, immer wieder veranlaßt, Neutra für sich in Anspruch zu nehmen. In Wahrheit gehört er keiner der extremen Gruppen an.

Von noch einem Standpunkt ist das architektonische Werk Richard Neutras, zusammen mit dem Fr. L. Wrights und gleichgesinnter amerikanischer Architekten, von Bedeutung: es ist der vollendetste Ausdruck dafür, daß die amerikanische Nation über die Zivilisation hinausgewachsen ist und, in ähnlicher Weise wie in der Literatur, eine Kulturform des2 0. Jahrhundert entwickelt hat. Während anderswo vielfach rückläufige Bewegungen festzustellen sind und über Probleme diskutiert wird, denen der geschichtliche Hintergrund unserer Zeit fehlt, ist hier in äußerster Konsequenz der Weg beschritten, um zu einem künstlerischen Ausdruck uüserer Zeit und unseres Lebens-thythmus zu gelangen.

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