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Seele und Gewissen der Stadt

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„Hure Babylon” oder „himmlisches Jerusalem”? Die Kirchen müssen lernen, die Stadt - in allen Facetten - als Aufgabe wahrzunehmen.

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„Hure Babylon” oder „himmlisches Jerusalem”? Die Kirchen müssen lernen, die Stadt - in allen Facetten - als Aufgabe wahrzunehmen.

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Stadtkirchen: Anbiederung an die „Hure Babylon” oder Utopie vom „himmlischen Jerusalem”? Eine Tradition in der Wahrnehmung von Stadt ist die Klage über „den Wahnsinn der Biesenstadt, mit diesen gehäuften Wohnungen ... mit diesen Häuserwüsten, aus denen der graue Morgen das Proletariat über die Schienen der Straßenbahn ... in die Fabriken, in die Büros speit ... Die Struktur der Stadt ist Todsünde.” (Carl Sonnenschein, Berliner Großstadtseelsorger 1926). Seine Beaktion: „So baut sie um ... Umrandet sie mit neuem Leben!”

1 )ie moderne Stadtkultur läßt sich nicht ohne weiteres verteufeln, in ihr liegen lebens- und Todeszeichen nah beieinander, die Stadt ist Segen und Much zugleich. In der Mitte vieler Städte sind Kirchen angelegt, als lebendige Steine für den Aufbau einer humanen Stadt. Sie verstehen sich als eine Antwort auf Urbanisierung, die durch Anonymität und Mobilität gekennzeichnet ist. Zugleich ist es auch eine Annahme der Stadt. Die Gemeinden der Stadtkirchen sind eine Herausforderung für die Städte, Lebensraum für Menschen zu sein. Die Gemeinden sind von der Stadt herausgefordert, nicht zu versteinern und ein Garant für die Humanität in der Stadt zu sein. Es braucht Widerspruch gegen den Verdacht, daß die „Linien der Humanität und Urbanität nicht zusammenfallen”. (Georg Christoph Lichtenberg)

Auch wenn die Menschen, die Tag für Tag in die Städte strömen, nicht ausdrücklich die Kirchen oder Gott suchen, liegen sie am Weg.

Wer mag die Stadtkirchen daran hindern, die Menschenströme im endzeitlichen Bild der Völkerwallfahrt zum Berg Zion wahrzunehmen; Menschen - unterwegs auf jene Stadt hin, die ihren Sehnsüchten Erfüllung gibt? Damit kann der Klage über die gottlose Stadt und allen Säkularisierungsparadigmen der Boden entzogen werden: Die Menschen strömen in die Städte - wie begegnet ihnen Kirche: offen und interessiert, als Anwältin des Lebens in der Stadt, oder zurückgezogen?

Gleich welcher Deutung von Stadt man folgt - pessimistisch-realistischer oder visionär-optimistischer —, das Christentum fühlte sich immer schon zur Stadt hingezogen. Zu Zeiten der frühen Kirche waren die Städte bevorzugtes Missionsfeld, da sich hier die befreiende Botschaft von Jesus Christus als dem angekommenen Messias schnell verbreiten konnte. Gleichzeitig zogen sich Christen immer wieder aus den Städten zurück, sei es wegen Verfolgungen oder um der Ambivalenz des pulsierenden Stadtlebens zu entkommen, um sich sozialen und moralischen Spannungen zu entziehen und/oder in einem (räumlichen) Kontrast außerhalb der Städte zu leben. Die mittelalterlichen Bettelorden wurden gegründet und kamen aus den gleichen Gründen in die Städte zurück: Zu drängend waren die sozialen Aufgaben geworden. Hand in Hand mit der lebenspraktischen Caritas wurde das Evangelium handgreiflich verkündigt, ein konkret erfahrbarer Gott. Die Auseinandersetzungen der Reformation, später dann der Aufklärung führten gerade in den Städten zu Missions- und Bildungsoffensiven, um Gefolgsleute zu gewinnen.

Später tat sich die Kirche schwerer: In Wien etwa wurde die Kirche nach den josefinischen Beformen, die neben der Neuordnung der Seelsorge durch flächendeckende Pfarren zugleich der obrigkeitlichen Kontrolle dienten, von der industriellen Bevolution überfordert und konnte das durch Verstädterung und Landflucht entstandene Proletariat nur schwer erreichen. Die Abwesenheit der Kirche in den Arbeitervierteln und deren sozialistische Orientierung ließ einen starken Antiklerikalismus wachsen. In der Ersten Bepublik kam es zu einer weiteren Entfremdung zur Kirche, die heute einer Gleichgültigkeit gewichen ist.

Dennoch ist in Wien die Präsenz der Kirchen unübersehbar. Ob und wie diese Kirchen prägende Kräfte, lebendige Orte der Gottesbegegnung neben den pulsierenden Konsumtempeln der Einkaufsstraßen sein können, oder ob sie zu musealen Kulturdenkmälern degradiert werden, bleibt Herausforderung.

Mit dem Stadtleben ist seit alters her ein großer Freiheitsanspruch verbunden, den die plurale urbane Gesellschaft heute zu erfüllen scheint. Ob damit auch der Anspruch der Humanisierung des Menschen eingelöst werden kann, bleibt offen. Jedoch sind die christlichen Kirchen und Gemeinden ein unverzichtbarer Bestandteil der städtischen Kultur. In Großstädten gibt es ein Zentrum, die „City” - eine ganz spezifische I Ierausforderung für Kirche. Eine Seelsorge an diesem Ort umfaßt Überlegungen, wie die Kirchen in der Stadt trotz (oder gerade aufgrund) des religiösen Marktes sichtbar und ansprechbar bleiben. Citypastoral veranschaulicht die kirchlichen Aktivitäten und macht diese einladend zugänglich - über die verschiedenen christlichen Gemeinden, über vielfältigste Formen der Liturgie bis zum Aufbau eines caritativ-diako-nalen Netzes:

Die Kirchen sind meist erste Anlaufstelle für viele - von den Suchenden bis zu den Opfern der Gesellschaft. Diese Pastoral nimmt wahr, wie unverzichtbar das christlich-kirchliche Engagement in der Stadt ist und sorgt für Anerkennung und Vernetzung. Über den kirchlichen Baum hinaus braucht es Kooperationen mit der Stadtgemeinschaft. Hier ist ein weites Entwicklungsfeld.

Der Anspruch der Kirche(n), im Leben der Stadt präsent zu sein, kann auf verschiedenen Ebenen eingelöst werden, kirchliche Präsenz jedoch scheint in religiösen, kulturellen und vor allem in tagespolitischen Bereichen eher zufällig als zeitgerecht und pünktlich. Das menschliche Angesicht der Stadtkirche ist entwicklungsfähig - und unverzichtbar: Den Menschen unterwegs in der Stadt werden Menschen begegnen, die nicht Getriebene ihrer Zeit sind. Die Begegnung mit den Kir chen in der Stadt soll Unterbrechung sein des Getriebenseins und Menschen in ihrem Maß und in ihren Grenzen ernstnehmen.

Die Stadt als Aufgabe wahrzuneh men, ist für die Kirche zugleich die Herausforderung, sich als „Kirche der offenen Türen” zu verstehen. Gott in der Stadt greifbar und erfahrbar zu machen, ist ja nicht (mehr) Monopol der Kirchen. Dennoch ist die Anwesenheit der Kirchen in der Stadt herausforderndes Zeichen dafür, daß in den anderen, in den Fremden und Reisenden, Shoppern und Sandlern Gott auf sie zukommt und auch für sie neu erfahrbar wird. Gemeint ist letztendlich die Aufgabe, daß Christen sich als „Seele und Gewissen der Stadt” (so die frühchristliche Schrift an Diognet) verstehen und danach handeln sollen.

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