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Selbstmord der schöpferischen Architektur?

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Dies ist ein eigenartiger Aufsatz. Er darf nicht mißverstanden werden. Er kommt nicht von einem geschworenen Gegner alles Modernen, nicht von jemandem, der aus Natur an allem Neuem herumnörgelt. Die Verfasserin dieser Zeilen, Frau Sibyl Moholy- Nagy, ist die Witwe des 1946 in Chikago verstorbenen Bauhausmeisters Laszlo Moholy- Nagy, der zeitlebens einer der entschiedensten Vorkämpfer der Moderne und einer der kühnsten Experimentatoren war. Sibyl Moholy-Nagy, die seinen Lebensweg begleitete, sah denn auch nicht nur die unbestrittenen Vorzüge, sondern auch die Gefahren, die manche Entwicklungen mit sich brachten. Aber nicht nur als Gattin des Bauhauskünstlers ist sie berechtigt, über neue Architektur zu sprechen — sie selbst wirkte jahrelang in den USA als Architekturdozentin. An verschiedenen deutschen Hochschulen hielt sie einen Vortrag, in dem sie bewußt einseitig die Tendenzen anprangerte, die das Technologische und Konstruktive tu sich schließen. Die vollständige Fassung des Vortrages erschien in der „Bauwelt“ (Verlag Ullstein, Berlin). Wir bringen hier einen Auszug. Die Redaktion

ES IST EINE MERKWÜRDIGE SACHE, mit einem Beruf assoziiert zu sein, dessen stärkste Talente es augenscheinlich darauf abgesehen haben, beruflichen Selbstmord zu begehen. Wie Besessene strömen die Architekten in die Arena, um sich von den Ingenieuren verschlingen zu lassen. Lieberall im Bauwesen werden Ruhm, Ruf und Verdienst nicht mehr dem Entwerfer zuteil, sondern dem technischen Erfinder, dem wir das vorfabrizierte Massenhaus, den Muschelbeton und .,1001 neue He& J£ ihl-, Beleuch- unii AnlaSf” v,er'

danken. Architekten wie Architekturkritiker sind mit wachsendem Eifer darum bemüht, sich selbst und das Publikum zu überzeugen, daß der gute Architekt eigentlich ein Ingenieur in akademischer Verkleidung ist. Der Einfluß dieser selbstmörderischen Einstellung hat auf die Architekturschulen einen entscheidenden Einfluß ausgeübt. Dort herrscht heute eine geradezu schizophrene Atmosphäre. Der brennendste Ehrgeiz unserer Architekturstudenten richtet sich auf zwei Ziele: Erstens den siebenundfünfzig bestehenden Variationen von Betondecken eine achtundfünfzigste hinzuzufügen; und zweitens nichts Geringeres von Grund auf neu zu planen als Tokio, Chikago oder zumindest das Ruhrgebiet Gleichzeitig aber bedienen sich unsere Entwurfsklassen noch immer des Akademischen Vokabulars. Wir sprechen vom Raumerlebnis, von der Harmonie der Maße, vom Adel des Materials, und wir verlangen wenigstens eine Scheinehe mit der Architekturgeschichte.

Mit der Fingerfertigkeit eines Zauberkünstlers versuchen wir, die Anschauungen mit der vorfabrizierten Außenhaut, dem Einheitsmaßskelett und der standardisierten Raumdimension zu vereinigen. Wir trainieren das kritische Sehvermögen der Studenten an Bunshafts Lever House, an Mies’ Seagram Building oder an Le Corbusiers Sekretariat der Vereinten Nationen; und wir vergessen taktvollerweise zu erwähnen, daß in 99I/2 Prozent der übrigen Hochbauten Material, Form und Raum längst vom Statiker, vom Finanzier und vom Vermietungsagenten festgelegt worden sind, wenn der mehr oder weniger berühmte Architekt herangezogen wird, der seinen Namen als kulturelles Aushängeschild und - wenn er viel Glück hat - eine Eingangshalle oder einen Vorhof beisteuert.

Es ist aber statistisch belegt, daß die überwältigende Mehrzahl unserer Studenten damit rechnen muß, ihren Beruf in Klein- und Mittelstädten auszuüben, und daß ihr Lebensunterhalt von kleinen und mittleren Projekten abhängt. Für diese Schulen, Büchereien, Kliniken, Läden und Bürogebäude geht T :hnologie nie über moderne Heiz-, Licht- und Sanitäranlagen hinaus. Radikale Abwandlungen von traditionellen Baumaterialien und Raumfunktionen sind selten; und die grandiosen Gesamtplanungen unserer Städtebauabteilungen werden so lange verspielte Utopien bleiben, solange Grundbesitz Privateigentum und Spekulationsobjekt ist. Durch diese Diskrepanz zwischen Schulung und Wirklichkeit läuft der Beruf des Architekten Gefahr, so überflüssig zu werden wie der des Nachtwächters und Schornsteinfegers, Unsere Architekturkandidaten sind weniger und weniger fähig, der Architektur in ihren Gemeinden einen entscheidenden Einfluß zu sichern, weil sie nicht wissen, ob sie Architekten sind oder Ingenieure, ob ihr Berufsziel die Kunst der Architektur oder die Fertigkeit der Konstruktion sein soll.

DIE FRAGE IST: Wie sind wir in dieses Dilemma hineingeraten? Wann und warum haben die Architekten der westlichen Kulturen ihre tausendjährige Stellung als Former der sichtbaren Welt geräumt? Wann hörten sie auf, Künstler zu sein, und wurden lediglich Konstrukteure?

Die Demolierung der Kunst als Urgrund aller Kultur ist der Originalbeitrag des zwanzigsten Jahrhunderts zu den Annalen der

Menschheit. Sie begann mit drei Kriegserklärungen an Part pour l’art. Die erste Kriegserklärung war Marinettis Futuristisches Manifest von 1909: „Ein rasender Motor ist unendlich viel schöner als die Siegesgöttin von Samothrake", proklamierte Marinetti. Museen seien die Krebsschäden der Menschheit, die den Fortschrittswillen abtöten. Er wurde unterstützt und kommentiert von Le Corbusier. In seinem enorm einflußreichen Buch „Vers une Architecture“ (1923) zeigte Le Corbusier bildlich, wie französische Bauten aus sieben Jahrhunderten zu belanglosen Nippsachen werden, wenn man sie mit der funktionellen Schönheit eines Ozeandampfers vergleicht. „Unsere Ingenieure, die neuen Hellenen unserer Epoche, geben uns in der Form ihrer Automobile eine Schönheit, die Phidias mit Neid erfüllt haben würde.“

Die zweite Kriegserklärung an die Kunst um der Kunst willen kam vom Bauhaus, das Entwurf und Architektur als Sozialwissenschaft etablierte. Die erste Bauhausproklamation plädierte gegen „das Klassenbewußtsein, das eine arrogante Schranke zwischen Handwerker und Künstler errichtet“, und nahm sich zum Ziel, „den Künstler in den Werktag der realen Welt einzugliedern“. Kunst wurde zum'gleichwertigen Wohnelement wie Möbel, Heizkörper und Utensilien. Die neuen Realitäten Wissenschaft, Technologie und Massenproduktion sollten vom Bauhausarchitekten beherrscht werden, um „den

Bau zu rationalisieren und ihn fabrikmäßig herzustellen, indem die Struktur in eine Anzahl standardisierter Einzelteile aufgelöst wird. Diese Standardisierung wird den gleichen vereinheitlichenden und ernüchternden Einfluß auf unsere Städte haben wie die Typisierung der modernen Kleidung auf unser soziales Leben."

Die dritte Kriegserklärung an die Kunst als Selbstzweck kam von Amerika mit dem pragmatischen Relativismus von William James und John Dewey. „Die ästhetische Erfahrung", schrieb John Dewey in „Kunst als Erfahrung“, „ist ein kontinuierlicher Vorgang des Handelns und Experimentierens. Wir verwerfen die Behauptung, daß es ein ästhetisches Erlebnis der zeitlosen Form gibt.“ Der Kunst wurde eine neue Funktion zugeteilt. Sie wurde Therapie und pädagogisches Zweckmittel. Pragmatische Erziehungskunst, wie Dewey sie formulierte, bildet heute noch die Grundlage des Kunsterziehungskurses, der an jeder besseren Schule zu haben ist und wo sich der Schüler zwei Stunden in der Woche als Künstler fühlen darf.

DIESE GENERALANGRIFFE mit dem gemeinsamen Ziel, die Kunst von ihrem alten Sok- kel auf den Marktplatz zu ziehen, waren äußerst erfolgreich. Dreißig Jahre sind ein ansehnliches Stück Zeit, und wir können heute über die greifbaren Resultate dieser einzigartigen Revolution urteilen. Marinettis „rasende Motoren“ sind die Eltern der amerikanischen Automobile mjt dem Flossenhinterteil. Der Bauhaustraum einer „vollrationalisierten Bauwirtschaft“ hat sich in einem Ausmaß verwirklicht, daß heute, zumindest in Amerika, weit mehr als 90 Prozent aller Wohn-

Stätten fabrikmäßig aus „standardisierten Einzel-' teilen“ hergestellt werden. Der Effekt — visuell sowohl als auch psychologisch — ist garantiert „vereinheitlichend und ernüchternd“, wie das Bauhausgesetz es befahl. Aber den tragischsten, weil hintergründigsten Erfolg hat John Deweys pragmatische „Kunst als Erfahrung“ zu verbuchen. Kunst ist nicht mehr die Gabe der Wenigen an die Vielen, eine Gabe, die die zeitbedingte Realität ins Zeitlose sublimiert, sondern eine Fertigkeit, die jedem zugänglich ist. Diese Demokratisierung der Kunst bringt unsere jungen Menschen um das fundamentale Erlebnis, mit Schauder Größe zu erkennen. Wo alles einem nützlichen Endzweck dient, bilden sich keine Ideale, die eine Inspiration vermitteln, die über persönlichen und wirtschaftlichen Wechselfällen steht.

Die Versklavung der Architektur durch die Konstruktion hat letzthin als logische \Folge ein neues Konzept hervorgebracht: Undauerhaftigkeit. Auf einer Grammophonplatte, die kürzlich von der Reynolds Aluminiumgesellschaft in großer Zahl in Amerika verteilt wurde, haben sich einige der bekanntesten Architekten gegen die den Einzelmenschen überlebende Architektur ausgesprochen. Ernest Kump und besonders Gordon Bunshaft von Skidmore, Owings & Merrill plädierten für die Gleichstellung des Gebäudes mit anderen Nutzgütern und schlossen sich damit der zuerst vom Bauhaus erhobenen

Forderung nach dem Haus als einer Fabrikware an. Ständig wachsende Ansprüche an den. technischen Komfort lassen heute, so argumentierte Bunshaft, Gebäude in 25 Jahren veralten. Wir sollten deshalb so bauen, daß ein Gebäude in 25 Jahren niedergerissen und durch ein zeitgemäßeres ersetzt werden kann. Der Haken in dieser nicht so brandneuen Theorie ist der, daß Gebäude die peinliche Angewohnheit haben, stehenzubleiben, wenn ihr Erbauer stirbt, und daß unsere Oekonomie die noch peinlichere Angewohnheit hat, auch noch aus einer Ruine den letztmöglichen Profit herauszuquetschen. Es bedarf keiner Weissagung des Nostradamus, um vorauszusehen, daß der Aufruf zu minderwertiger Baukonstruktion im Namen des Fortschritts unsere Kinder und Kindeskinder dazu verdammt, im Aequivalent des Automobilschrotthaufens ihre Tage zu verbringen.

Ein entscheidender Faktor in diesen Mißverständnissen des Architektenberufes ist die Entwertung der Einzelpersönlichkeit in der Praxis und in der Schulung. Der Architektenberuf, einst ein numerisch kleiner und unpopulärer Beruf, ist heute Teil der Massenerziehung geworden. In den Vereinigten Staaten hat sich die Zahl der Architekturstudenten seit 1945 vervierfacht. Die unabänderliche Folge ist ein Lehrplan, der sich an Themen hält, die zur schematischen Wiedergabe geeignet sind — also ganz besonders Bautechnik. Im Jahre 1913, lange vor dem Zeitalter des architektonischen Selbstmordes, schrieb der Philosoph North Whitehead: „In den Anfangsstadien einer neuen Kunstentwicklung dient die Technik als Hilfsmittel, um die brennenden Ueberzeugungen des Künstlers auszudrücken. Diese Technik ist oft primitiv. Später, wenn die Kunstform reift und ihre Technik sich etabliert und durch Lehren weitergegeben werden kann, fördert man die geschickten Jungen, die die Technik schnell erlernen können und deren Arbeiten brillant und ohne Tiefe sind, lieber sie, die Geschickten, vergißt man die Jungen mit den zukunftsträchtigen Träumen.“

UNTER DEM SCHLACHTRUF „TEAMWORK“ — Zusammenarbeit in Gruppen — eliminiert man die unerziehbaren Einzelgänger, die Jungen mit den zukunftsträchtigen Träumen. Es gibt zweifellos begabte Architekten, die das Glück haben, Partner von gleichem Niveau zu finden. Allgemein jedoch hat solche Gemeinschaftsarbeit nur in seltenen Fällen zu hochwertigen Ergebnissen geführt. Teamwork, das fruchtbar sein 'söil; muß atrf Völliger Reife jedes GruppWunttgllö8es: aüfgfehätlt1 s£W. Der junge Mensch braucht die Perspektive der großen Individualleistung als Leitmotiv seiner Entwicklung. Statt den Glauben in diese Höchstleistung mit allen Mitteln zu fördern, bieten wir den zukünftigen Architekten eine Ideologie an, die sie jedes Stolzes in ihrem potentiellen Originalbeitrag beraubt.

Dies denn ist unsere Lage: die alten Führer führen nicht mehr. Sie sind zu beschäftigt, sich gegenseitig zum Sieg der modernen Architektur zu gratulieren, um sich über die Häßlichkeit der neuerbauten Welt Rechenschaft abzulegen. Niemand wird ihren Beitrag als notwendige Stufe zu einer gegenwartsdienenden und zukunfts- träehtigen Architektur abstreiten. Wir können heute Perrets klassisches Vokabular, Behrens’ „Industriebiedermeier“ oder van de Veldes Guß- eisenbotanik objektiv bewerten. Es besteht aber ein fundamentaler Unterschied zwischen Hochachtung vor dem historischen Beitrag und einer auf Magazinpropaganda beruhenden Glorifizierung von Architekturprinzipien, die durch die spezielle Kulturlage der zwanziger Jahre bedingt waren. Kollektivismus und Technologie waren damals weltverbindende Ideale, die eine zusammengebrochene Gesellschaftsordnung ersetzen sollten.

Inzwischen sind wir eine Generation und einen Weltkrieg weiter, und wir sollten uns klar darüber sein, daß Technologie und Kollektivismus nur die Grundlage einer scharf begrenzten Bautätigkeit — für Industrie und Administration — sein kann. Architektur der öffentlichen Gebäude, des Wohnraumes und der Kirchen dagegen muß geschichtsbildend sein oder sie verliert ihre Daseinsberechtigung. Für jeden Architekten solcher Gebäude muß der unvermeidliche Moment kommen — gefürchtet und ersehnt —, wenn er auf sich selbst angewiesen ist, wenn es seine Verantwortung und die Verantwortung niemanden andern ist, die Erdoberfläche um eine neue dreidimensionale Wirklichkeit zu bereiohern. Kein „Teamwork“, kein tönendes Dogma, kein Klempnerladen und selbst nicht die allerletzten Experimente der Statik können ihm in diesem Augenblick helfen. Nur das Zusammenwirken der lächerlichgemachten Qualitäten des Geschmacks, des Gefühls, der intuitiven Koordination von Struktur und Funktion und des überzeitlichen Kulturwillens können dann aus Konstruktion Kunst machen

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