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Stadtebau einst und heute

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Die Akademie der bildenden Künste in Wien veranstaltet gegenwärtig eine Vortragsreihe zum Thema „Wiederaufbau Wiens“. Der Direktor des archäologisch-epigraphischen Seminars und der archäologischen Sammlung der Universität “Wien, Universitätsprofessor Dr. Camillo Praschniker, sprach in zwei Vorträgen über den „Städtebau der klassischen Antike“ und warf am Ende seiner Betrachtungen die Frage auf, inwieweit der Städtebau der Griechen und Römer für unsere Zeit Vorbild oder Anregung sein kann. Der Vortragende entwickelte den neuesten Stand der archäologischen Forschungen, die in vielfacher Beziehung ein einwandfreies Bild der griechischen und römischen Stadtbaukunst ergaben. Er verwies auf die Schwierigkeiten der Forschung, das städtebauliche Moment in der Antike zu fixieren. Die Ausgrabungen ergeben meist nur ein Bild einer bestimmten Zeitperiode, nicht die Entwicklung, der eine Stadt im Laufe ihrer Geschichte unterworfen ist. In den seltensten Fällen sind die Voraussetzungen der Forschung so günstig wie etwa in Pompeji, wo durch eine Naturkatastrophe größten Ausmaßes eine Stadt mitten in ihrem pulsierenden Leben gleichsam bis auf unsere Tage konserviert wurde. Der Vortragende betonte mit Recht, daß die älteren Rekonstruktionspläne antiker Städte mit großer Vorsicht genossen werden müssen. Die Grabungen legten vielfach nur den Stadtgrundriß der Spätantike frei.

Der zweite Vortrag war dem römischen Städtebau gewidmet. Er ist für unsere. Zeit insofern von besonderem Interesse, als neben den Ausgrabungen kleinerer römischer Städte Rom selbst, die Hauptstadt des gewaltigen Imperiums, großstädtische Ausmaße im heutigen Sinne besaß, während die in der „Polis“ verankerten Stadtstaaten Griechenlands zumindest in ihrer klassischen Zeit dem Umfange nach keine Großstädte waren. Einzig in Rom war es möglich, die „Entwicklung“ der Stadt zu studieren, angefangen fast von ihrer Gründung bis zu den großen Straßen- und Platzdurchbrüchen Casars, Trajans und Caracallas.

Der Vortragende kam zu dem Schluß, daß für den modernen Städtebau, und zwar sowohl für die Stadtplanungen der Gründerzeit als auch für die gegenwärtigen Neuplanungen in erster Linie der römische Städtebau Anregungen zu vermitteln vermochte und auch in Zukunft seine Kraft ausstrahlen wird; daß die große Anlage der Wiener Ringstraße, deren Gestaltung „römische“ Gesichtspunkte zugrunde liegen, auch für die Neuplanungen maßgebend sein könne, indem diese in deren Geiste weitergeführt werden und damit eine Renaissance der „zuviel gelästerten Ringstraßenzeit“ bewirken.

Professor Lutz, der Leiter der Meisterschule für Architektur an der Wiener Akademie der bildenden Künste, betonte in sei-, nen abschließenden Worten, daß vom Standpunkt des modernen Architekten wohl eher der griechische als der römische Städtebau von Bedeutung sein kann. Die Ringstraße ist allerdings nach „römischen“ Prinzipien entworfen, aber es ist zumindest fraglich, ob eine “Weiterentwicklung dieser Prinzipien gegeben und wünschenswert ist und mit den gegenwärtigen Forderungen vereinbar erscheint.

Wir sind der Meinung, daß die Antike unmittelbar für den Wiederaufbau Wiens nicht in dem Sinne Entscheidendes zu sagen hat, wie etwa den Erbauern des Wien der Rihgstraßenzeit. Wohl aber kann mittelbar auf die große pädagogische Wirkung, die vom Studium des antiken Städtebaues ausgeht, nicht verzichtet werden. So wie das Studium der griechischen und lateinischen Sprache immer noch die beste

Schule zur Schärfung des logischen Denkens ist, sind auch die Grundlagen des antiken Städtebaues für unsere heutige, wie wahrscheinlich für alle weiteren Generationen, das Fnndament der städtischen Architektur. Denn was Griechen und Römer in diesen Dingen entwickelt und gestaltet haben, weist über das Persönliche oder Originale einer bestimmten Kulturperiode hinaus, indem sie in das Allgemeingültige vordringen und das Wesentliche geradezu im Kern freilegen. Dies ist es, worauf es ankommt und dessen Hervorkehrung man in den Vorträgen vielleicht vermißte und das für die Schule der heranwachsenden Architektengeneration, an die sich solche Vorträge in besonderer Weise wenden sollten, von grundlegender Bedeutung ist: die Art und Weise wie ein Platz in Verbindung mit einer Verkehrsstraße angelegt und a 1 s „Raum“ gestaltet wurde, wie die klassischen Proportionen von „Freilufträumen“, seien es Plätze oder Straßen, waren (die Gefahr der modernen Städte ist immer, Verkehrsstraßen ohne Grünanlagen zu breit gegenüber den sie einfassenden Häusern anzulegen!), wie die einzelnen bedeutenden Gebäude in ihrer Höhe und Ausdehnung und in ihrem rhythmischen Ablauf beim Durchschreiten der Stadt nach antiken Grundsätzen gestellt werden müßten'. Welche starke Wirkung die Wiedsrentdeckung dieser Prinzipien in der frühen Renaissance ausübte, davon zeugen noch heute die in der Geschlossenheit ihrer Anlage einzigartigen Platzgestaltungen in Florenz, in Venedig, in Rom, die „Räume“ im besten Sinne des Wortes sind. (Die modernen Plätze, sind meistens ' nur „Löcher“ im Stadtgefüge!) Sie setzten sich durch geigen den mittelalterlich-gotischen Formwillen der abendländischen Städte, die, noch weit unsymmetrischer als die griechischen Stadtkonzeptionen, in ihren gekrümmten schmalen Straßen das „Malerische“ und nicht das „Architektonische“ in der Wirkung ihres Stadtbildes ausdrücken. Der prachtvolle Blick vom Graben gegen den Stephansturm oder von der Salvator-gasse gegen Maria am Gestade sind noch echt „gotische“ Perspektiven inmitten Wiens. Das Barocke erscheint im Städtebau, in dem sich wesentlich mehr als im Einzelbauwerk die widerstreitenden Tendenzen klassisch-antiken und gotisch-abendländischen Formwillens zu einer glücklichen Synthese verbinden, als direkte For*

Setzung des antik-renaissancehaften Raumgefühls in seinen großen Schloß- und Gartenentwürfen, die die pathetische Wirkung der „Achse“ aus der römischen Baukunst übernehmen. Die Idee der Achse führt zusammen mit der des „Boulevards“ zw großartigsten städtebaulichen Leistung des neueren Europa, der Stadtanlage von Paris, das, sich als Nachfolger des alten Rom fühlend, einen reifen Klassizismus entwickelt, der, unabhängig von dr jeweiligen politischen Richtung, der Einheitlichkeit des städtebaulichen Grundrisses eine adäquate Einheitlichkeit seines Aufrisses hinzufügt. Die französischen Könige bauten „römisch“, ebenso die Republik, weil sie sich als Nachfolgerin der römischen Republik fühlte, und die Kaiser als Nachfolger der römischen Imperatoren, während in Mitteleuropa mit jedem Wechsel der politischen Richtung meist auch ein radikaler Umschwung in der Baugesinnung erfolgt. Aber sogar die Franzosen gehen mit der Achse sparsam um; sie tritt entscheidend nur in den Champs-Elysees auf, während die späteren Straßendurchbrüche durch das alte Paris, etwa die Avenue de l'Opera, durchaus nicht mehr das römische Pathos besitzen. Große Straßenfreilegungen oder Durchbrüche, um das Stadtbild zu steigern oder ein bedeutendes Bauwerk zu größerer Wirkung zu bringen, sind nicht immer das hiezu geeignete Mittel, wie die Niederreißung des „Borgo“ in Rom durch Mussolini beweist, wodurch zwar eine große Achse zum Petersplatz geschaffen wurde, von einer Steigerung der architektonischen Wirkung desselben jedoch kaum gesprochen werden kann. Diese Achsen besitzen zumindest echtes Pathos. Die Wirkung der Achse kann auch zu einem falschen Pathos führen. Wer je die Entwürfe zu den Straßendurchbrüchen in Berlin (Nord-Süd-Achse), die der Hauptstadt des Dritten Reiches ein großartiges Gepräge verleihen sollten, zu Gesicht bekam, wird sich des Eindruckes nicht erwehren können, daß dort, trotz der diktatorischen Bestimmungen über die einheitliche Gestaltung der Häuserfronten, nur eine „Kasernenstraße“ entstanden wäre.

Die moderne Architektur im allgemeinen und die Wiener im besonderen ist unpathetisch, wie generell gesehen die griechische und erst recht die mittelalterliche, unpathetisch ist. Es ist für moderne Städtebaugestaltungen viel aus dem Studium zu lernen, wie etwa Propyläen in bezug auf den Platz des beherrschenden Kultbaues gestellt sind, nicht nur bei der Athener Akropolis. Sie stehen bewußt nicht in der Achse, lassen das entscheidende Bauwerk nicht frontal, sondern in freier Perspektive wirken und sc zu einem anders gearteten Raumerlebnis werden als der fortschreitende Rhythmus„ der Achse. Oder wie Plastiken und Denkmäler nicht in der Achse eines Platzes oder eines Bauwerkes, wie bei den Römern, stehen, sondern in freier Beziehung zu ihnen. Allerdings nicht an irgendeiner beliebigen Stelle, sondern mit höchster Beherrschung wohlüberlegter Maßbeziehungen, wie überhaupt die scheinbar oft zufällig erscheinende Stellung verschiedener Bauwerke eine sehr bestimmte und bewußt gestaltete ist. Der Geist der Antike ist immer noch der große Lehrmeister, auch wenn keine ihrer Details verwendet werden. Ein modernes Haus kann ihr näher stehen als manch eines aus einer klassizistischen Periode, ohne je ein antikes Kapitell oder Profil zu verwenden.

Der „römische“ Geist, den Wien auch noch heute als einstige Hauptstadt des „Heiligen Römischen Reiches“ ausstrahlt, braucht deshalb nicht zu erlöschen. Denn letzten Endes baut sich die römische Kultur auf der griechischen auf und die abendländische auf beiden. Wenn auch das heutige Geschichtsempfinden mit dem\ alten Schema Altertum-Mittelalter-Neuzeit aufgeräumt hat und die klassische Antike nicht als unser Altertum betrachtet wird, so ist dennoch die Antike im Geiste des Abendlandes derart verankert, daß ein Europk ohne sie undenkbar ist. Sie wirkte in baulicher Beziehung noch in neuerer Zeit so stark, daß Camillo Sitte, der große Städtebauer, vielleicht der erste, der in der Architektur des 19. Jahrhunderts das Wort „Städtebau“ anwandte, und dem die Entwicklung Wiens zur modernen Großstadt Entscheidendes veiv dankt, nämlich, daß die Verbauung der Wallanlagen trotz ihrer Schwächen ein großartig einheitlich architektonisch und städtebaulich gestaltetes Bild ergab, bewußt an die Formgedanken der Antike anknüpfte und sie ins Modern-großstädtische transponierte.

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