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Südstadt vor den Toren Wiens

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Das verbaute Gemeindegebiet von Maria-Enzersdorf (NÖ.) zeigt eine für die gesamte Gegend charakteristische architektonische Musterkarte: von den alten Hauerhäusern und zwei Barockbauten im Ortskern (die bedauerliche Verstümmelung des Maria-Theresien- Schlössels an der Straße nach Mödling war ja offenbar nicht zu vermeiden?) über die individualistische Villenarchitektur der Jahrzehnte vor und nach der Jahrhundertwende bis zu der historisch rekonstruierenden Neoromanik der Feste Liechtenstein auf den bewaldeten Hügeln gegen Westen und der ziegel- farbenen College-Gotik des Klosters Sankt Gabriel in der Ebene jenseits der Südbahntrasse.

Charakteristisch ist aber auch die in natürlichem Wachstum entstandene Verbindung der ursprünglichen weinbäuerlichen Kultursphäre mit ausgeprägten bürgerlichen Elementen. Wie fast alle Orte im südlichen Wienerwald erfuhr Maria-Enzersdorf starken Zuzug aus Wien. Rund um die Stammsiedlung entstanden neue Straßenzüge und Viertel mit Sommerhäusern und ganzjährig bewohnten Villen. Die Bedeutung der Gemeinde als bekannter Wallfahrtsort hingegen wirkte sich auf die Bausituation nicht wesentlich aus.

Nun, da Maria-Enzersdorf aus seiner Bescheidenheit in den Blickpunkt städtebaulichen Interesses rückte, soll auch nicht vergessen werden, daß der Ort bereits um 1905 der Schauplatz eines architektonischen Experiments war. Auf leicht ansteigendem Gelände erbaute Sepp Hubatsch eine Reihe von Wohnhäusern, deren sezessionistische Fasiadengestaltung — die Ornamente sehen aus wie vergrößerte dekorative Vignetten aus „Ver Sacrum“ — dem Straßenzug bauliche und stilistische Einheit gab. Um freie Hand zu haben und sein Konzept ungestört durchführen zu können, errichtete Hubatsch diese Häuser auf eigene Kosten und verkaufte sie erst, als sie fertig dastanden. Somit darf er, zum Unterschied von dem Architekten, der nur den einzelnen Bauauftrag durchführte, wohl als Planer größeren Maßstabes gelten.

Im Lauf der Zeit war Maria-Enzersdorf eine typische „Wohngemeinde“ der Randgebiete geworden, deren Bewohner vielfach auswärts arbeiten, meist in Wien. Zwischen dem Kloster St. Gabriel und der Triester Straße ging das Gemeindeareal in offenes Wiesenland jüber. Hier sollten die Erörterungen über den Bau von Satellitenstädten — in Österreich seit 1945 von Architekten und Stadtplanern immer wieder zur Diskussion gestellt — schließlich erste konkrete Resultate erzielen. Der Trend, Großbetriebe aus dem dichtverbauten Gebiet der Stadt herauszulösen und in verkehrstechnisch günstig gelegenes freies Gelände zu verlegen, veranlaßte die beiden niederösterreichischen Landesgesellschaften Newag und Niogas, nach geeigneten Baugründen entsprechenden Ausmaßes Umschau zu halten. Es war an der Zeit, die allzu knappe Innenstadt- Zwangsjacke samt Parkraumnot und Dezentralisierung der Dienststellen mit architektonischer und darüber hinaus städtebaulicher Maßarbeit zu vertauschen, die eine freie Entfaltung ermöglicht.

Keine Teillösungen

„Mit Mann und Schreibtisch und häuslichem Herd“, unter diese Devise stellten die beiden Gesellschaften ihren Exodus über die Wiener Stadtgrenze ins eigene Land. „Es geht hier nicht nur darum, daß gebaut wird", führt Newag-Generaldirektor Viktor Müll- ner, Initiator des Projekts, aus, „es geht um die gesamte Raumordnung. Denn gerade das Gebiet, das eine Großstadt umgibt, ist nicht leicht zu ordnen, und diese Aufgabe fällt vor allem Niederösterreich zu. Hier gibt es die größten Verkehrsprobleme, hier ist die Gefahr einer verunstaltenden Verbauung besonders groß. Darum streben wir zweckmäßiges Bauen rund um die Bundeshauptstadt an. Der Wienerwald, die Föhrenwälder und Weingärten, sie geben dem Raumplanei große Möglichkeiten, aber auch große Verpflichtungen. Wir sind gegen jedes wilde Bauen, sind jedoch jederzeit be-reit, die Privatinitiative bei raumgeordneter Tätigkeit zu unterstützen."

Die „Gartenstadt Süd“, wie die reißbrettgemäße Erweiterung von Maria- Enzersdorf nach Osten anfänglich hieß, soll nach der Planung der Architektengruppe Prof. Wilhelm Hubatsch

(der Sohn von Sepp Hubatsch), Gustav Feichl und Franz Kiener, Wohnstätten für rund 7500 Personen bieten und gliedert sich in vier Hauptgruppen:

• das Newag-Niogas-Verwaltungszen- trum,

• das Einkaufs- und Kulturzentrum,

• das Sportzentrum mit einem Stadion für 20.000 Personen,

• die Wohnanlagen.

Wahrzeichen oder „Klein-Brasilia“?

In zweijähriger Arbeit entstand in erster Phase der Bau des Verwaltungszentrums. Viele, vor allem offizielle Redner, nannten bei der Eröffnung die weithin sichtbare siebenstöckige Schachtel mit ihren 32 Meter Höhe und 140 Meter Länge und der charakteristischen horizontalen Streifenteilung durch. vorgehängte emaillierte Aluminiumteile bereits ein neues Wahrzeichen, andere wieder belegten die zwischen Ziegelteichen und Brachland aus dem Boden wachsende Stadt abschätzig und zweifelnd mit der Bezeichnung „Klein-Brasilia".

Der Architekturpublizist Friedrich

Achleitner kommentiert: „Das Verwaltungsgebäude ist der optische Orientierungspunkt der ganzen Anlage. Durch seine Höhe wird es zu einem erwünschten oder unerwünschten Zentrum. Und darum liegt auch hier, ob man will oder nicht, der räumliche.

Kristallisationspunkt. Von diesem Punkt aus wird der Maßstab der ganzen ,Stadt' angegeben, und umgekehrt, hier müßte sie ihre größten, kontrollierbaren Dimensionen erreichen.

Die beunruhigende Weitläufigkeit, die man beim Betreten der Anlage empfindet, dürfte zunächst ihre Ursache in der Gestaltung des Hauptgebäudes haben. Die schmale, lange, auf Stützen gestellte .Schachtel', die an den Langseiten nur durch die Fensterstreifen geteilt ist, hat man in der Stirnseite ganz geschlossen. Damit entsteht für das Haus eine räumliche Beschränkung — es ,lebt‘ nur nach zwei Richtungen. Die räumlich überdehnte

Zuordnung der umliegenden Bauten ergibt jene Weitläufigkeit, die fast zur Beziehungslosigkeit wird. Die Gruppe der Laboratoriumsgaragen und Lagerbauten, die einen offenen Hof ergeben, sind dagegen eine räumlich kompakte gut abgewogene Einheit. Hier herrscht Großzügigkeit (statt Weitläufigkeit) bis ins Detail. Leider sprang der .Funke' dieser Anlage nicht auf das Hauptgebäude über.“

Die Innenausstattung des Bürohauses wurde unter Vermeidung modernistischer Effekte auf eine gediegene, ruhige Note abgestellt und zeigt harmonische Wechselwirkungen der Hauptmaterialien Holz, heller Marmor und Glas. Nicht zuletzt spielt auch die Natur entscheidend mit, jedes Fenster eröffnet den Blick auf die lange Kette der Wienerwaldhügel oder auf die weite Ebene jenseits'der Triester Straße. Zweifellos wird sich durch dieses Moment für viele der Angestellten, die auch in der Südstadt wohnen oder wohnen werden, eine ganz andere psychische Beziehung zu der umliegenden Landschaft mit ihren vielfältigen Erscheinungsformen ergeben, als dies unter herkömmlichen Bedingungen möglich ist.

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