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Tirana: Armut und Anmut

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WÄHREND DER ITALIENISCHEN Besetzung nannten sie die Albaner „Via Imperiale”, jetzt heißt sie Stalinallee, oder — was den Ausländer noch mehr beeindrucken soll — Boulevard Neues Albanien. Damit wäre dann eine fünf Kilometer lange Straße gemeint, die Tirana in Nord-Süd-Richtung durchquert. Auf halbem Wege greift die Allee in den überdimensionierten Skanderbegplatz hinein. Die Maßverhältnisse dieser nach dem albanischen Nationalhelden benannten „Rotunde” sind im völligen Einklang mit der Breite der Stalin- allee. Pompöse Regierungsgebäude aus der Duce-Ära und dem Sowjetzeitraum umsäumen die zwar einwandfrei gepflasterte, jedoch in tiefer Einsamkeit untergegangene Hauptverkehrsstraße. Polizisten, denen die Langeweile in den Augen steht, regeln den spärlichen Verkehr.

WAS DEN MOTORISIERTEN Straßenverkehr anbelangt, stützen sich die Albanier besonders auf Osteuropa. Der Wagenpark von Tirana enthält Warszawas aus Polen, Skodas und Tatras aus der CSSR, Mosk- witsch’, Wolgas und GAZ’ aus der UdSSR sowie in immer steigenderem Maße Lastkraftwagen aus Rotchina.

Tirana, am Fuße des imposanten Dajti-Massivs, ist seit 1912 die Hauptstadt Albaniens. Die Stadt dehnt sich ständig aus. Auf den 30 Quadratkilometern lebten Ende 1963 insgesamt 152.320 Menschen, von denen 82.190 Männer und 70.130 Frauen waren. Die Bevölkerungsdichte beträgt also 5083 pro Quadratkilometer. Fremdartige Einflüsse im gesellschaftlichen Leben von Tirana gibt es in Hiüle und Fülle. An die Türken erinnern die Basare sowie die niedrigen Häuschen mit den roten Dächern in den Außenbezirken und die Moscheen, von denen die Damija Made auf dem Skanderbegplatz an der Spitze steht Stalin kann dies bezeugen, denn seine zehn Meter hohe Bildsäule steht in unmittelbarer Nähe der in den Himmel hineinragenden mohammedanischen Schöpfung. Querüber fällt das Auge auf ein weiteres russisches Element. Dort handelt es sich um den unvollendeten Kulturpalast, von dem bis jetzt nur erst das Dadh und die Fassaden fertiggestellt wurden. Der Bau dieser sowjetrussischen Spende ist den Albanern ein Dom im Auge. Schon im Sommer 1960 wurden die Fundamente in den Boden hineingetrieben. Als aber die Beziehungen zwischen Hodscha und Chruschtschow abgebrochen wurden, verschwanden mit den russischen Bauingenieuren auch die albanischen Bauarbeiter von den Gerüsten.

DAS GESCHÄFTSLEBEN von Tirana konzentriert sich in der Hauptsache auf der Rruga Dibra (Dibra-Straße) und ihren Quergassen. Besonders am frühen Abend herrscht in jenen Vierteln Hochbetrieb. Alte mohammedanische Frauen in roten Pumphosen schleichen — oft barfüßig — durch die Gegend, mit Fetzen umwickelte Greise scheinen Tabak zu kauen und spucken laufend vor sich hin, stolze Soldaten der volksrepublikanischen Armee mustern uns mit argwöhnischem Blick, und dreckige, halbnackte Kinder balgen sich in den Gassen.

ABER TIRANA ATMET auch Anmut. Immer auffallender im Straßenpanorama werden Frauen und junge Mädchen, deren selbstgeschneiderte Kleider augenscheinlich den soeben erschienenen Modeblättern entnommen worden sind. Im Buchhandel sind solche Hefte, zwar nicht aufzutreiben, aber die Modesendungen des italienischen Fernsehens aus Bari (nur rund 100 Kilometer von der albanischen Hauptstadt entfernt) machen in der Beziehung wohl einiges gut. Auch moderne Frisuren und getuschte Wimpern fehlen nicht. Diese immerhin erfreulichen Zurechtmachungen in Verbindung mit der graziösen Gangart, die auch den albanischen Frauen und Mädchen angeboren zu sein scheint, münden in der Feststellung, daß man die albanische Bevölkerung in ihrem äußerlichen Ansehen einfach nicht generell zu beurteilen vermag.

EBENSOWENIG SIND DIE Geschäfte in Tirana unter einen Nenner zu bringen. Die Läden auf dem Boulevard Neues Albanien sollen mehr oder weniger den wirtschaftlichen Aufstieg Albaniens durchblicken lassen. Deshalb sind die Schaufenster gekonnter und geschmackvoller ausgestattet als die Auslagen in den sonstigen Stadtbezirken.

Die Kaufkraft der Adlersöhne ist eben noch sehr begrenzt. Bei einem Monatsgehalt von 530 Lek (etwa 175 DM) im Schnitt sind Lebensmittel teuer, ist die Kleidung fast nicht mehr zu bezahlen, und werden Luxusgegenstände offenbar nur zur Schau ausgestellt. Allerdings soll nicht an der Tatsache vorbeigegangen werden, daß die albanischen Frauen im aktiven Arbeitsprozeß mit drin sind. Außerdem wird Gleichberechtigung groß geschrieben. In vielen Familien schneidet das Messer von zwei Seiten. Aus Gesprächen mit Albanern wurde ebenfalls klar, daß Löhne und Gehälter in den einzelnen Wirtschaftszweigen sehr auseinandergehen. 800 Lek (etwa 1600 Schilling) ist das Monatseinkommen eines 18jährigen Unterleutnants (!), eines Chemikers und eines Zeitungsdruckers mit dreizehn Dienstjahren. Und während ein Armeeoberst im Monat mit 10.000 Lek davonkommt, reicht es für einen einfachen Bauern in den kollektivierten Volksbetrieben nur bis zu 430 Lek.

Ausgehen wird in Tirana nicht groß geschrieben. Abgesehen von den Kulturpalästen hat die Stadt in punkto Vergnügung sehr wenig zu bieten. Albanien zählt insgesamt 75 Kinos. Davon stehen sieben in Tirana. Es werden hauptsächlich .chinesische und sowjetrussische Filme gezeigt. Nur dann und wann ein Film aus dem westlichen Lager, zum Beispiel „Oliver Twist”. Im Vorprogramm werden bis zur Langeweile „amerikanische Greuel gegen die tapferen nordvietnamesischen Friedenskämpfer” aufgetischt.

Viele Albaner essen abends „ä la belle ėtoile”. Trotzdem zählten wir nur vier Freiluftrestaurants. In einem davon trafen wir auf die hochblonde albanische BB, Birgita Hakani. Birgita geht tagsüber in einer Fabrik ihrem Beruf nach, gegen Abend allerdings ist aus ihr eine begabte Sängerin geworden.

KURZ NACH 22 Uhr heben die Musiker ihre Instrumente auf. Die Restaurants leeren sich, das Licht wird gelöscht, und Tirana geht ins Bett. Nur Radio Tirana bleibt in der Luft. Mit Nachrichten, Kommentaren und Musik. Bis Mitternacht. Nachher können nur „verbotene”

Schlager aus Titograd, Bari, Rom, Saloniki, Athen und Kairo eingefangen werden, es sei denn, man verfügt daheim nicht über einen vom Staat umgebauten Apparat, aus dem sämtliche ausländische Rundfunkstationen herausoperiert worden sind. Radiogeräte sind übrigens kein selbstverständlicher Luxus. Aus der 1964 vollgenommenen Zählung geht hervor, daß insgesamt 70.913 Apparate in Gebrauch sind. Die Beamten stellen den Hauptteil: 30.391; Nach ihnen stehen die Arbeiter mit 28.672 an zweiter und die Bauern mit 6303 an dritter Stelle. Propagandasendungen sind Tagesköst, und sie werden von Radio Tirana sogar noch in fünf Fremdsprachen ausgestrahlt: auf Russisch, Deutsch, Griechisch, Serbokroatisch und Italienisch.

DANK DER „DDR” hat Albanien seit zwei Jahren ein Fernsehstudio, das dreimal wöchentlich ein Kurzprogramm sendet. In der übrigen Zeit ist man auf das italienische und jugoslawische Fernsehen angewiesen. Die Auslandsprogramme kommen in Tirana „wie gestochen” auf den Schirm. Nichtsdestoweniger sind Antennen auf den Dächern überaus selten. Die vielfach aufgestellte Behauptung, Fernsehgenehmigungen seien lediglich den Parteifamilien Vorbehalten, ist schon zutreffend.

Wenn man der albanischen Darlegung Glauben schenken darf, gibt es kein auf Italien und Jugoslawien gerichtetes Fernsehverbot. Weshalb denn auch sollten die Machthaber in Tirana diese Beschränkung erlassen? Fernsehapparate sind zur Zeit überhaupt nicht erhältlich. Während der engen Freundschaft mit der UdSSR sah die Sache zwar anders aus, aber damals landete der Vorrat fast zu 90 Prozent regelrecht in den ideologisch standhaften Kreisen. Die Überwachung der übrigen etwa 100 Geräte, die zum Teil von albanischen Studenten aus dem Ausland eingeführt wurden, dürfte dem Polizeistaat Albanien wohl zuzutrauen sein.

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