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Vier sachliche Gründe

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Neben den sozialpsychologischen Gründen gibt es aber noch sachliche Motive für das heftige Verlangen nach Personenkraftwagen:

Vor allem die aufreizende Vernachlässigung der öffentlichen Massenverkehrsmittel. Ein Autobus, in dem 50 sogenannte Fahr-„Gäste” lose „geschüttet” und rasant geschüttelt befördert werden, hat noch immer den gleichen verkehrsrechtlichen Rang wie ein halb so großer und nur von einer Person besetzter Pkw. Im Gegenteil: Der Pkw kann bei Verstopfung oder einem die

Weiterfahrt behindernden Straßenunfall ausweichen. Der öffentliche Autobus hat dagegen seine Route einzuhalten. Dadurch wird die Fahrtdauer oft ungebührlich verlängert. Berufstätige können daher ihre Fahrtzeit nicht immer auch nur einigermaßen genau berechnen.

Die Lebensbedingungen in den Fahrzeugen des Massenverkehrs haben oft den Charakter von Überlebensbedingungen. Jene, die von ihren Edelholzschreibtischen aus den amtlichen Rat geben, vom Auto zeitweilig in ein öffentliches Verkehrsmittel „umzusteigen”, haben offensichtlich seit Jahren die Transportgelegenheiten des gemeinen Volkes nicht benützt. Um mit Josef Roth zu sprechen, ist es ebenso leichter, für die Massen zu sterben, als mit ihnen zu leben. Würden diese und jene Verantwortlichen derlei wagen, wären sie einige Male etwa in einem der Stockautobusse Wiens zu den

Hauptverkehrszeiten gefahren so wären sie um viele Erlebnisse reicher geworden und hätten vielleicht daraus einige Konsequenzer gezogen!

• Die Überwindung der Hindernisse auf dem Weg zum Arbeitsplatz vergrößern sich für die Benützer vor Massenverkehrsmitteln gleichsam indirekt proportional zur Erleichterung der Bedingungen auf derr Arbeitsplatz. Wahrscheinlich hängl die Frühinvalidität nicht allein mit dem Arbeitseinsatz, sondern auch mit dem Weg zum Arbeitsplatz zusammen. Der Autofahrer hat auf seinem Weg ebenfalls viel zu leiden, kann aber sein Leid „absitzen”.

• Unverkennbar ist der sogenannte Wille zum Auto nicht allein emotional begründet, sondern bei vielen auch eine Art von Notwehr. Bei einer ausländischen Befragung von Autoeigentümern, ob sie wieder an die (ständige) Benutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels denken, erklärten sieben von zehn, nie wieder ein öffentliches Verkehrsmittel benützen zu wollen. Der Benützer eines öffentlichen “Verkehrsmittels muß sich zu manchen Zeiten und auf manchen Strecken erheblich mehr anpassen als ein Pkw-Lenker. Für nicht wenige Benützer eines Wiener Stockautobusses zwischen 16 und 18 Uhr erfordert die Mitfahrt zudem einen höheren Einsatz intellektueller Kräfte als das Engagement im Arbeitsprozeß am Rand eines Fließbandes. Daher ist der Wille zum Auto nicht allein Reflex von Eigenbestimmung, sondern auch von Notwehr.

Der täuschende Gebrauchtwagen

So ist nun das Auto zu dem Kommerzgut einer Wohlfahrtsgesellschaft geworden. Im Autobesitz findet jedenfalls der Mensch dieser Zeit die attraktive Chance einer Selbstwertschätzung. Da die Altwagen immer billiger werden, ist es bei einem Gebrauchtwagen jüngeren Baujahres nicht möglich, vom Auto auf ein entsprechendes Einkommen und von da auf die Stellung des Betreffenden in einer Gesellschaft zu schließen, die sich ostentativ in ihrer Außenfront als eine Hierarchie von Verbrauchern konstituiert hat.

Die Autokäufe nehmen allerorts sprunghaft zu. Auch noch in den USA. Die Reaktion auf eine Einkommensänderung in Form der Nachfrage nach Autos, die spezifische Einkommenselastizität, ist außerordentlich groß, etwa achtmal größer als bei Lebensmitteln, was auch bei einer ohnedies autogesättigten Gesellschaft beachtlich ist.

Das veränderte Stadtbild

Gleichzeitig aber bestimmt das Auto an sich, das parkende und noch mehr das „fließende”, die Deformation unseres gesellschaftlichen Lebens mit — vor allem in den größeren Städten des sogenannten Westens.

Vor allem werden die Räume zwischen den Häusern unserer Städte restlos zu Abstellplätzen für Pkw und zu Fahrstraßen. Die Fußgänger sind verhalten, sich entlang den Hausrändern zu bewegen; sie sind geduldet. In deutschen Großstädten kommen auf den Quadratkilometer 443 Fahrzeuge, die je Tag zirka 21,5 Stunden stehen.

Das Stadtbild ist nur mehr im Rahmen von Luftaufnahmen zu sehen. Sonst hat man auch bei ansonsten architektonisch schönen Plätzen und Straßen den Eindruck von Freiluftgaragen. Die in bundesdeutschen Städten tagsüber im Inneren der Städte vorhandenen Pkws sind zu 90 Prozent nicht in Bewegung.

Die Stadtluft macht nicht mehr „frei”, sondern krank; sie ist in den

Stadtzentren Garagenluft geworden.

Um die Zunahme der Personenkraftwagen zu „verkraften”, müssen auf der ganzen Welt hohe Quoten des jeweiligen Nationalproduktes für die entsprechende Infrastruktur, für Abstellplätze und Straßenbauten gebunden werden. Bei der Alternative von Schulbauten oder Autostraßen haben sich die meisten Politiker und fast die ganze Öffentlichkeit für die Finanzierung der Autostraßen entscheiden müssen, soll nicht die ganze und sich automatisch entwickelnde Motorisierung ad absurdum geführt werden. Im Fall Österreich bedeutet das noch: Finanzierung des Gebrauches von Importwagen, das heißt indirekt (und ebenfalls unvermeidbar) Förderung des Importes von Gütern, die kaum produktiv eingesetzt, sondern tatsächlich unproduktiv, das heißt zu Lasten des Sozialverbrauches, genutzt werden.

Der Lebensraum in den Städten, der auch ein Freizeit- und Bewegungsraum sein soll, wird durch die Zunahme der Motorisierung knapper. Die Folge ist eine unverkennbare Bewegungsnot: eine psychologische „Atemnot”, die wieder einen Antrieb zur Stadtflucht darstellt, aber ebenso zu einer Übertragung städtischer Lebensrhythmen in bisher als „still” erklärte Räume. Das Bemühen der Masse, vor der Masse zu fliehen, führt zur Vermassung auch in jenen Zonen, die man ehedem als einsam angesehen hatte.

Autofahren wird am Wochenende zur Flucht im Auto. Ursache und Wirkung der Motorisierung vermengen sich. Die Ruhedörfer sind Indiz einer grotesken und von einem „es” bestimmten Entartung unseres städtisch-gesellschaftlichen Lebens. Anderseits: Wer in den Osterfeier- tagen 1966 in den Straßen der Inneren Stadt von Wien spazierengegangen ist, hatte zeitweilig den Eindruck, in einem „Ruhedorf” zu sein. Die Masse war durch einige Tage jenseits der Stadtmauern angesiedelt.

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