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Wadisen und Werden einer römischen Provinzialstadt

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Von der Geschichte Camuntums ist so gut wie nichts bekannt; schriftliche Überlieferungen aus der Antike fehlen, und so bleibt nur die Sprache der Bodenfunde, um Vergangenes zu erkennen und für die Gegenwart nutzbringend zu verstehen. Die Wissenschaft ist daher der niederösterreichischen Landesregierung (Kulturreferat Hofrat Dr. H. Rinters-bacher), die auch heuer wieder die Mittel für die in Österreich größten und wissenschaftlich bedeutsamsten Ausgrabungen zur Verfügung gestellt hat, besonders verpflichtet.

Anfang Juli wurden die Grabungen im sogenannten „Spaziergarten“, das ist westlich Ortseingang Petronell, fortgesetzt. Die Resultate der dreimonatigen Kampagne sind in mehr als einer Hinsicht überraschend. Konnte noch im Vorjahr der westliche Bau (22 X 15 m), dem wegen seines unrömischen Grundrisses besondere kulturgeschichtliche Bedeutung zukommt, als ein mehr oder weniger selbständiges Gebäude angesprochen werden, so ist es jetzt gewiß, daß er nur Mittelpunkt eines größeren architektonischen Zusammenhanges ist, dem nördlich, zur antiken Straße hin, Werkstätten und Verkaufsläden vorgelegt sind, während ihn im Süden ein Hof oder Garten abschließt.

Dieselbe Planung nun begegnet aber auch beim zweiten und dritten Haus, und alle drei sind zu einem größeren Gebäudekomplex, einer insula, zusammengefaßt, die ein schmaler Durchgang, ambitus, von einer zweiten, derzeit noch nicht zur Gänze freigelegten insula trennt. Es ist demnach zweifellos, daß den baulichen Charakter Carnuntums ein rechtwinkeliges Straßennetz mit den von ihm gebildeten insulae bestimmt, durchaus entsprechend dem Schema der antiken Stadtanlage. Das ist also nicht weiter überraschend, und auch Kanalisation, Heizanlagen und Mosaikfußböden, die zum alltäglichen Requisit eines antiken Hauses gehören, sind es nicht, sondern die architektonische Gliederung der Häuser in schmale Verkaufsläden an der Straße, den dahinterliegenden Werkstätten, dem folgenden Wohnhaus, der räumlichen Potenz des Ganzen, und der anschließende Garten, ein baulicher Typ also, der bisher nicht bekannt ist -und einen Schluß auf den Wohlstand der Gewerbetreibenden Carnuntums zuläßt. Welche Kräfte wirksam gewesen waren, um den üblichen Rahmen der gewerblichen Anlagen in den Westprovinzen des Römischen Reiches — meist schmale, langgestreckte Bahlen mit mehr oder weniger bescheidener InnerJeilung — zu sprengen, ist derzeit noch unbekannt. Bemerkenswert ist weiter, daß dieser entwickelte Grundriß nicht etwa im Stadt-innern zutage kam, sondern, so weit unsere Kenntnis heute reicht, am südlichen Stadtrand, wodurch er sich ohne weiteres als ein Produkt der zweiten Blüteperiode Carnuntums — Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert — zu erkennen gibt.

Mit dieser Feststellung stimmen die Reste einer ersten oder vielleicht sogar zweiten Bauperiode unterhalb des Fußbodenniveaus der freigelegten Räume und unterhalb eines durchgehenden Planums von Bau- und Brandschutt überein, die sich nach dem gegenwärtigen Grabungsbefund in ihrer Raumgestaltung wesentlich einfacher präsentieren, also der Periode des Wachstums der Stadt, der Zeit vor den Markomannenkriegen, angehören.

Und eben darin liegt die wissenschaftliche Bedeutung der Ausgrabungen in der Zivilstadt Carnuntum, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Hier bietet sich, wie kaum sonstwo im Westen innerhalb und außerhalb Österreichs, die Gelegenheit, auf unverbautem Gelände das Werden einer römischen Provinzialstadt aus einer ursprünglich illyrisch-keltischen Siedlung zum wirtschaftlichen und politischen Zentrum eines ausgedehnten Gebietes zu studieren, die Entwicklung aus dem primitiven Holzbau der Einborenen zu den weitläufigeren Formen des römischen Steinbaus, seine Wandlung im Verlaufe der 400jährigen Geschichte Carnuntums und die Nachwirkung älterer Traditionen im Stil des antiken bürgerlichen Wohnhauses, beziehungsweise, wie dies beim Grundriß des ersten Hauses der Fall ist, auf das sogenannte Raudistubenhaus der Gegenwart in der steirisch-kärntnerischen Zone. Aber nicht nur die Architektur wird neue Kenntnisse bringen. Ein Raum, der durch Jahrhunderte besiedelt ist, tritt naturgemäß mit seiner näheren und ferneren Umgebung in mannigfache Beziehungen und unterliegt mancherlei Einflüssen; welcher Art nun diese Beziehungen und Einflüsse gewesen waren, geistig oder materiell oder beides, das lehren die Funde, die sich bei jeder Grabung einstellen. Sie enthüllen dem forschenden Auge die Reaktionen der Wirtschaft auf den drei Jahrhunderte währenden Zusammenbruch eines Riesenreiches, das Schwinden des politischen Sendungsbewußtseins Roms und damit im Zusammenhang das schrittweise Abgleiten der Bevölkerung Carnuntums von gesicherter bürgerlicher Wohlgeborgenheit in ein gefährdetes Vorstadtmilieu, sowie das steigende Eindringen orientalischer Geistigkeit in die römische Vorstellungswelt als Symbol auseinanderstrebender Kulturtendenzen. Und weil am Ende jeder Entwicklung ein Ergebnis steht, das vom Zusammenwirken aller bestimmt worden ist, so werden die Ausgrabungen in Car-nutum nicht nur für dieses, sondern auch für das Gesamtreich neue Perspektiven eröffnen, die ihrerseits wieder die innere Problematik der ausgehenden Antike erhellen und es ermöglichen werden, ökonomische, soziale und geistige Strukturen zu verfolgen, zu deren Studium bisher die Elemente fehlen.

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