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Wirtschaft, die am Faden hängt

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Wer heute mit den Augen des Wirtschafters das westlichste Bundesland unserer österreichischen Heimat betrachtet, jenen von Lechtaler Alpen und Arlberg, von Rätikon, Rhein und Bodensee umgrenzten Landstrich Österreichs, dem man mehr aus wohlwollender Sympathie als aus Verächtlichmachung den Namen „Ländle“ gegeben hat —, der denkt zunächst an jene Industrie, die den gesponnenen und verwobenen Faden zur Grundlage hat —, an die textile Fertigung.

Und wer sich näher über die tatsächliche wirtschaftliche Basis dieses Landes vor dem Arlberg informiert, bekommt ein Bild gezeichnet, das ihm eine gewissermaßen auf drei Säulen fußende Wirtschaft zeigt: Neben der Textilindustrie sind es der Fremdenverkehr und die Energiewirtschaft. Damit sollen keineswegs die von Jahr zu Jahr erstarkenden vielfältigen gewerblichen Fertigungen oder gar die stark expansiven nichttextilen Industrien des Landes vergessen werden. Man darf aber trotz dieser Vielgestaltigkeit der wirtschaftlichen Struktur sagen, daß es doch die Textilindustrie ist, die bis heute das wirtschaftliche Antlitz des Landes geprägt hat.

Um diese eindeutige Sondersituation Vorarlbergs im Reigen der österreichischen Bundesländer verständlich zu machen, müssen wir kurz einen Blick auf die natürlichen Wirtschaftsvor-eussetzungen des Landes und damit auf das historische Werden dieser Wirtschaft werfen.

Vorweg ist zu sagen, daß die rein geographischen und historisch-politischen Gegebenheiten des Landes durch Jahrhunderte hindurch eine Entwicklung bedingten, die klar und auch zwangsläufig mit Blickrichtung nach Norden und Westen vor sich ging. Von Natur aus nach dem Osten durch Gebirge abgeriegelt — die Straße über den Arlberg wurde vor nicht einmal 140 Jahren erbaut, erst im Jahre 1884 wurde die Bahn durch den Arlberg gelegt —, waren es bis zum letzten Jahrhundert vornehmlich der Wirtschaftskontakt mit der Schweiz und die verkehrsmäßige Durchzugslage im europäischen Nordsüdverkehr, die die Struktur des Landes bestimmten.

Arm an natürlichen Reichtümern, kaum mit verwertungsfähigen und abbauwürdigen Bodenschätzen bedacht, mit nur bescheidenen agrarischen Nutzungsmöglichkeiten ausgestattet, zwang dieser geschlossene, gedrängte Raum seine Bewohner schon sehr früh zur Intensivierung gewerblichen Fleißes. Und dieser Bevölke rung, deren Hauptteil alemannische Einwanderer stellten, die aber im Süden bereits im sechsten Jahrhundert durch Rätoromanen ergänzt und schließlich durch Walsereinwanderungen im 13. und 14. Jahrhundert zum heutigen Volksbild abgerundet wurde, war offenbar das handwerkliche und industrielle Wirken ins Blut gelegt. In diesem Zusammentreffen besonderer natürlicher und stammesmäßiger Voraussetzungen liegt zweifellos der Schlüssel für die ganze industrielle Entwicklung, die schließlich aus diesem Vorarlberg das klassische Textilland machte.

Bevor die Bedeutung dieser Textilindustrie im einzelnen dargelegt werden soll, wollen wir zunächst einen Blick auf die beiden anderen Säulen unserer Wirtschaft, den Fremdenverkehr und die Energiewirtschaft, werfen.

Das Ländle bietet jedem Besucher eine geradezu ungewöhnliche Mannigfaltigkeit der Natur dar. Auf engem Raum sind fast alle Landschaftsformen unseres Klimagürtels vereinigt. Von den Ufern des Bodensees geht es über die Weite die Rheintales mit seinen freundlich grünem Obsthainen und seinen sanften Hängen über die vielbewanderten Höhenzüge des Brecenzer Waldes und die idealen Skigelände unserer Hochgebirge im Osten bis zu den großartigen Gletchern der über 3000 Meter ansteigenden Sil-vretragruppe.

Die landschaftliche Schönheit dieser Gebiete hat sehr früh zu einem starken Zustrom an Besuchern geführt. Die Hotellerie hat sich vor allem in den letzten Jahrzehnten stark entwik-kelt und internationalem Niveau angepaßt. Vorarlberg ist das Land der Seilbahnen, der Jagd, des Wasser- und Bergsportes. — Allein im Fremdenverkehrsjahr 1961/62 besuchten zirka 660.000 Fremde das Land. Annähernd 4,1 Millionen Nächtigungen wurden gezählt, davon über 80 Prozent von Ausländern. Der dabei erzielte Umsatz betrug rund 1 Milliarde Schilling. Anders ausgedrückt heißt das. daß 9 Prozent aller in Österreich 1962 gemeldeten Ausländer in Vorarlberg wohnten, womit unser Land in einer Bundesländerreihung hinter Tirol und Salzburg den dritten Platz in ganz Österreich einnimmt.

Noch ein Wort zur Energiewirtschaft. Vorarlberg hat im abgelaufenen Jahr mit fast 1,5 Milliarden Kilowattstunden rund 10 Prozent der gesamtösterreichischen Stromerzeugung gestellt. Es ist aber vor allem im Stromverbrauch an der Spitze — wohl eine Folge der starken Industrialisierung und auch des gehobenen Haushaltsstandards. Besonders beachtlich sind die Ziffern des Stromaußenhandels. Mit 1,2 Milliarden Kilowattstunden stellte Vorarlberg mehr als 45 Prozent der gesamten österreichischen Stromexporte.

Die Industrie als Hauptquelle

Ein Blick auf die Struktur der Bevölkerung des Landes zeigt aber, daß die Industrie doch die Hauptquelle des Wohlstandes ist. Von den rund 80.000 sozial versicherten Arbeitnehmern entfallen mehr als 30 Prozent auf die Industrie. Von 1000 Einwohnern Vorarlbergs leben 516 von der industriell-gewerblichen Fertigung, während der österreichische Durchschnitt bei 372 und selbst die entsprechende Wiener Ziffer nur bei 410 liegt. Von den 30.000 Industriebeschäftigten wiederum müssen fast 21.000 der Texril-und Bekleidungsindustrie zugezählt werden. Fast die Hälfte davon findet in der Baumwollindustrie ihren Unterhalt, ein Viertel wird von der Wirkerei erfaßt usw.

Auch bei Betrachtung der Produktionswerte unserer Industrie zeigt es sich, daß von den zirka 5,4 Milliarden Schilling Bruttowertschöpfung im Jahre 1962 fast 3,9 Milliarden der Textil- und Bekleidungsindustrie zufallen. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Exportstruktur unseres Landes. Von den mehr als 1,3 Milliarden

Schilling umfassenden Exportwerten im Jahre 1962 entfielen ebenfalls fast 80 Prozent auf den Textil- und Bekleidungssektor. An der Spitze steht dabei die Stickereiindustrie, die mit 556 Millionen Schilling mehr als die Hälfte der Vorarlberger Textilexporte, aber auch gleichzeitig fast ein Fünftel der gesamtösterreichischen Textilexporte stellte — und dies bei einem Beschäftigtenstand von nur etwa 2500 Personen.

Ein Vergleich mit der gesamtösterreichischen Situation zeigt ebenfalls, wie übergewichtig der Anteil Vorarlbergs an der gesamten Textilindustrie ist. Obwohl das Ländle nur 3,2 Prozent der österreichischen Bevölkerung beheimatet, produzierte es im Jahre 1962 mehr als 32 Prozent der gesamten österreichischen textilen Erzeugnisse. Aber auch ein Blick auf andere industrielle Sparten macht verständlich, daß Vorarlberg das relativ industriereichste Bundesland ist. Der Gesamtanteil der Vorarlberger Industrie an den Bruttoproduktionswerten der österreichischen Gesamtindustrie beträgt 5,1 Prozent. In einzelnen Sparten jedoch wird dieser Wert noch überstiegen, so in der Bekleidungsindustrie mit 8,3 Prozent und in der Papierverarbeitung mit 5,6 Prozent. Aber auch die Nahrungs- und Genußmittelindustrie mit 4,4 Prozent der gesamtösterreichischen Produktionswerte verdient Beachtung.

Es ist sehr informativ, die verschiedenen Tex-tfi'lbereiche näher zu untersuchen. Dabei ergibt sich, daß die österreichische Stickerei- und Klöppeleiindustrie zu 100 Prozent in Vorarlberg ihren Sitz hat, 80 Prozent der Trikotstoffe und der gewirkten und gestrickten Unterwäsche werden im Ländle erzeugt, ebenso 40 Prozent der gesamtösterreichischen Baumwoll- und Zellwollgewebeprodukte. Weiter liefert Vorarlberg etwa 40 Prozent der Cotton- und nahtlosen Strümpfe, fast 40 Prozent der gewirkten und gestrickten, Oberbekleidung, etwa ein Viertel aller österreichischen Kunstseiden- und synthetischen Gewebe, ein Sechstel der Wollgewebe usw.

Man kann also mit Recht sagen, daß Vorarlbergs Wirtschaft am textilen Faden hängt. Und zwar sowohl bezüglich der internen Struktur als auch hinsichtlich der Stellung im gesamtösterreichischen Wirtschaftsgefüge. Diese Tatsache ist zweifellos nicht nur mit lachenden Augen zu werten. Soweit möglich, gehen denn auch die industriepolitischen Bemühungen schon seit Jahren in Richtung auf eine Forcierung von Ausgleichsindustrien. Und wir stellen auch tatsächlich fest, daß sich das Gewicht von Jahr zu Jahr langsam, aber stetig etwas vom Textilbe-reich weg verlagert. Die Expansion der nichttextilen Sparten ist teilweise stärker als die im Textilbereich. Gleichzeitig aber darf man sagen, daß die gegebene textile Basis durch ständige Rationalisierungsbemühungen und Qualitätsverbesserungen gesichert und vor allem exportmäßig immer stärker verankert wird.

Dieses ernsthafte und verantwortungsbewußte Bemühen, das in allen wirtschaftlichen Bereichen des Landes immer spürbar bleibt, läßt uns aber auch mit gewissem gesundem Optimismus der kommenden Entwicklung entgegensehen. Vorarlberg und im besonderen seine Textilindustrie weiß, daß die in ihren Auswirkungen noch nicht absehbare gesamteuropäische Entwicklung neue Belasrungs- und Bewährungsproben bringen wird. Sie weiß aber auch, daß weitblickendes und risikofreudiges Bemühen auch in schwereren Zeiten fruchtbar bleiben wird. Private Unternehmerinitiative und generationenlang erprobte Bereitschaft zu persönlicher Verantwortung machen uns optimistisch für eine Zukunft, von der wir für unser Land und seine Wirtschaft nicht nur den Weiterbestand, sondern verstärkte Bewährung und Fundierung erwarten.

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