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Wohnen als Bühne des Lebens

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Eine Gesellschaft im Wandel verlangt nach neuen, flexiblen Wohnformen. Der Wiener Architekt Helmut Wimmer hat sie gefunden.

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Eine Gesellschaft im Wandel verlangt nach neuen, flexiblen Wohnformen. Der Wiener Architekt Helmut Wimmer hat sie gefunden.

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Die Fassade des Gemeindebaus in der Grieshofergasse in Meidling sieht immer ein bißchen anders aus. Am Morgen und in der Nacht gibt sie sich verschlossen, mit dem Erwachen der Bewohner öffnet sich das Haus. Konsequenter ist flexibles Wohnen noch nie umgesetzt worden. Ein Dach über dem Kopf, gute Schall- und Wärmedämmung sind lange nicht alles, was eine Wohnung heute bieten soll. Architekt Helmut Wimmer hat sich intensiv mit der optimalen Wohnform beschäftigt. „Flexibles Wohnen” heißt das Schlagwort, unter dem jeder finden kann, was er braucht.

„Ich habe einen Ort der idealisierten Familie geschaffen”, erklärt Wimmer. Das Resultat wirkt einfach. Es besteht im Prinzip aus vier neutralen Räumen und festgeschriebenen Naßzellen. Die vierköpfige Normfamilie mit der vorgeschriebenen Lebensweise um eine Wohnküche gibt es nicht mehr. Wimmers Konzept ist die gebaute Antwort auf eine Gesellschaft im Wandel. Flexible Arbeitszeiten und individuelle Lebensentwürfe fordern auch im Wohnbau eine adäquate Lösung. „Erst durch die Nutzung wird gewidmet.” Der Gesamtzuschnitt der Wohnung in der Grieshofergasse ist rechteckig. Begrenzt von den tragenden Wandscheiben, liegen jeweils in der Mitte rechts und links Bad oder WC in der Dunkelzone. Vier verschiebbare Zwischenwände lassen dem Mieter ein Höchstmaß an Gestaltungsfreiheit. Ein kleiner Zentralraum mit zwei Stützen dient den Wandelementen als Anker und Halt. Das ist ökonomisch und individuell.

Die Zwischenwandelemente sind kleine technische Wunder. Sie erfüllen alle Anforderungen an den Schallschutz. „Man muß sie spielerisch betätigen können, damit momentane Stimmungen ihren Ausdruck finden.” Wimmer denkt sehr praktisch. Nur einfache Handhabung garantiert, daß die Möglichkeit zur Flexibilität genutzt wird.

Das Verschieben ändert schlagartig die Ausrichtung der Wohnung. Schiebt ein introvertierter Mieter alles zu, was sich schließen läßt, besitzt er eine mit fünf Räumen und zwei Naßzellen. Läßt ein anderer seine Zwischenwände in ihrer geringsten Ausdehnung stehen, erweckt dieselbe Einheit den Eindruck eines einzigen Großraumes mit zwei Sanitärblöcken. Dieser Mieter kann von jedem Standpunkt seiner Wohnung aus hinausblicken und das gesamte Innere überschauen. An der Fassade setzt sich das Spiel des Öffnens und Schließens fort. Von einem Fensterschlitz an der Seite bis hin zur großzügigen Glasfläche kann der Mieter sein Verhältnis zur Außenwelt und die Lichtstimmung im Inneren regulieren. Einmal Verschieben macht aus dem offenen Wohnraum sofort ein introvertiertes Schlafzimmer. So wird Wohnen zum Stimmungsbarometer. „Stört mich nicht!” sagt die Wandstellung.

In der Grieshofergasse werden innere Vorgänge im Haus nach außen hin spürbar. Eine feine Glasmembran auf der Außenhaut sorgt trotz aller individuellen Mieterentscheidungen für Einheitlichkeit. Die Integration ins Stadtbild funktioniert. Das Gebäude fügt sich voller Respekt ins Gesamtgefüge der Nachbarschaft ein. Das Leben dahinter schimmert dennoch durch. „Jedesmal, wenn ich hinkomme, erlebe ich ein anderes Wohngefühl”, freut sich Wimmer darüber, wie stark seine Idee angenommen wurde. „Es ist unglaublich, mit welcher Selbstverständlichkeit die Mieter mit ihren Möglichkeiten umgehen.” Auch im engen Rahmen des Gemeindebaus haben innovative Ansätze eine Chance auf Verwirklichung.

„Jeder, der eine Wohnung besitzt, ist glücklich und lebt ein Leben lang darin. Früher war Wohnraum leistbarer, man konnte öfter umziehen.”

Wim mer konzipiert seine Wohnungen auf lange Nutzung. Das heißt, ein Paar, das in die ersten eigenen vier Wände zieht, muß auch dann, wenn Kinder kommen, mit der Fläche gut umgehen können. „Die Mietermobilität findet nicht mehr statt. Eine heutige Wohnung muß sich geänderten Familienstrukturen anpassen.” Flexibilität ist angesagt. Auf die Veränderungen im Osten und den Anstieg der Geburtenrate folgt starke Nachfrage. Wien wächst wieder einer Einwohnerzahl von 1,7 Millionen Menschen entgegen. Weil Stadtraum nicht unbegrenzt verbaut werden kann, ist die Wohnung ein wertvolles Gut.

„Jede Generation soll sich ihre Umweit selbst gestalten”, ist Wimmer überzeugt. Bereits in den siebziger Jahren hat man sich mit Modellen beschäftigt, die ein Mitwachsen der Wohnung ermöglichen. Allerdings setzten sie beim Mieter viel Idealismus voraus. Ein älter werdender Nachbar, dem seine Einheit zu groß geworden war, sollte der Familie von nebenan einen Raum abtreten. Das ist bis heute Utopie geblieben. Auch verschiebt in der Praxis kaum jemand seine Wände um zehn Zentimeter, um seinen er-wcfchsen werdenden Kindern neue Raumgrößen zu bieten. „Das ist nicht die Zukunft”, sieht Wimmer im modernen Großstadtbewohner keinen Bastler, der selbstverständlich zum Werkzeug greift, um Zwischenwände zu verschieben.

Außerdem stellt sich das Problem begrenzter Grundfläche. „Auf 120 oder 130 Quadratmetern kann man gut großzügig sein.” Die Kunst besteht darin, auf 75 bis 85 Quadratmetern alle Anforderungen an Flexibilität zu erfüllen. Mehr Raum kann sich der Durchschnittsverdiener nicht leisten. „Man muß Grundrisse gestalten, die einfach und klar in ihrer Raumdisposition sind”. So knapp läßt sich gute Architektur definieren.

„Die Wohnung als Bühne des Lebens” wird genutzt, ihren prägenden Charakter erfährt sie durch die Lebensweise dessen, der sie bewohnt. Etwas Schöneres läßt sich zum Wohnen nicht sagen. 51 Wohnungen in Wien-Donaustadt sind inzwischen nach einem ähnlichen Prinzip gebaut.

Die Zukunft hat Wimmer schon im Kopf: eine Primärstruktur über mehrere Ebenen, die stark genug ist, die Individualität des einzelnen zu verkraften.

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