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Zehn Gebote für Architekten

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„Modern“ ist, was in Europa noch nicht (oder zuletzt vor 2000 Jahren) da war, was auffällt und beunruhigt. Ein Architekt, der etwas auf sich hält, baut „modern“. Auch einem sechzigjährigen Landnotar mit Stehkragen als Bauherrn werden architektonische Blue jeans angemessen. Der Erfolg ist verblüffend, zumindest für den Baukunstler. Er hat eine gute Presse — denn eine schlechte gibt es auf diesem Sektor .nicht «-und hast so zur Erweiterung seines Ruhmes und seines Geschäftes beigetragen. Der Bauherr sieht sich so lange in den Spiegel, bis er sich in Blüe jeans gefällt — zumal auch der örtliche Rechtsanwalt solche trägt...

. Studieren Sie nicht so lange, Herr Kollege! Im Sinne der Rationalisierung gebe ich Ihnen hier die zehn Gebote für die „Modern-um-jeden-Preis-Architektur“:

1. Du sollst bei der Anordnung der Baukörper nicht kleinlich sein.

Plane schiefe Fronten, vermeide rechte Winkel und kümmere dich nicht um Proportionen, diese werden nicht bezahlt. Im städtischen Wohnbau triumphiert die Bauordnung über alle architektonischen Sentimentalitäten. Nütze diese bis zum letzten — es geht um Kubikmeter und nicht um Architektur. Am flachen Land baue Hochhäuser (Nettingsdorf, Knittelfeld, Wels...), auch wenn der Grund in der Umgebung nur 1.50 Schilling kostet. Bedenke dabei, daß, so wie jedes Dorf Festspiele, jeder Bürgermeister eine Drahtseilbahn oder ein Hochhaus braucht.

2. Du sollst bei Gestaltung der Fassade die jeweils geltenden Spielregeln beachten.

Sei gerade hier „modern“ um jeden Preis, auch wenn die Begriffe weit auseinander gehen: Baue der Gemeinde Wien Löcherkäse, dem Wohnhaus-Wiederaufbau-Fonds Loggien (sie werden bezahlt und sind daher wichtig und richtig), und dem arrivierten Neureichen verweigere nicht den nieren-förmigen Swimming-Pool, auch wenn er Nichtschwimmer ist.

3. Du sollst grundsätzlich nur flache Dächer bauen.

Wobei die Betonung auf grundsätzlich liegt. Laß dich nicht stören durch nachbarliche Architektur und Gepflogenheiten, durch zu erwartende Schneemengen. Beachte nicht den Slogan „Übrigens, man geht nicht mehr ohne Hut“ — er betrifft dich nicht! Baue flache Dächer und versuche weiter, durch Dampfsperren den veralteten Dachluftraum zu ersetzen. Das ist zwar nicht billiger, aber „moderner“.

4. Du sollst keine Gesimse planen. Diese verlängerten zwar sehr die

Lebensdauer der Fassade und könnten auf flachen Dächern, wenn auch kein Hut, aber doch eine Pullmanmütze für das Haus sein — mache trotzdem keine! Warte bis Le Corbu-sier es wieder tut; dann erkläre, du seiest schon immer der Meinung gewesen ...

5. Du sollst das Glas lieben wie dich selbst.

Das Fensterglas. Ein Zuviel gibt es nicht. Von Stütze zu Stütze, auch wenn es sich um ein Badezimmer handelt. Hilf mit, den alten Satz „My home is my Castle“ zu mutieren in „Mei Heim is mei Auslag“. Bedenke, daß in der vollmotorisierten Fernsehgesellschaft indiskrete Blicke nicht mehr möglich sind: Denn entweder ist man unterwegs oder vor dem Schirm oder zu müde ... Wenn durch das Glas zuviel Licht kommt, bedenke, daß es Vorhänge und ausgezeichnete Jalousien gibt.

6. Du sollst nicht zu viel isolieren.

Isolierung kosten viel Geld, und man kann sie niemandem zeigen. Lieber eine Klimaanlage (siehe siebentes Gebot), auf die ist jeder Bauherr stolz. Schallisolierung ist der Spleen individualistischer Bauherren. Man soll diese jedoch vor Übertreibungen warnen und auf die politische Situation hinweisen.

7. Du sollst alles klimatisieren. Wenigstens vorläufig; bis wir auch das Wetter selbst machen; und auch dann, denn es wird von einer Koalitionsregierung gemacht werden.

8. Dh sollst moderne Räume schaffen.

Nach Maß und ganz „eng anliegend“; ein zentraler Raum mit Konservenöffnungsnische kann groß sein. Vorräume und Türen sind unmodern. Arbeitsräume oder gar Musikzimmer, Bibliotheken oder Speisezimmer völlig pervers. Beschrifte deine Pläne mit „Schlafen“, „Essen“, „Wohnen“ und verzichte auf jeden Firlefanz. Der modernste Raum ist die Garage, womöglich mit Guckloch vom Wohnzimmer (für die Gäste); dies hatte man früher ins Kinderzimmer, welches nun sehr klein gehalten werden kann, jedoch mit Sitzplatz für Babysitter. Auf Keller verzichte, er hebt zwar die Qualität des Bauwerkes, nicht aber das Renommee des Bauherrn. Verwende das Geld lieber für Leichtmetallfenster. Gemeinsame Schlafzimmer sind altmodisch; Couches genügen — wer krank ist, kommt ins Spital.

9. Dm sollst die Einrichtung dem Zeitgeist anpassen.

Liegestühle in Fernsehhöhe nahe der Hausbar; keine Schreibtische mehr, sondern Tonmöbel; zentraler Kühlschrank mit Teakholzverkleidung; keine Abwasch mehr, sondern eine Putzecke für Holzteller; Kruzifix ohne Corpus, leicht abnehmbar und nur noch im Zimmer der Hausgehilfin, im Wohnzimmer stört' es die Proportionen; hier lieber die Totenmaske Lumumbas — aus Ebenholz in organischer Verbindung mit Piccaso oder Hundertwasser. Möbel für die Frau gibt es nicht mehr. Sie ist berufstätig und hat daher endlich Zeit für den Kosmetiksalon. Ansonsten viel Stehfläche für Cocktailparties.

10. Du sollst bei allem, was du baust, nicht der Kunst dienen, semdern der Sensation.

Wenn dir Originale nicht gelingen, sei wenigstens originell (ordne zum Beispiel Lichtschalter in Hüfthöhe an, um das mühselige Heben der Hand' zu vermeiden). Fürchte keine Kritik, die gibt es nicht.

Durch das bisher Gesagte soll beileibe nichts gegen wirklich moderne Architektur vorgebracht werden. Jedoch das, was heute vielfach als „moderne Architektur“ verstanden wird, ist durch drei Komponenten wesentlich bestimmt:

1. durch die in fast allen Kunstrichtungen zu beobachtende Sucht, anders sein zu wollen als bisher um jeden Preis;

2. durch frag- und kritiklos übernommene auswärtige (vor allem amerikanische) Vorbilder und

3. durch eine allgemeine Fehlhaltung innerhalb der Architektenschaft, welche von der Kunst zum Künsteln führte und außerdem jedes soziale Verantwortungsgefühl auslöscht.

Es ist dem Verfasser dieser Zeilen wohl bekannt, daß viele Architekten der Moderne großartige Werke geschaffen haben und heute noch schaften. Bekannt ist auch, daß es — im guten Sinne — nur eine moderne Architektur geben kann, da wir eben heute leben. Es ist bei Gott nichts zu sagen gegen große Glasflächen und flache Dächer, gegen wirkliche Mutationen der Ausdrucksform auch in der Architektur: Kein Einwand gegen Bungalows und amerikanische Küchen. Vielmehr“ müßte man protestieren gegen den „Heimat-Stil“, die „Wohnhausanlagen“ mit Typenwohnungen und eingeplantem Parteisekretariat, gegen politische Zweckarchitektur und gegen verzopfte Gartenlaubenromantik. Doch die Architektur ist derzeit ein Konjunkturberuf: Viele haben sich in die Reihen der Architekten eingeschlichen, die ein mangelndes fachliches Können durch Exzentrik und modische Architektur aufwiegen wollen. Für sie geht es nicht um den Beruf im Sinne der Berufung, sondern um den Gelderwerb. Sie wollen nicht begreifen, daß angesichts der großen geistigen Auseinandersetzung in dieser, Welt dem Plänen und Bauen eine eminente gesellschaftliche und politische Bedeutung jetzt und vor allem in der Zukunft zukommt. So wie man heute baut, wird man morgen leben. Was wir für die Generationen nach uns bauen, wird diese nach unserer Intention zu freien Individuen oder zu versklavten Massenmenschen machen. Nicht die Armeen und nicht die Atombomben werden das zukünftige Gesicht der Menschheit prägen — diese können es nur vernichten. Der Lebensraum und damit der gebaute Raum wird in Anlage und Detail künftige Generationen wesentlich mitformen.

Und darin liegt die große — sehr große — Verantwortung der Architekten und der Hochschulen, die diese ausbilden. Der rein formale Architekt, der den perversen Wünschen bauherrlicher Visionen — sie stammen aus „Film, Funk und Frau“ - nicht entgegentritt und als Zeichenknecht amtiert, der resignierende Architekt, der modische und der Inhaber einer Planfabrik — sie alle sind nicht mehr das, was der Architekt sein sollte: Anwalt in Bausachen. Anwalt aber wohl in erster Linie des Bauherrn, dann aber auch Anwalt der Kunst, der Kultur, der Weltanschauung und der Wissenschaft. Und auf dieses hohe Ziel hin sollte schon der Student erzogen werden.

Ist das der Fall? Wird nicht schon durch den Verzicht auf entsprechende Allgemeinbildung, durch Zulassung von Absolventen nicht allgemeinbildender Mittelschulen zum Studium an der Hochschule viel gesündigt? Man spricht viel von der großen Verantwortung des Arztes, da es Menschenleben sind, die auf dem Spiel stehen. Der Tod ist eine große Möglichkeit und dauernde, nicht geheilte Krankheit eine Prüfung. Aber groß und furchterregend ist auch die Vorstellung, daß ein Stand Generationen zu einem unwürdigen Leben — und vielleicht sogar dadurch zu einem Leben in veränderten gesellschaftlichen und politischen Systemen — verurteilen kann.

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