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Man hat ihn hierzulande vor allem als Autor einer wuchtigen "Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart" in Erinnerung, die 2006 auf Deutsch erschien und damals auch in der FURCHE anerkennend besprochen wurde: den Historiker Tony Judt. Judt war vielleicht von Anfang an dazu prädestiniert, in kein Schema zu passen: Enkel osteuropäischer Juden, geboren 1948 in London, seine Jugendjahre verbrachte er -von den Idealen des Zionismus begeistert -im Kibbutz, später studierte er in Cambridge und lehrte viele Jahre Geschichte in New York.

Aus diesen vielfältigen Erfahrungen ergab sich Judts unverwechselbare intellektuelle Position. Als desillusionierter Zionist setzte er sich mit Kritik an Israel in die Nesseln. Als Brite war er Frankreich-Liebhaber und vertrat einen dezidiert kontinentaleuropäischen Liberalismus, für den er auch in den politischen Debatten seiner Wahlheimat USA eine Lanze brach. Und die "Geschichte Europas", sein Opus magnum, bestach vor allem dadurch, dass sie die Erfahrungen und Perspektiven der Osteuropäer geltend machte, für die es vielen Köpfen im Westen bis heute an Verständnis mangelt. Die moralische Selbstgefälligkeit der Europäischen Union kritisierte Judt ebenso scharf wie die amerikanische Außenpolitik nach dem 11. September 2001. Als er 2010 an Amyotropher Lateralsklerose starb, wurde sein Verstummen von Freunden wie Gegnern betrauert.

Judts Witwe hat postum eine Sammlung seiner Essays herausgegeben, die er im Lauf von anderthalb Dekaden publizierte - die meisten davon im New York Review of Books. Aus heutiger Sicht besonders erhellend ist seine Auseinandersetzung mit der europäisch-amerikanischen Entfremdung, die ja lange vor Trump begann. Aber auch seine schonungslosen Analysen der Nahost-Problematik und seine Gedanken zum Niedergang der Sozialdemokratie bestechen noch immer durch ihre Originalität und argumentative Kraft. Lesenswert!

Wenn sich die Fakten ändern Essays 1995-2010 Von Tony Judt Übers. von Matthias Fienbork S. Fischer 2017 384 S., geb., € 25,70

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