ars electronica II: Lesen am eigenen Körper

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Begreifen oder verstehen, vor diese Wahl werden Leser normalerweise nur mit rhetorischen Fragen gestellt. Gewöhnlich verstehen wir die beiden Verben als Synonyme, die einen Erkenntniszugewinn bezeichnen. Trotzdem bleiben feine Unterschiede erhalten zwischen einem eher äußerlich interpretierten Begreifen und einem auf eine innere Struktur abzielenden Verstehen. Die interaktive Installation "It's fire, you can touch it" bietet eine unmittelbare Erfahrung dieses Wechselspiels.

Dabei werden ein japanisches Tanka-Gedicht und ein chinesisches Schriftzeichen auf die ausgestreckten Handflächen der User projiziert. Dieses Tanka, was übersetzt "kurzes Lied" heißt und eine traditionelle Form der japanischen Dichtkunst darstellt, und das Schriftzeichen sind symbolisch aufeinender bezogen. Das Gedicht, als Sprache, korrespondiert mit dem chinesischen Schriftzeichen, das als "Bild" aufgefasst wird. Die Bewegung der Hände und Arme der User lassen Text und Bild überhaupt erst erscheinen, wie im wirklichen Leben hängt die Welt von unserer aktiven Wahrnehmung ab.

Gedicht und Zeichen wandern über Arme und Hände und lassen dabei bestimmte Stellen der Haut hellweiß oder feuerfarben aufleuchten. Wie Streicheleinheiten, die man nicht spüren, sondern nur sehen kann, die man nicht begreifen, sondern nur verstehen kann, bieten sie den Usern eine nicht ganz alltägliche Leiberfahrung. Es scheint, als ob Text und Bild versuchen würden, den menschlichen Körper begreifen zu wollen.

Sind mehrere User zugegen, kann man die bedeutungsvoll wandernden Lichtflecken von Hand zu Hand weiterreichen. Geschieht dies nicht mit der gebotenen Vorsicht, "plumpsen" die Projektionen auf die Tischfläche - und mutieren. Das Zeichen für Feuer verbrennt als Flamme, das Zeichen für Schönheit verwandelt sich in ein sechs- oder achtbeiniges Insekt und sucht flinken Laufs das Weite. Ohne die nötige Sorgfalt zerrinnen die Bedeutungsfelder von Text und Schriftzeichen, lösen sich buchstäblich in Luft auf und man steht mit leeren Händen da.

Neben dieser Lektion über Verstehen und Begreifen, über den angemessenen Umgang mit den anvertrauten Sinngebilden und über die aktive Rolle, die man bei jeder Weltaneignung zu übernehmen hat, bietet die Installation aber auch eine besondere Lesesituation. Schließlich dient nicht ein distanziertes Blatt Papier als Grundfläche, sondern der eigene Körper, es stellt sich beinahe ein taktiles Gefühl ein, obwohl keine materielle Substanz vorhanden ist. Die einen begreifen dies, die anderen verstehen es.

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