Atempause für die Welt

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Die Ereignisse und die Entwicklungen zum Auftakt des neuen Jahrhunderts überfordern die verfügbaren Kräfte. Der Planet bräuchte eine Atempause, vor allem aber die Rückkehr akzeptierter und entscheidungsfähiger Politik.

Selten noch haben sich die Chronisten so geplagt wie heuer, einem abgelaufenen Zeitraum, diesfalls einer Dekade, einen Namen zu geben. Einen Begriff sozusagen, unter dem sich alles einordnen ließe. Eine Bezeichnung, die den Lauf der Welt auf ein Wort bringt und dessen Schöpfer als universellen Denker ausweist. Allein, es wollte nicht gelingen, was weiter nicht stört, ist doch die Zukunft das Wesentliche.

Der Blick auf die vergeblichen Bemühungen, das erst jüngst Vergangene irgendwie einzuordnen, lohnt dennoch. Spannt sich der Bogen doch vom ausgebliebenen Millenniums-Bug über die Terroranschläge gegen das World Trade Center, die Internet-Revolution bis zu den vergeblichen Kämpfen gegen Klimawandel und Spekulation. Als deren Folgen hungern heute doppelt so viele Menschen wie noch vor zehn Jahren, nämlich eine Milliarde. Das aber kann es nicht sein. Viele Persönlichkeiten, zuletzt sogar Wähler in Massen, haben sich etwa für europäische und globale Freiheiten eingesetzt. Aber unter den Aufrechten doch keiner für den Zweck, per Steuerhinterziehung die Sozialstaaten zu schwächen und per Spekulation die Nahrungsmittelpreise in die Höhe zu treiben.

Die Nullen entsprechen nicht der Schande

Die von den USA ausgehende Immobilien- und Finanzkrise löste global flächendeckende Verwüstungen in der Wirtschaft und in den Gesellschaften aus. Das ist eine Tragik, eine Schande, der die bisherigen, auf Wortspielen mit Null beruhenden Namen für die abgelaufene Dekade nicht gerecht werden. Der Begriff der Nullerjahre banalisiert die Vorgänge ebenso wie das Charakteristikum vom nervösen Jahrzehnt. Zutreffender ist schon das Wort von Timothy Garton Ash, der von einer namenlosen Dekade sprach.

Das zwar sehr bildungsnahe aber etwas wirtschaftsferne deutschsprachige Feuilleton debattiert daher eine neue Frage: Könnte es sein, dass Parallelen bestehen zwischen dem Beginn des 20. und jenem des 21. Jahrhunderts? Mit den technischen Neuerungen, die zu erfassen den Einzelnen oftmals überfordern. Mit den ungeheuren ökonomischen Volumina, über die einige Wenige verfügen, während Massen in neues Elend schlittern. Haben wir es also neuerlich mit einem Schub an Modernisierung, an Auflösung von Tradition, von Vertrautem und von Vertrauen zu tun? Die nächste nahe liegende Frage, ob denn diese Überforderung durch eine heutige Moderne ähnlich beantwortet werde wie jene durch die vorangegangene, nämlich mit totalitären Systemen, wird nicht mehr gestellt, weil dann doch die Unterschiede zu groß sind.

Information und Wissen sind in einem enormen Ausmaß verfügbar, nahezu überall und jederzeit abrufbar. Demokratie als Prinzip hat sich weitgehend durchgesetzt, wenngleich sie manchmal der rhetorischen Behübschung des Gegenteils dient. Entscheidend ist, was jene tun, die über Wissen verfügen und in Demokratien leben.

Wie weit geht welche Verantwortung?

Den Menschen verpflichtet das Wissen um den Nächsten. Zu lange jedoch stieg zwar unsere Betroffenheit, aber nicht unsere Verantwortung hinsichtlich des Weltgeschehens im Ausmaß seiner technisch-nachrichtlichen Übermittelbarkeit. Heute wissen wir über den Hunger und den Klimawandel genug, um der Misere zu begegnen. Also ist von jenen, die zu entscheiden haben, Entsprechendes einzufordern. Doch genau das geschieht nicht ausreichend. Der Druck zur Entscheidung, der Druck auf die Entscheidungsträger scheint nicht groß genug zu sein. Gutteils sind die Personen und die Verfahren, siehe die Klimakonferenz in Kopenhagen, überfordert. Und sie sind mit einer Wählerschaft, insbesondere mit Lobbyisten konfrontiert, die strikt am eigenen Nutzen interessiert sind, nicht an der Hilfe für die Fremden. Solcherart werden die Möglichkeiten dieser Welt verspielt anstatt genutzt. Eine Atempause tut not. Aus allgemeiner Besinnung auf das Wesentliche ließe sich auch für Politik in Demokratien die Kraft schöpfen, es zu tun. Die Namenssuche für die neue Dekade fiele dann leicht.

* claus.reitan@furche.at

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