Athen als "verlassenes Westernkaff“

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Der "Zürcher Tagesanzeiger“ beschreibt, wie die Eurokrise die Athener Bürger trifft - nicht aber jene, die Griechenland an den Rand der Pleite brachten.

Die Misere springt den Spaziergänger an im Herzen von Athen, auch in der Skoufa, jener Strasse im Nobelviertel Kolonaki, wo eben noch das gedankenlose Leben zu Hause war. Kostas Kalfopoulos, Essayist bei der liberal-konservativen Zeitung "Kathimerini“, hatte uns gewarnt. Manche Strassen Athens, sagte er, muteten heute an wie ein verlassenes Westernkaff: "Nur der Chinese ist noch da, der Saloon und das Beerdigungsinstitut.“

Am 10. Mai 2010 wurde das grösste Rettungspaket der europäischen Geschichte geschnürt. Gerettet fühlt sich heute, ein Jahr später, kaum einer. Der Schock, den die lauten Plakate versprechen, will die gute Nachricht sein: Sie werben mit Preisnachlässen von 60 Prozent auf Anzüge, 70 auf Schuhe, 80 auf Negligés. "Es ist zum Heulen“, sagt eine Frau, dann lacht sie, "wir könnten uns alle neu einkleiden für fast nichts - aber selbst das bisschen Geld haben wir nicht.“ Zum ersten Mal in ihrem 35-jährigen Leben hat sie an Weihnachten von niemandem etwas geschenkt bekommen. Der Konsum ist eingebrochen, und so gähnen immer mehr schwarze Höhlen, wo eben noch Schaufenster einen Blick ins Schlaraffenland verhiessen.

Die Revolution der Kaffeetrinker

Es ist Sonntag. Es regnet. Das Volk erhebt sich an diesem Tag an einer Mautstation auf der Flughafenautobahn. Drei Kleinbusse voll mit Menschen sind es. "Bislang sassen wir nur da und tranken Kaffee“, sagt der glatzköpfige Anführer Zervas Dimitris, ein Tontechniker. "Jetzt fangen wir mit der Revolution an.“ Sie parken ihre Autos auf dem Pannenstreifen, springen hinaus, laufen zu den Schranken - und drücken sie auf. Dann schwenken sie ihre Banner und winken die Autos durch. "Wir zahlen nicht“, ruft ihnen einer durchs Megafon zu, "die Strassen gehören uns. Wir haben sie schon bezahlt.“ Wo die Guerilla der "Ich zahle nicht“-Bewegung auftaucht, ist sie ein Erfolg. Wer die Guerilleros sind? Den langhaarigen Studenten und den anarchistischen Intellektuellen gibt es auch in ihren Reihen, aber sie stehen neben dem Ingenieur im Parka und dem Rentner im abgetragenen Anorak. Hier rebelliert der Bürger.

65.000 Insolvenzen

65 000 Unternehmen haben im letzten Jahr Insolvenz angemeldet. Die Löhne wurden gekürzt, die Steuern erhöht, viele einfache Griechen haben deshalb 30 Prozent weniger Geld in der Tasche als vor einem Jahr.

Viele haben überhaupt keine Arbeit mehr. Petros Markaris, der Krimiautor, sitzt da und muss lachen. Er muss einfach, weil er den Tag sonst nicht übersteht, der um halb acht Uhr mit Zeitungslektüre beginnt, welche unweigerlich in spätmorgendliche Verzweiflung umschlägt. "Es ist anstrengend“, sagt der 74-Jährige, das Land sei tief gespalten in Leidende und noch immer Privilegierte. "Kennen Sie den Film " The Night of the Living Dead“? Den Zombiefilm? Da stecken wir gerade drin.“ Die Jugend nur mehr mit einer Hoffnung: raus aus Griechenland. "Wenn man aber den Scheissapparat reformieren will, braucht man doch die jungen Leute.“ Der Galgenhumor, er mag helfen gegen die Verzweiflung, gegen die Empörung ist er machtlos. Petros Markaris schreibt einen neuen Kriminalroman. Einen Krimi. Er heißt: Faule Kredite.

Im Büro eines Beamten: "Mich wundert, wie ruhig sie noch sind bei all ihrem Zorn. Manchmal glaube ich fast, wir bräuchten eine Revolution.“ Der Herr ist von Natur aus kein Revolutionär. Er ist ein Berater des Premierministers, sein Freund zudem, deshalb, sagt er: keinen Namen bitte.

Zürcher Tagesanzeiger, 11. Mai 2011

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