"Atom-Renaissance ist Chimäre"

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Die Kernenergie scheint, manchen Medien und Politikeransprachen zufolge, einen neuen Frühling zu erleben. Im Gespräch mit der Furche bezeichnet der Experte für Atomenergie, Mycle Schneider, diese Theorie als Chimäre und Schönfärberei einer Branche, die so zu Forschungsförderungen gelangen will.

Die Furche: In letzter Zeit war öfters zu hören, dass die Kernenergie derzeit einen neuen Frühling erlebt...

Mycle Schneider: Innerhalb der "alten" eu-15-Staaten ist jetzt mit Finnland tatsächlich das erste Mal seit vielen Jahren ein neuer Reaktor in Bau gegangen. Das bislang letzte Mal war das 1991 in Frankreich der Fall. Die letzte Bestellung in der eu außerhalb Frankreichs datiert aus dem Jahre 1980. Weltweit ist die Atomenergie eine uralte Technologie, was sich wunderschön am Beispiel der usa festmachen lässt, wo mit 104 Anlagen fast ein Viertel aller weltweiten Atomkraftwerke laufen: Der letzte gebaute Reaktor, wurde 1973 bestellt und ist erst 1996 in Betrieb gegangen. Alle us-Anlagen wurden somit zwischen 1963 und 1973 bestellt. Man stelle sich einmal vor, heute würden überall noch Autos dieses Alters herumfahren. Die Bauphasen von zum Teil mehr als 20 Jahren haben bei den Leuten zur Illusion geführt, dass sich in punkto Atomkraft laufend etwas getan hat. Doch das Gegenteil war der Fall.

Die Furche: Finnland baut gerade ein neues Atomkraftwerk einer neuen Generation. Könnte dieses Beispiel in Europa tatsächlich Schule machen?

Schneider: Nichts geht los, denn Finnland ist ein absoluter Sonderfall: So wird dort beispielsweise ein Reaktor vom Typ epr gebaut, den es noch nie gegeben hat - es handelt sich also um ein Pilotprojekt. Dieser Druckwasserreaktor wird zu einem Festpreis gebaut, was es ebenfalls noch nie gegeben hat. Ein Knüller ist auch, dass die zentralen Elemente, nämlich der Reaktortank und die Dampferzeuger, gar nicht in Europa, sondern in Japan hergestellt werden. Dann hat sich die finnische Industrie unglaublich viele Unteraufträge ausgehandelt, womit die Frage auftaucht, was für die eigentlichen Reaktorbauer Siemens und Framatome übrig bleibt. Das hat also mit der althergebrachten Idee des schlüsselfertigen Verkaufs von Anlagen überhaupt nichts mehr zu tun. Dazu kommt, dass Finnland der einzige eu-Staat ist, der eine wahnwitzige Steigerung des Pro-Kopf-Stromverbrauches hat, die politisch unter anderem mit Hilfe sehr niedriger Strompreise gezielt herbeigeführt wurde.

Die Furche: Werden die alten Anlagen durch neue ersetzt werden?

Schneider: Es laufen weltweit 439 Reaktoren mit einem Durchschnittsalter von etwa 21 Jahren. Es stellt sich die Frage, wie lange diese Atomkraftwerke betrieben werden können. Um das abzuschätzen, ist es hilfreich, sich nach Erfahrungswerten umzusehen - zum Beispiel, wie lange die weltweit 110 bisher endgültig abgestellten Reaktoren gelaufen sind: Das Durchschnittsalter beträgt hier 22 Jahre. Nur 16 Anlagen waren länger als 30 Jahre im Einsatz. In den nächsten 10 Jahren werden aber weltweit 80 Anlagen 40 Jahre alt. Doch innerhalb von 10 Jahren lassen sich 80 Einheiten unmöglich ersetzen, weil es dafür weltweit keine entsprechenden industriellen Fertigungskapazitäten gibt.

Der einzige Weg, die Zahl der heute in Betrieb befindlichen Anlagen aufrecht zu erhalten, wäre also, die Betriebszeit weit über 40 Jahre auszudehnen.

Die Furche: Wie ist es dann zu verstehen, wenn von der Industrie aber auch von politischen Parteien wie der cdu eine "Renaissance der Atomindustrie" geradezu herbeigeredet wird?

Schneider: Da gibt es auch nichts zu verstehen, weil die angekündigte Renaissance schlichtweg eine Chimäre ist. Es ist eine Vision, die die Lobby sehr intelligent und mit sehr viel Erfolg verbreitet, aber es ist eine Chimäre. Man muss sich nur ansehen, wer von einer Renaissance redet: Die Reaktorbauer und die Politiker. Die Stromerzeuger reden von Neubau jedoch nicht: Es gibt ja gar keine Bestellungen!

In den usa hat es in den letzten 25 Jahren vorwiegend Ultra-Pro-Atom-Regierungen gegeben, doch nicht eine einzige Anlage wurde in dieser Zeit bestellt! Zuerst haben sich nämlich in den 70er Jahren die Stromzuwachsprognosen nicht erfüllt, was damals fast überall zu Stromüberkapazitäten geführt hat. Damit hat ein Strukturwandel stattgefunden. Ein Grund dafür ist die Liberalisierung des Energiesektors. Keiner kann sich mehr irrwitzig lange Amortisationszeiten leisten, weil die Anlagen schnell Geld bringen sollen.

Die Furche: Wozu dann dieses Schüren einer Pro-Atomenergie-Stimmung?

Schneider: Damit werden jetzt die Geldtöpfe wieder angezapft - und zwar ganz massiv. Beim von der eu-Kommission projektierten siebten Rahmenforschungsprogramm geht es um Dutzende Milliarden Euro über mehrere Jahre. Die Ausgaben für Atomforschung sollen mehr als verdoppelt werden. Das funktioniert nur, weil die Lobby mit sehr viel Erfolg diese Vision an die Wand malt.

Die Furche: Woran soll in erster Linie geforscht werden?

Schneider: Die interne Industriestrategie zielt nicht auf die Generation-3-Reaktoren, sondern bereits auf die übernächste Generation 4. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Hochtemperatur-Reaktoren, die um 2030 einsatzbereit sein und eine Reihe von heute ungelösten Problemen lösen sollen - wie beispielsweise die heute ineffiziente Ausbeute von Uran und Plutonium und den damit verbundenen hohen Mengen an radioaktivem Abfall.

Die Atomindustrie hat heute nur eine einzige Argumentationsgrundlage: die Klimaneutralität. Doch das ist schlichtweg Unfug, denn der Anteil, den neue Atomkraftwerke zur Klimaproblematik beitragen könnten, ist verschwindend gering, ja irrelevant. Und wenn es irrelevant für die Klimaproblematik ist, kann ich nicht einfach Unsummen zur Unterstützung dieser Technologie ausgeben. Dieses Geld fehlt uns vor allem bei den dringend notwendigen Investitionen in mehr Energieeffizienz.

Das Gespräch führte Klaus Faißner.

Der Aufklärer in Sachen Atomenergie

Der aus Frankreich stammende Mycle Schneider ist Gründer des französischen Zweigs des Weltinformationsdienstes für Energie wise Paris (World Information Service on Energy). 2004 verfasste der unabhängige Berater in Energiefragen und Wissenschaftsautor den World Nuclear Industry Status Report. Als Experte trat er bei parlamentarischen Anhörungen in Australien, Belgien, Frankreich, Deutschland, Japan, Südkorea, der Schweiz, Großbritannien und im Europaparlament auf. Von 1998 bis 2003 war Schneider Berater des französischen Umweltministers sowie des belgischen Staatssekretärs für Energie und nachhaltige Entwicklung. Seit 2000 arbeitet er als Gutachter in Fragen der Atomenergie auch für das deutsche Umweltministerium. 1997 wurde er für seinen Einsatz gegen den Transport und die Lagerung von Plutonium mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.

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