Auf dem Friedhof setzt sich das Leben fort

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Prachtvolle Kunstdenkmäler auf den Begräbnisstätten von Mailand und Genua.

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Prachtvolle Kunstdenkmäler auf den Begräbnisstätten von Mailand und Genua.

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Viel Interessantes und Überraschendes erleben die Besucher auf den Begräbnisstätten Norditaliens: In Genua verrichten die Grabfiguren nicht nur uns vertraute Tätigkeiten - sie verkaufen Lebensmittel oder treiben Sport - nein, sogar auf ihre erotische Ausstrahlung nehmen einige bedacht. In Mailand wiederum wetteifern die Verstorbenen um Aufmerksamkeit mit zahlreichen, gigantischen Kunstdenkmälern.

In seiner Monumentalität könnte dieser Ort der letzten Ruhe mit manchen altägyptischen Nekropolen konkurrieren. Caterina Campodonico zählt wohl nicht zu den hervorragenden Persönlichkeiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Um ihr Brot zu verdienen, musste sie bei Regen wie bei Sonnenschein Backwaren auf den Straßen und Plätzen Genuas anbieten. Trotzdem hegte sie den festen Wunsch, nach dem Tod "unvergessen dazustehen". Auf Vieles musste sie verzichten, um die Summe für ihr Grabmal aufzubringen. Schließlich aber konnte sie den Bildhauer Lorenzo Orengo beauftragen, ihr ein Standbild mit den Attributen ihres Berufes - Brezel und Nusskette - zu schaffen. Heute gilt es als einer der beliebtesten Sehenswürdigkeiten ihrer Heimatstadt.

Ein großer Garten Damals war es üblich, die eigene Friedhofsplastik noch zu Lebzeiten aufzustellen. So hatte man Gelegenheit, eigene Vorstellungen in die Gestaltung des Kunstwerkes einfließen zu lassen. Gerade deshalb erweisen sich die so entstandenen Skulpturen als so vital und lebensecht. Dasselbe wollten die Gründer von "Staglieno" erreichen. Mit ihrer Totenstätte beabsichtigten sie, der Welt den Glanz und Reichtum ihrer Stadt Genua am Anfang des 19. Jahrhunderts zu zeigen. Darüber hinaus sollte jener Ort der letzten Ruhe zu einem Garten werden, wo Hinterbliebene ihre teuren Verblichenen immer wieder mit Freude aufsuchten.

Diese Ziele konnten sie schließlich erfolgreich umsetzen. Bei einem Spaziergang durch Staglieno kommt tatsächlich kaum Traurigkeit auf. Düstere Grübeleien sind hier wirklich fehl am Platz, denn die steinernen und bronzenen Figuren wirken wie künstlerisch verdichtete Augenblicksaufnahmen aus dem Leben der abgebildeten Protagonisten. Unbeeindruckt von unseren staunenden Blicken gehen sie munter ihren Alltagsbeschäftigungen nach: Caterina Campodonico verkauft ihre Backwaren, der Arzt Enrico Amerigo schenkt einem blinden Mädchen das Augenlicht wieder und ein ertrunkener Jüngling bereitet sich auf einen erneuten Schwimmversuch vor. Während Kinder spielen, stellt eine junge Schöne ihre weiblichen Reize frei und ungeniert zur Schau. Mitten in diesem Treiben schläft auf einem Kissen die Liebesgöttin höchstpersönlich; in dieser Pose hat angeblich ein Apotheker seine Geliebte verewigt.

Auch wenn manche der Plastiken eine zentimeterdicke Schmutzschicht bedeckt, lassen sie ihre Vitalität nicht durch mangelnde Pflege bremsen.

Freilich ist nicht alles hier nur leicht und spielerisch. Die Grabsteine des letzten Weltkriegs zum Beispiel salutieren stumm in starren Reihen. In Staglieno findet man auch die Ruheplätze bedeutender Menschen: jener von Giuseppe Mazzini strahlt mit seinen klassischen Formen strenge Würde aus. Wie bei einem altgriechischen Tempel bilden zwei kannelierte dorische Säulen den Eingang. Der hier beigesetzte revolutionäre Held hat eine Schlüsselrolle bei der Befreiung Italiens von der Fremdherrschaft gespielt und musste dafür den Großteil seines erwachsenen Lebens im Exil verbringen.

Der 1866 fertiggestellte Mailänder Friedhof "Cimiterio Monumentale" ist weitgehend der Prominenz vorbehalten. Hier hat man vor allem wichtige Figuren aus Handel und Industrie bestattet. Noch aus dem Jenseits scheinen sie einander mit gigantischen Bauwerken und aufwendigen Kunstobjekten überbieten zu wollen. Die so entstandene "Galerie" bedeckt eine Fläche von 250.000 Quadratmetern. Selbst für einen flüchtigen Besuch benötigt man einen halben Tag.

Wie die Pharaonen Viele Mailänder Wirtschaftsgrößen sind auf dem Friedhof vertreten. Am Beginn unseres Rundgangs stehen die Könige des Aperitivs, die Camparis. Diese Dynastie, für ihr alkoholisches Getränk aus Orangenschalen weltweit bekannt, ließ hier ein Abendmahl mit lebensgroßen Bronzeaposteln errichten.

Der 12 Meter hohe Marmorturm des Baumwollfabrikanten Antonio Bernocci ist ebenfalls imponierend; ihn zieren 100 Personen, die den Leidensweg des Erlösers verdeutlichen.

Einen rührenden Anblick bietet das "nur" fünf Meter lange Casati-Grabmal. Sorglos schlummert darauf ein bronzenes Mädchen; nichts ahnt es von den wartenden Engeln, von dem langen Weg, der ihm bevorsteht. Etwa in gleichen Dimensionen erscheint eine Gruppe von Plastiken der Familie Besenzanica. Eine schlafende menschliche Figur überragt dabei ein Ochsengespann, das den Boden für die neue Saat bereitet.

Danach erhebt sich wie eine Trutzburg ein sieben Meter hoher Steinsarg auf kurzen Säulen - das Palanti Mausoleum aus der Mussolinizeit (zirka 1928). Von darin wohnenden Helden kündet stolz die Inschrift, "dem Vaterland hast du dein Blut geopfert".

Die Familie Bruni wollte sich mit dem Bau einer Pyramide Pharaonen gleichstellen, sogar eine Sphinx bewacht ihren Eingang. Auf unserem weiteren Weg geraten wir unversehens auf einen Kriegsschauplatz. Ein schlecht getarnter Bronzesoldat lauert dort mit seiner wurfbereiten Granate. Noch größeren Schrecken jagt uns die Begegnung mit einer Avantgarde - Figur ein. Ihre Hände scheinen direkt am Körper angewachsen zu sein, ähnlich dem Auge eines Periskops bewegt sich ihr Kopf an einem giraffenartigen Hals.

Auf diesem Friedhof, wie auch sonst in Italien, sind Individualismus und Toleranz großgeschrieben. Der Fremde ist erstaunt, verschiedene, ja sogar gegensätzliche, Ideologien und Kunstauffassungen gemeinsam auf engstem Raum vorzufinden. Schließlich kommen wir noch zu einem Nachtisch; die Familie Motta serviert uns einen Hefeteigkuchen aus grauem Granit. Das damit versinnbildlichte Panettone ist ein Hauptprodukt der von ihr gegründeten Süßwarenfirma.

Auf dem weiteren Weg entdecken wir prominente Namen wie Pirelli, Marelli, Feltrinelli, Sonzogno, Erba, Bracco und Zambelli. Sogar der Komponist Arturo Toscanini hat hier Quartier bezogen, an ihn erinnert ein weißes Jugendstil-Grabmal. Keinesfalls dürfen wir den beliebten Wunderpriester Giuseppe Gervasini übersehen. Zeitweilig hat man ihn wegen ungebührlicher Heilungsriten seines Amtes enthoben, was aber seine bis heute anhaltende Verehrung im einfachen Volk nicht mindern konnte.

Über Sinn und Zweck der aufwendigen Monumente kann man geteilter Meinung sein. Der Besucher muss es einfach akzeptieren, dass viele Italiener immer und überall - auch angesichts des Todes - die Prunkentfaltung lieben.

Jedenfalls bereitet eines eine große Genugtuung: die Geschichte von Caterina Campodonico. Mit den beschränkten Mitteln einer armen Frau ist es ihr gelungen, die Mächtigen ihres Landes in den Schatten zu stellen. In der Bekannt- und Beliebtheitsskala besetzt sie ganz eindeutig den obersten Platz.

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