Auf den Spuren Livingstones

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Karten, Globen und ein Kompass mit Folgen: Die altehrwürdige Royal Geographical Society in London präsentiert ihre Schätze bald der Öffentlichkeit.

Dank der guten Vorsehung Gottes erreichten wir nach einer Reise von ungefähr 300 Meilen am vierten Juli einen großartigen Fluss und ohne weitere Schwierigkeiten, was das Wasser betraf, bewegten wir uns noch einmal etwa 300 Meilen am Fluss entlang und gelangten Anfang August zum Ngami-See." Es war das Jahr 1849. David Livingstone hatte es schlussendlich geschafft, zum gesuchten See im Herzen Afrikas vorzudringen. Der Brief, in dem er die Royal Geographical Society (RGS) über seine Entdeckung informierte, wurde vor erlauchter Runde in den Räumen der Society in London vorgelesen. Die Reaktion war ungetrübte Begeisterung. Über Nacht war der britische Missionar und Forscher zu Ruhm gelangt.

Livingstones Verhältnis zur Geographischen Gesellschaft sollte nicht ungetrübt bleiben. Wenn ihm später geplante Entdeckungen nicht gelingen wollten, dann ließ ihn die RGS auf die unfeine Englische Art ihr Missfallen spüren und knauserte schon mal kräftig, wenn es um finanzielle Unterstützung ging. Doch wie immer die Beziehungen waren, die Gesellschaft war unumgänglich, für Livingstone wie für unzählige andere Forscher und Wissenschafter, ob sie nun Thor Heyerdahl, Edmund Hillary, Sherpa Tenzing oder Richard Francis Burton hießen.

Bis heute kommt, wer Rang und Namen in der einschlägigen Forschung hat, in die ehrwürdigen Hallen im noblen Londoner Bezirk South Kensington - ob sich seine Forschung nun auf nubische Ortsnamen oder die Bodenerosion entlang des Jangtse konzentriert. Denn die Archive der RGS sind unübertroffen.

Für gewöhnliche Sterbliche aber waren die Schätze der Gesellschaft bislang nicht zugänglich. Dies soll sich nun ändern. Umgerechnet 7,2 Millionen Euro (einhundert Millionen Schilling) hat die RGS aus Lotteriegeldern erhalten, um zum einen ihre Bildungsprogramme auszuweiten, zum anderen aber, um erstmals einer breiten Öffentlichkeit Zutritt zu ihren Archiven zu ermöglichen. Weitere 2,5 Millionen Euro (35 Millionen Schilling) will die Gesellschaft durch eigene Fundraising-Programme aufbringen.

"Die Archive aufsperren" (Unlocking the archives) lautet der eher unspektakuläre Name der Initiative. Spektakulär ist freilich, was sich hinter den derzeit noch fest angebrachten Schlössern alles befindet: Selbstverständlich ist die Society im Besitz des Kompasses, mit dem sie Livingstone dereinst ausschickte - und der den Forscher davor bewahren sollte, in einem unwirschen Teil des afrikanischen Kontinents verloren zu gehen. Als der Mann dann eines Tages dennoch verschollen zu sein schien, sah sich "The New York Herald" bemüßigt, Henry Morton Stanley auf Suche auszuschicken. Die Voraussetzung war geschaffen für eine Vier-Worte-Frage, die in die Geschichte eingehen sollte. Mit britisch-kühler Knappheit wandte sich Stanley, als er den damals gerade ziemlich hoffnungslosen Livingstone nach einer langwierigen Expedition endlich gefunden hatte, an ihn: "Dr. Livingstone, I presume" ("Dr. Livingstone, nehme ich an").

Livingstones Skizzen von den Victoria-Fällen sowie Stanleys Notizen und Tagebücher sind ebenfalls in der Gesellschaft aufbewahrt. Doch das sind nur einige von Millionen Schätzen aus sechs Jahrhunderten. 1830 zur Förderung der geographischen Wissenschaften und Forschung gegründet, hat die Society auch aus der Zeit vor ihrer Existenz gesammelt, was sammelnswert war. Die Manuskripte, Bücher, Karten, Pläne und Fotografien zeichnen die Entwicklung der geographischen Disziplin nach, wobei die Sammlungen aus Zentral- und Südasien, der Karibik, Subsahara-Afrika und den Polargebieten besonders umfangreich sind. So verfügt die Gesellschaft über den Schlitten von Ranulph Fiennes, der ihm 1992/93 bei seinem Marsch durch die Antarktis behilflich war; ebenso wie über jenen des Polarforschers Captain Robert Scott, der sich zu Beginn des Jahres 1912 mit dem norwegischen Pionier Roald Amundsen einen Wettlauf zum Südpol lieferte, ihn um vier Wochen verlor und auf dem Rückweg vom Pol mit seinen Begleitern in Schneestürmen ums Leben kam. Was Asien betrifft, sind insbesondere auch die Dokumente über Everest-Expeditionen von großem Interesse.

Rund eine Million Landkarten, 2600 Atlanten und 40 Globen finden sich im Kartenraum (Map Room) in South Kensington. Einige der Karten, die zum Teil auf Baumwolle oder Seide gedruckt sind, stammen aus dem 15. Jahrhundert. Aus jüngerer Zeit besitzt die RGS Karten auf der Basis von Luftaufnahmen und CD-Roms. Dokumente über die Geologie des Mondes, die Dicke des Eises in der Antarktis, ein Navigationsatlas für den Jenissej oder eine Vegetationskarte von Brasilien zählt die Gesellschaft selbst zu ihren Gustostücken. Dazu kommen mehr als 3500 detaillierte Bericht über Expeditionen in fast alle Erdteile.

Millionen Schätze

Die Bibliothek abonniert rund 800 Fachpublikationen und umfasst mehr als 150.000 Werke. Darunter befinden sich natürlich auch Livingstones Aufzeichnungen darüber, wie sich seine Suche nach dem Ursprung des Nil von Tag zu Tag schwieriger gestaltete. Audioaufzeichnungen von Vorträgen renommierter zeitgenössischer Geographen sowie Videomitschnitte von Interviews mit Experten finden sich in den Sondersammlungen der Gesellschaft.

Deren Direktorin Rita Gardner gibt zu, dass man sich der Verantwortung, diese Schätze mit anderen zu teilen, seit geraumer Zeit bewusst war - derzeit hat die Gesellschaft etwa 13.000 Mitglieder und Forscher, die sich entsprechend ausweisen können, bekommen selbstverständlich Zutritt. Das Gebäude der RGS in seiner derzeitigen Form erlaubte freilich keine Öffnung für ein breiteres Publikum.

Mit den nun verfügbaren Lotteriegeldern sollen daher zuallererst bauliche Veränderungen durchgeführt werden. So muss die vorerst noch enge Eingangshalle ausgeweitet und Raum für Schaukästen geschaffen werden. Neue Lesesäle sowie die Computerisierung aller Dateien steht an. Die Internetseite der Gesellschaft (www.rgs.org), aber auch die elektronischen Recherchemöglichkeiten sollen ausgebaut werden. Dazu müssen die Sammlungen sicherer als bisher verwahrt werden. Was Wunder, dass die mehr als 170 Jahre lang von der breiten Öffentlichkeit abgeschottete Gesellschaft nun von "dramatischen neuen Plänen" spricht. Deren Umsetzung wird allerdings ein Weilchen in Anspruch nehmen. Noch ist kein Datum fixiert, zu dem der erste gewöhnliche Sterbliche seinen Fuß über die Schwellen der Royal Geographical Society setzen darf.

Aber dass es dazu kommen wird, steht nun fest. Und eine steinerne Statue Livingstones, an dessen Renommee Forscher in jüngster Zeit zu kratzen begannen - hat er nicht des öfteren für sich beansprucht, was von anderen geleistet wurde? - harrt an der RGS-Fassade einer neuen Gruppe von Besuchern.

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