Auf der Fährte der Bärenführer

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Die Stunde der sicherheitspolitischen Wahrheit wird für Österreich schneller kommen, als den Politikern lieb ist.

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Die Stunde der sicherheitspolitischen Wahrheit wird für Österreich schneller kommen, als den Politikern lieb ist.

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Vor etwa drei Jahren schilderte ein ehemaliges ranghohes sozialistisches Mitglied der Bundesregierung bei einem Treffen der Fremdsprachenoffiziere des Bundesheeres in Graz in Anwesenheit des Autors die weitere Entwicklung der österreichischen Sicherheitspolitik folgendermaßen: die Neutralität werde in Österreich nicht formal abgeschafft werden, sondern sich vielmehr ebenso entwickeln wie die Bärenführerverordnung Maria Theresias; auch diese Verordnung sei nach wie vor in Kraft, obwohl es längst keine Bärenführer mehr gibt. Seit Beginn des Wonnemonats Mai hat die Neutralität einen gewaltigen Sprung in Richtung der Bedeutung der Bärenführerverordnung zurückgelegt.

Mit 1. Mai trat in Österreich der EU-Vertrag von Amsterdam in Kraft, der in seinen Artikeln 11 bis 28 ein kompliziertes Instrumentarium vorsieht, um die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU zu stärken, die im Vertrag von Maastricht nur rudimentär verankert war. Neben einer Solidaritätspflicht für die Mitgliedsstaaten enthält der EU-Vertrag von Amsterdam (EUV) ein abgestuftes Verfahren, das von der "Bestimmung der Grundsätze und der allgemeinen Leitlinien" der GASP über gemeinsame Strategien, Aktionen und Standpunkte reicht und auch den "Ausbau der regelmäßigen Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten" vorsieht. Dabei umfaßt die GASP "sämtliche Fragen, welche die Sicherheit der Union betreffen, wozu auch die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik ... gehört, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte".

Die Westeuropäische Union (WEU) wird als "integraler Bestandteil der Entwicklung" der EU definiert, wobei die "Möglichkeit einer Integration der WEU in die Union" ebenso Vertragsbestandteil ist wie die Durchführung sogenannter "Petersberg-Missionen" im Auftrag der EU durch die WEU; unter diesen nach dem Gästehaus der deutschen Regierung in Bonn benannten Missionen versteht man "humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen".

Daß diese GASP-Bestimmungen nicht in direktem Widerspruch zur Neutralität stehen, hat vor allem drei Gründe: Zum einen halten die Erläuterungen zur Regierungsvorlage des EUV mit Recht fest, "daß zwischen den Verpflichtungen eines EU-Mitgliedsstaates auf der Basis ... des Vertrages über die Europäische Union und den Kernelementen der Neutralität kein Widerspruch besteht. Durch seinen Beitritt zur Europäischen Union wird Österreich weder zur Teilnahme an Kriegen verpflichtet, noch muß es Militärbündnissen beitreten oder der Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiet zustimmen; daher bleibt dieser Kernbestand der Neutralität Österreichs unberührt".

Zweitens hat Österreich seine eigene Rechtslage an die Bestimmungen des Amsterdamer Vertrages angepaßt, indem Artikel 23f in die Bundesverfassung eingefügt und §320 des Strafgesetzbuches (Neutralitätsgefährung) novelliert wurde. So erhielt §320 einen dritten Unterabsatz, wonach Neutralitätsgefährdung nicht gegeben ist, wenn "ein Beschluß des Rates der Europäischen Union, gegen den Österreich nicht gestimmt hat, auf Grund ... des (Amsterdamer) Vertrages nach Maßgabe des Artikels 23f des Bundes-Verfassungsgesetzes ... durchgeführt wird". Artikel 23f wiederum legt fest, daß und wie Österreich an der GASP des EUV mitwirkt, wobei diese Mitwirkung auch ein Wirtschaftsembargo (siehe Jugo-slawien) sowie die allfällige Teilnahme an Kampfeinsätzen umfaßt.

Mit anderen Worten: Wäre die EU willens und in der Lage gewesen, statt der NATO den Krieg gegen Jugoslawien zu führen, hätte Österreich daran teilnehmen können. Angesichts dieser Rechtslage ist auch das Ölembargo der EU gegen Jugoslawien mit der österreichischen Rechtslage, der Restneutralität, vereinbar, während die Regierung der NATO gerade unter Berufung auf die Neutralität die Überflugsgenehmigung verweigert hat. Diese für den Juristen argumentierbare, für den gesunden Menschenverstand aber kaum hinnehmbare Unterscheidung zeigt, wie weit die Neutralität bereits abgemagert ist, zumal Generationen von Schülern und Studenten vor noch gar nicht allzu langer Zeit erklärt wurde, daß eine EU-Mitgliedschaft Österreichs mit der Neutralität unvereinbar sei.

Daß die Neutralität noch nicht endgültig den Status der Bärenführerverordnung Maria Theresias erreicht hat, dafür sorgen, drittens, drei GASP-Bestimmungen des EUV. Die Beschlüsse zur GASP stehen unter dem Vorbehalt der "verfassungsrechtlichen Vorschriften" der EU-Mitgliedsstaaten, gewähren bei allen Beschlüssen mit qualifizierter Mehrheit ein Vetorecht aus wichtigen Gründen der nationalen Politik und ermöglichen drittens einem EU-Mitglied eine konstruktive Enthaltung: der Mitgliedsstaat ist dann zwar nicht verpflichtet, "den Beschluß durchzuführen, akzeptiert jedoch, daß der Beschluß für die Union bindend ist. Im Geiste gegenseitiger Solidarität unterläßt der betreffende Mitgliedsstaat alles, was dem auf diesem Beschluß beruhenden Vorgehen der Union zuwiderlaufen oder es behindern könnte ...".

Da der Vertrag keine Kriterien für die Zulässigkeit einer konstruktiven Enthaltung enthält, hätte Österreich ohne den oben dargestellten neutralitätseinschränkenden Artikel 23f beim Jugoslawienembargo leicht in ein Spannungsverhältnis zwischen EU-Solidaritätspflicht und klassischer Neutralitätsauslegung geraten können. So heißt es etwa noch im Lehrbuch von Ludwig Adamovich und Bernd-Christian Funk "Öster-reichisches Verfassungsrecht" aus dem Jahre 1984, daß sich aus dem allgemeinen völkerrechtlichen Neutralitätsrecht für den immerwährend neutralen Staat die Verpflichtung ergibt, " ein unparteiisches Verhalten gegenüber den Kriegsparteien zu bewahren" - eine Pflicht, die mit der Teilnahme an einem Embargo zweifellos nicht vereinbar ist.

Die Möglichkeit einer konstruktiven Enthaltung kann jedoch wegen der Allgemeinheit und Unbedingtheit des österreichischen Neutralitätsstatus auch noch in anderer Weise mit Unterlassungs- und Duldungsverpflichtungen aus dem EUV in Widerspruch geraten. Denkbar wäre etwa die Duldung von Überflügen und Durchführungen von Truppentransporten im Rahmen einer militärischen Aktion der EU in einem Kriegsfall. Hätte sich die EU zum Angriff auf Jugoslawien entschlossen, wäre eine solidarische Duldung dieser Aktion zweifellos auch mit einer noch so restriktiv interpretierten Restneutralität nicht vereinbar, von den EU-Bestimmungen in der Verfassung und anderen Gesetzen her aber möglicherweise sogar zulässig gewesen. Dies zeigt, in welchem Ausmaß die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten zumindest auf dem Papier bereits nicht mehr nur zum Geiste, sondern bereits auch zum Buchstaben des Gesetzes über die immerwährende Neutralität in Widerspruch geraten können. Ein Veto Wiens unter Hinweis auf die Neutralität gegen einen allfälligen Kampfeinsatz in Jugoslawien wäre EU-intern wohl kaum durchzuhalten gewesen; schließlich wedelt in Brüssel nicht allzu oft der Schwanz mit dem Hund.

Es wird also für Österreich die Stunde der sicherheitspolitischen Wahrheit schon recht bald schlagen, und zwar schneller, als dies so manchem derzeit wahlkämpfenden österreichischen Politiker lieb sein dürfte. Grund dafür sind die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) sowie das Verhältnis zwischen EU und NATO, das nicht zuletzt durch die Verabschiedung des neuen Strategischen Konzepts der NATO beim Washingtoner Gipfel Ende April wichtige Impulse erhalten hat. Ausgehend von der Pörtschacher Erklärung Tony Blairs, hat das Streben nach einer europäischen Verteidigungsidentität und -fähigkeit vor allem durch das französisch-britische Gipfeltreffen von St. Malo im Dezember 1998 zwischen Premierminister Blair und Staatspräsident Chirac neue Impulse erfahren. In der Gipfelerklärung bekannten sich Großbritannien und Frankreich zur Entwicklung einer eigenständigen außenpolitischen und militärischen europäischen Aktionsfähigkeit, die die EU unter Abstützung auf die NATO-Infrastruktur dort zum Handeln befähigen soll, wo die NATO selbst nicht eingreifen will.

Aufbauend auf dieser Initiative, legte die deutsche EU-Präsidentschaft beim informellen EU-Außenministertreffen bei Wiesbaden ein Diskussionspapier vor, das die EU befähigen soll, autonom militärische Einsätze zur Krisenbewältigung durchzuführen. Ohne auf die Sonderrolle der neutralen und allianzfreien EU-Staaten einzugehen, fordert das Papier als Voraussetzung für den Aufbau einer erfolgreichen europäischen Verteidigungsfähigkeit, daß alle EU-Länder sich "uneingeschränkt an europäischen Einsätzen unter Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO" beteiligen sollen. Außerdem tritt Deutschland dafür ein, das im EUV geschaffene Amt des "Mister GASP" mit dem Generalsekretär der WEU zu verschmelzen - gleichsam als Vorstufe zur Verschmelzung beider Institutionen.

Unabhängig von dem Tempo der Verschmelzung zwischen WEU und EU steht jedenfalls seit dem jüngsten NATO-Gipfel in Washington wohl endgültig fest, daß es keine europäische Verteidigungsidentität außerhalb der NATO geben wird. Ein Blick auf die Gipfeldokumente zeigt, daß alle Hoffnungen auf eine europäischen Verteidigungskapazität außerhalb der NATO (= ohne USA) zumindest mittelfristig Makulatur sind; und zwar nicht deshalb, weil die USA so gerne "Weltpolizist" und "Oberlehrer" in Europa spielen, sondern weil die Europäer - wie der Krieg gegen Jugoslawien schonungslos deutlich macht - vor der Verteidigungsidentität überhaupt erst ihre Verteidigungsfähigkeit aufbauen müssen. So befaßt sich etwa ein Drittel des neuen Strategischen Konzepts mit den künftigen Anforderungen an die Streitkräfte der NATO. Dahinter steht vor allem die Sorge der USA, daß angesichts sinkender Verteidigungsausgaben die Unterschiede zwischen den Fähigkeiten und Möglichkeiten der amerikanischen und der europäischen Streitkräfte jene Dimensionen annehmen wie sie etwa zwischen den USA und Österreich bereits bestehen.

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Österreich? Zunächst ist die mancherorts gehegte Hoffnung zu begraben, durch das Bekenntnis zu einem europäischen Sicherheitssystem um eine klare Stellungnahme zur Frage eines NATO-Beitritt herumkommen zu können. Zweitens wird die Republik angesichts der Entwicklung in der EU in nicht allzu ferner Zukunft über die Abschaffung oder die Beibehaltung der Neutralität mit all den damit verbundenen Konsequenzen auch dann entscheiden müssen, wenn ein NATO-Beitritt auch weiterhin nicht in Betracht gezogen wird.

Wie ernst es den großen europäischen Staaten ist, zeigt die Aussage des französischen Staatspräsidenten Chirac, der die europäische Verteidigungsinitiative jüngst als das wichtigste Reformvorhaben der EU nach der Einführung des Euro bezeichnet hat. Wie gering die Perspektiven für eine "aktive österreichische Neutralitätspolitik" geworden sind, zeigte nicht zuletzt auch die Tatsache, daß Altbundeskanzler Vranitzky als UNO-Balkan-Vermittler nicht zum Zuge kam. Will Österreich innerhalb der EU nicht völlig marginalisiert werden, muß es sein beim Beitritt abgegebenes Bekenntnis einlösen und "sich in vollem Umfang und aktiv an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" beteiligen. Die Neutralität formell bestehen zu lassen und parallel Gesetze zu beschließen, die das Neutralitätsgesetz ad absurdum führen, ist keine Option mehr.

Nach der Nationalratswahl im Herbst sollte daher das Neutralitätsgesetz im Parlament mit der nötigen Zwei-Drittel-Mehrheit abgeschafft, die Allianzfreiheit erklärt und gleichzeitig die Garantie gegeben werden, daß ein allfälliger NATO-Beitritt nur nach einer Volksabstimmung erfolgen wird. Damit gewänne die Republik jenen sicherheitspolitischen Handlungsspielraum, über den etwa Schweden bereits verfügt und der für die Teilnahme an einem wünschenswerten europäischen Sicherheitssystem zunächst ausreichend ist.

In einem Interview hat Außenminister Schüssel jüngst die Neutralität als nicht mehr zeitgemäß bezeichnet und ergänzt: "Offen gestanden, es ist mir kein einziger Fall in Erinnerung, wo Österreich durch seine Neutralität irgendeine zusätzliche Handlungsoption bekommen hätte. Im Gegenteil." Dem ist unter Hinweis auf Maria Theresias Bärenführerverordnung nichts mehr hinzuzufügen.

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